Juni 2005
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Sitten und Gebräuche auf der Löss-Hochebene

Von Xiao Qing

Die Huaxia, eines der Urvölker, aus denen sich das heutige chinesische Volk entwickelte, hatten ihren Ursprung in Nordshaanxi, das an die Innere Mongolei grenzt. Dieser einst fruchtbare Lebensraum wurde durch Kriegswirren und Abholzung der Wälder zerstört. Doch die Nachfahren der Huaxia haben die Strafe durch die Natur überlebt. Sie existieren mit ihren Traditionen immer noch: Wohnhöhlen, dem Yangge- und dem Yaogu-Tanz, dem Scherenschnitt usw.

 

Es sind viele Jahre her, dass ich meine Heimat Nordshaanxi verließ. Meine Kindheit, die ich dort bei den ehrlichen und arbeitsamen Bauern verbrachte, behalte ich heute immer noch in guter Erinnerung.

Nordshaanxi war die Heimat des Volkes Huaxia, das von Huangdi, dem legendären Gelben Kaiser, dem Urvater der heutigen Chinesen, regiert wurde. Die uralten Sitten und Gebräuche in dieser Region, die die Menschen dort heute noch kennen, gehen auf diese Zeit der Huaxia (ca. 2500 vor Chr.) zurück.

Der Nordteil der Provinz Shaanxi befindet sich auf der größten Löss-Hochebene der Welt, die 800–1200 m über dem Meeresspiegel liegt. Vom Berg aus betrachtet sieht die Landschaft so eben wie ein ruhiges Meer aus, obwohl viele Spalten in der Erde durch die Bodenerosion entstanden sind. Früher gab es hier häufig Bergstürze, die die Straße unpassierbar machten. Dies hatte zur Folge, dass man nicht rechtzeitig erfuhr, was in den anderen Landesteilen geschah. Zum Beispiel erreichte die Nachricht vom Tod des Ming-Kaisers Chongzhen Nordshaaxi erst ein Jahr später.

Nordshaanxi verfügte früher nur über humusarmes Ackerland und wurde obendrein fast jährlich von Dürreperioden oder Überschwemmungen heimgesucht. Entweder zerstörten Bergstürze zahlreiche Dörfer, rissen Hab und Gut mit sich und forderten Menschenleben, oder die Trockenheit verwüstete die Felder. Stand eine gute Ernte ins Haus, wurde sie durch plötzlichen Hagel vernichtet. Die Hoffnungen der Bauern wurden dadurch zunichte gemacht. Sie litten unter Hunger und Kälte, obwohl sie sich bemühten, durch Fleiß ein besseres Dasein zu erreichen.

Als ich 1963 nach Nordshaanxi zurückkehrte, sah ich, dass die Bauern dort nach wie vor arm waren. Zum Besitz der einzelnen Familien gehörten neben einer Wohnhöhle nur ein Ofenbett, einige zerfetzte Steppdecken und primitive Ackergeräte. Wenn die Mutter zur Feldarbeit ging, musste sie ihr Baby mitnehmen. Sie band es mit einem Seil am nächsten Baumstamm fest, so dass das Baby nur in einem Kreis um den Baum herum spielen konnte. Essen, schlafen und Notdurft verrichten, das alles geschah innerhalb dieses Kreises, wo das Kind von Fliegen umschwirrt war.

Die Menschen in Nordshaanxi bemühten sich seit jeher, trotz dieser schlechten Bedingungen weiter existieren zu können. Daraus ergaben sich ihre besonderen Sitten und Gebräuche. Im Laufe der Zeit sind diese zum Teil verschwunden, während die erhaltenen sich weiter entwickeln.

Wohnhöhlen

Wer Nordshaanxi besucht, erhält vor allem einen tiefen Eindruck von den dortigen Wohnhöhlen. Sie sind die traditionelle Hausform auf der Löss-Hochebene, die auf die Urzeit zurückgeht. Damals wählte man nach der Geomantie an der Sonnenseite des Berges einen glückverheißenden Platz aus und grub eine ovale Wohnhöhle. In den letzten Jahren entstanden jedoch viele moderne Häuser. Trotzdem wohnt der große Teil der Bevölkerung noch in ihren Wohnhöhlen. Diese sind im Winter warm und im Sommer kühl. Während die Temperatur draußen bis auf 39° C steigt, ist es in der Höhle sehr kühl. Wird im Winter das Ofenbett geheizt, ist die ganze Höhle mollig warm. Das Ofenbett, das am Fenster steht, kann zu verschiedenen Zwecken benutzt werden.

Auf dem Ofenbett steht ein kleiner Tisch, an dem die Mahlzeit eingenommen wird. Die Hausfrauen sitzen gern um den kleinen Tisch und nähen oder unterhalten sich. Am Abend stellt man den Tisch beiseite und breitet zum Schlafen die Steppdecken aus.

Seit der wirtschaftlichen Reform auf dem Lande dürfen die Bauern den großen Teil ihrer landwirtschaftlichen Erzeugnisse behalten und auf dem Markt verkaufen. Dadurch wird natürlich ihre Initiative angeregt. Heute sind viele von ihnen in der Lage, sich bessere Lebensqualität zu verschaffen. In Nordshaanxi wurden viele Wohnhöhlen umgebaut und ausgeschmückt. Die Wände bestehen aus Ziegeln oder Steinen. Die Fensterrahmen und Türen sind schön dekoriert. Die Fensterscheiben (früher wurden die Fenster mit Papier beklebt) sind mit Tier- und Blumenmustern verziert. Die Fenster- und Türvorhänge bestehen aus Baumwollstoff mit Blumenornamenten auf blauem Grund. An der Front der Höhle hängen geschnürte rote Paprikaschoten und goldgelbe Maiskolben. (Rot symbolisiert das Glück und Goldgelb eine gute Ernte.)

Heute sind viele junge Leute in Nordshaanxi von dem modernen Zeitgeist beeinflusst. Sie wollen sich nicht nur schön kleiden, sondern auch bequem wohnen. Sie statten ihre Wohnungen mit modernen Möbeln aus, mit schönen Sesseln, Sofas, Kleiderschränken usw. Das Ofenbett bedecken sie mit einer dicken Matratze.

Aber die älteren Leute wollen ihre alten Gewohnheiten nicht aufgeben. Sie sitzen gern auf dem Ofenbett und schauen durch das Fenster in die Ferne, wo die Terrassenfelder an den Löss-Hügeln sich übereinander reihen oder Schafe weiden. Auf dem Hof vor der Höhle spielen ihre Enkelkinder, denen sie gerne zuschauen.

Farbscherenschnitte

In Nordshaanxi sind die Fenster jeder Wohnhöhle mit Farbscherenschnitten verziert, welche die Hausfrau selbst fertigte. Dargestellt werden vor allem Tiere (Vögel, Haus- und Raubtiere), Blumen und Menschenfiguren. Dabei benutzen die Laienkünstlerinnen keine Vorlagen, sondern lassen ihre Phantasie zu Wort kommen. In ihren meisterhaften Werken kommt ihr Wunsch nach einer besseren Zukunft zum Ausdruck. Ein Scherenschnitt zum Beispiel zeigt einen Knaben mit zwei Vögeln über dem Kopf. Nach archäologischen Forschungen soll diese Darstellung das Totem der Vorfahren der Bevölkerung im heutigen Nordshaanxi sein. Ein anderes Motiv stammt aus dem Märchen „Die Maus verheiratet ihre Tochter“. Manche Frauen können auf einmal aus einem Papierbogen fünf Eulen mit einem geöffneten und einem geschlossenen Auge schneiden.

Es finden oft Wettbewerbe in der Scherenschnitt-Kunst statt. Eine ältere und erfahrene Frau wird gebeten, die Werke der Laienkünstlerinnen zu beurteilen. Als höchste Auszeichnug werden die besten Scherenschnitte im ganzen Dorf ausgestellt. Vor kurzem wurden einige Laienkünstlerinnen nach Beijing (Peking) eingeladen, ihre Künste im Fernsehen zu zeigen.

Volkstänze und -lieder

Im ersten Monat nach dem Mondkalender der Chinesen werden im ganzen Land zwei traditionelle Feste gefeiert: das Frühlingsfest und das Laternenfest. Gerade zu dieser Zeit haben die Bauern fast keine Feldarbeit. Begeistert singen und tanzen sie dabei. Besonders viel getanzt werden die folgenden Volkstänze:

Der Yangge. Eigentlich ein kultischer Tanz während der Frühlings- und Herbstperiode vor 2700 Jahren! Er wurde getanzt, um die Götter zu verehren und die Dämonen zu vertreiben. Später stand der Yangge auf dem Programm der Feierlichkeiten.

Dieser Tanz ist einfach und für Männer und Frauen, alte und junge Leute geeignet. Man tanzt unter Trommelbegleitung mit einer roten seidenen Schärpe, wobei man die beiden Enden der Schärpe, die man sich um die Hüften gebungen hat, in den Händen hält und die Arme heftig schwingen lässt. Der Rhythmus ist so schnell wie die moderne Popmusik. Wenn die Feier ihren Höhepunkt erreicht, sind alle am Tanz Teilnehmenden begeistert bei der Sache.

Der Yaogu. Das ist ein besonderer Trommeltanz in Nordshaanxi. Je nach dem Ort ist er verschieden. Man tanzt, indem man selbst die Trommel, die an der linken Hüfte festgebunden ist, schlägt und so den Takt angibt. Die Tanzbewegungen sind sehr ausgeprägt. Der Yaogu aus Ansai zum Beispiel ist sehr populär. Sogar fünf bis sechs Jahre alte Kinder können ihn tanzen. In der Schule wird den Kindern Unterricht in Yaogu erteilt. Man kann frei tanzen und selbst Tanzbewegungen improvisieren. Der Yaogu aus Luochuan geht auf einen Kämpfertanz in uralter Zeit zurück. Die Trommel, die man in dieser Region benutzt, ist größer und auch die beiden Schläger sind länger als die in Ansai. Die Tänzer tanzen in zwei Reihen, von Angesicht zu Angesicht und wechseln gegenseitig ihren Platz, was den Kampf zweier Truppen symbolisiert.

„Xintianyou“ ist ein in Nordshaanxi sehr verbreitetes Liebeslied. Die Texte werden von den Frauen selbst erfunden. Die Melodie ist hell und wohlklingend.

Obwohl das Fernsehen, der Film und die moderne Bühnenkunst sich immer mehr verbreiten, sind die Volkstänze und -lieder in Nordshaanxi sehr beliebt.

Gibt es heute noch rituelle Handlungen?

Früher veranstaltete man in Nordshaanxi rituelle Zeremonien, um den Gott zu bitten, Katastrophen zu verhüten. Zum Beispiel versammelten sich die Bauern mit einem Ring aus Trauerweidenzweigen auf dem Kopf bei sengender Hitze im Freien. Sie knieten und machten Kotau, um den Wasserdrachenkönig um Regen zu bitten. Sie beteten laut, wobei ihre Stimme einen flehenden Ton annahm. Heute sind nur selten Rituale zu sehen, vor allem bei älteren Leuten. Sie bringen dem Gott Weihrauch und Kerzen dar, um Dämonen zu vertreiben oder Krankheiten zu heilen.

Die Vergangenheit und Gegenwart der Frauen

Früher wurden den Frauen von Kindheit an die Füße festgebunden, damit sie nicht weiter wachsen konnten. Man meinte damals, die kleinen Füße der Frauen wären schön. Mit den kleinen und mißgebildeten Füßen konnten die Frauen die Feldarbeit nicht verrichten. Doch mussten sie alle Hausarbeiten erledigen wie kochen, waschen und nähen, Hühner füttern, Schweine mästen, für den Gemüsegarten sorgen – all das gehörte zu ihren Obligenheiten. In Nordshaanxi kam damals sehr selten Weizen und Reis vor. Deswegen mussten die Frauen aus weniger schmackhaften Getreidearten verschiedene wohlschmeckende Speisen zubereiten. Natürlich mussten sie auch sticken und Scherenschnitte anfertigen. Dies war die Voraussetzung, einen tüchtigen Mann zu bekommen. Wie in den anderen Landesteilen waren die Frauen in Nordshaanxi nicht gleichgestellt. Sie durften sogar nicht an Gesprächen zwischen den Männern teilnehmen oder ihre Meinung äußern.

Heute haben die Frauen mehr Freiheit. Die jungen Frauen in Nordshaanxi, die eine Schulbildung besitzen, wollen ein neues Leben führen. Beispielsweise sagte ein Mädchen zu seiner Mutter, die ihm das Kochen beibringen wollte: „Es lohnt sich nicht, viel Zeit zum Kochen zu verschwenden.“

Das Anliegen der jungen Leute

Die Wellen der Modernisierung ergreifen auch die Löss-Hochebene. Durch die Einfuhr von modernen Nachrichten- und Verkehrsanlagen sind die Verbindungen zwischen Nordshaanxi und den anderen Gebieten des Landes besser geworden. Mehrere Fluglinien verbinden Yan’an, die größte Stadt Nordshaanxis, und die wichtigen Flughäfen Xi’an, Taiyuan und Beijing miteinander. Das Nachrichtenwesen entwickelt sich sehr schnell. In der Praxis haben die Einwohner, besonders die jungen Menschen mit Schulbildung, eingesehen, dass die geplante freie Marktwirtschaft zur Steigerung der Produktion und zur Verbesserung des Lebens beiträgt. Ihre Väter und Großväter interessierte nur das, was sich auf eine gute oder schlechte Ernte bezog. Die jungen Leute heute wollen in ihrer Heimat die Industrie und den Handel entwickeln, um die wirtschaftliche Lage zu verbessern.

Aus China im Aufbau, Nr. 4, 1986

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