Tiefe
Freundschaft zwischen Chinesen und Juden
Von Yang Yiren
In der letzten Zeit habe ich einen Artikel aus dem Buch Die
kulturellen Eliten der Juden in Shanghai* gelesen. Es handelt
sich um einen jüdischen Musikanten namens Alfred Wittenberg,
der von 1939 bis 1952 in Shanghai lebte. Seine Erlebnisse, sein
Arbeitsstil, sein Temperament und musikalische Begabung machen
auf mich einen tiefen Eindruck. Dabei fühle ich eine tiefe
Freundschaft zwischen Chinesen und Juden, die mich bewegt. Ich
möchte diese unbekannte Geschichte mehr Menschen erzählen.
Alfred Wittenberg war einer von 18 000 Juden, die während
des 2. Weltkrieges wegen der faschistischen Verfolgung nach Shanghai
ausgewandert waren. Dann ließ er sich nieder und lebte dort
bis zu seinem Tod.
Vor dem Jahr 1939, in dem er in Shanghai ankam, war Alfred Wittenberg
schon ein bekannter Violinist und Pianist in Berlin und in Europa
gewesen. Im Alter von 10 Jahren (1890) spielte er bei einem Musikabend
sowohl Mendelssohns Violinkonzert, als auch Chopins Klavierkonzert.
Seine musikalische Begabung verzückte die anwesenden Zuhörer.
Im Jahr 1889 gewann er bei einem Wettbewerb für Mendelssohns
Violinwerke den ersten Platz. Anschließend wurde er von
Joseph Joachim (18311907) einem weltbekannten Violinisten
aus Ungarn im 19. Jahrhundert ausgebildet. Dann arbeitete
er als der erste Violinist im Berliner Kaiseropertheater und beim
Klaviertrio, das der bekannte Pianist Franz Schnabel leitete.
Dieses Klaviertrio hielt jahrelang Aufführungen in Berlin
ab. Das war die ruhmvolle Zeit seines Lebens. Wegen der immer
grausameren Verfolgung durch den Hitlerfaschismus musste er Deutschland
schließlich verlassen. Sein bisheriger Erfolg war auf einmal
vorbei.
Als er mit seiner Frau und Schwiegermutter in Shanghai lebte,
führte er wie andere ausgewanderte Juden zunächst ein
sehr karges Leben. Zum Glück bekam er bald eine Chance, zusammen
mit zwei jüdischen Musikern einen Musikabend zu veranstalten.
Dabei hörten ausländische Mitglieder des Shanghaier
Stadtverwaltungsorchesters - Vorläufer des heutigen Shanghaier
Sinfonie-Orchesters zu, bei denen Wittenberg Anklang fand.
Durch diese Leute bekam er mehrere Schüler vermittelt. Nach
einer gewissen Zeit war er durch seine hohe Kunstfertigkeit immer
bekannter geworden, nicht nur bei Ausländern, sondern auch
bei chinesischen Musikern. Immer mehr chinesische Violinisten
und Pianisten kamen zu ihm zur Ausbildung. So wurde er Professor
der Professoren genannt. Trotz seiner hohen Violin- und
Klaviervirtuosität war er gar nicht überheblich, sondern
sehr zugänglich. Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten,
lehrte er nicht nur Musiker, sondern auch Anfänger, nicht
nur Erwachsene, sondern auch Kinder. Um Unterricht zu geben, hat
er sich mit der Rikscha von einem Haus zum anderen fahren lassen,
was für ihn sehr anstrengend wurde.
Alfred Wittenberg gab einen so guten Unterricht, dass es keinen
anderen in Shanghai gab, der es ihm gleichmachen konnte. Er erklärte
seinen Schülern nicht nur die Spieltechnik, sondern vermittelte
auch theoretisches Wissen. Sogar zeigte er den Schülern,
wie die berühmten Musikwerke von jeweils bekannten Musikmeistern
gespielt wurden, wodurch die Schüler die Spiele verglichen
und reiche kulturelle Kenntnisse von den Musikwerken bekamen.
Das war für seine chinesischen Schüler sehr aufschlussreich,
da die klassische Musik aus Europa in Shanghai anfangs verbreitet
war, zudem es nur sehr wenige Schallplatten gab. Er besaß
ein vortreffliches Gedächtnis. Beim Unterrichten verwendete
er keinen Notentext. Als ein berühmter musikalischer Meister
war er freundlich und geduldig gegenüber seinen kleinen Schülern.
Er beruhigte die Kinder: Das ist ein bisschen schwer. Aber das
macht nichts. Wir spielen Schritt für Schritt, langsam. Wenn
ein Kind Gelerntes schnell begriff, sagte er mit überraschter
Miene: Ah ja! Das ist also nicht schwer für dich. Du bist
klug! Er hatte noch einen einzigen jüdischen Schüler
aus Österreich Heinz Grünberg. Im Jahr 1933 wurde
Heinz Grünberg geboren und litt unter einer spinalen Kinderlähmung.
1938 kam er mit seinen Eltern nach Shanghai. Sein Vater wurde
Kuli bei einem Händler. Später hatte er eine Schneiderei,
in der er mit seiner Frau und Heinz wohnte. Diese Schneiderei
lag nicht weit von Wittenbergs Wohnsitz entfernt. Heinz, ein behindertes
Kind, kam bis zum Jahr 1949 zu Wittenberg, der ihm Violine spielen
lehrte. Als Heinz Grünberg nach Wien zurückfuhr, schrieb
sein Lehrer Wittenberg einen Brief, in dem er die Ausbildung bestätigte.
Dieser Brief spielte für seine musikalische Karriere eine
wichtige Rolle. 1998 war Heinz der zweite Violinspieler vom Wiener
Sinfonieorchester in Shanghai, der zusammen mit zehn Juden an
den Dreharbeiten zum Film Flucht nach Shanghai teilnahm.
Er erfuhr erst jetzt, dass sein Lehrer ein berühmter Musikant
war. Er traf noch einen chinesischen Schüler von Wittenberg,
der 1907 geboren wurde. Ohne den Altersabstand zu berücksichtigen
erinnerten sich die beiden an ihren Lehrer zurück und fühlten
sich sehr verbunden.
Alfred Wittenberg wurde nicht nur von Kindern geliebt, er fand
auch bei erwachsenden Schülern hohe Anerkennung. Seine Virtuosität
und Gewissenhaftigkeit, Zugänglichkeit sowie sein Einsatz
bewegten seine Schüler. Um ihm die Mühen der vielen
Fahrten zu ersparen, stellten seine Schüler ihm ein geräumiges
Haus für den Unterricht zur Verfügung. Nun konnte Wittenberg
einen Schüler nach dem anderen an einem Ort unterrichten.
Er wurde außerdem zu Mittagessen oder Abendessen eingeladen.
Er kam mit seinen Schülern so gut aus wie sonst nur Familienangehörige
untereinander. In Shanghai führte er ein mühsames, aber
friedliches Leben. Er war mit vielen Chinesen sehr vertraut.
Im Jahr 1941, vor dem Ausbruch des Pazifischen Krieges, wollte
einer von seinen Schülern Wittenberg in die USA holen. Der
Schüler bot ihm an, ihm ein Haus und ein Auto zur Verfügung
zu stellen und auch gute Arbeitschancen waren damit verbunden.
Aber er hat das alles abgelehnt, denn er wollte Shanghai nicht
verlassen, obwohl er dort noch ein karges und trauriges Leben
führen sollte, weil die japanischen Aggressoren in Shanghai
die Verfolgung der Juden verstärkten. Seine Familie musste
in die von den Japanern festgelegte sogenannte Isolationszone
für Juden umziehen. Der Wohnsitz war sehr klein und die Wohnbedingungen
waren auch sehr dürftig. Er wurde nicht nur in seiner Freiheit
eingeschränkt, sondern auch von einem japanischen Beamten
der Zonenverwaltung verfolgt. Der Mann konnte ein bisschen Violine
spielen und Wittenberg sollte ihn am Klavier begleiten. Er tat,
was ihm gesagt wurde, auch wenn der japanische Beamte falsch spielte.
Er vermisste seine chinesischen Schüler in dieser Zeit sehr.
An einem heißen Sommertag ging er auf einer Asphaltstraße
zum Unterricht. Er war so schwach, dass er nicht genug Kraft hatte,
um seinen Fuß vom Boden zu heben, der ein wenig angeschmolzen
war. Er fiel hin und brach sich ein Bein. Seine chinesischen Schüler,
die davon erfahren hatten, eilten herbei, brachten ihn ins Krankenhaus,
und kümmerten sich um alles. Auch durch dieses Ereignis verbanden
Wittenberg und seine Schüler liebevolle Gefühle. Nach
dem Krieg wollte er unbedingt in Shanghai bleiben und arbeitete
an der Musikhochschule in Shanghai. Ab und zu begleitete er seine
Schüler am Klavier, obwohl er zu dieser Zeit schon 70 Jahre
alt war. Nachdem seine Schwiegermutter und seine Frau verschieden
waren, führte er ein einsames Leben. Er widmete sich vollkommen
der Arbeit, ohne materielle Wünsche damit zu verbinden. Und
er spielte im täglichen Wechsel eine von sechs Sonaten Bachs.
Dabei erinnerte er sich an seinen Lehrer Joseph Joachim und daran,
wie sein Lehrer mit hoher Kunstfertigkeit den musikalischen Inhalt
getreu wiedergab. Am 16. Juli 1952 kippte er um, während
er die Violine spielte. Zwei Tage später erlag er im Krankenhaus
einem Herzinfakt. Diese traurige Nachricht teilte sein Rikschakuli,
den ebenfalls eine tiefe Freundschaft mit Wittenberg verband,
seinen Schülern mit.
Andreas Moser hat ein Buch in deutscher Sprache verfasst, welches
den Titel Geschichte des Violinspiels trägt.
In diesem Buch listet er Joseph Joachims Schüler auf, unter
denen der Name Alfred Wittenberg als letzter auftaucht. Im März
2005, als die Mitarbeiter des Filmteams von Juden in Shanghai
den Ort aufsuchten, an dem Wittenberg wohnte, trafen sie eine
90-jährige Frau und ihre 60-jährige Tochter, die seit
dem Jahr 1947 Nachbarn von Wittenberg waren. An Wittenbergs Familie
und damalige Ereignisse erinnerten sich die beiden noch sehr deutlich.
Viele der Schüler Wittenbergs leben noch und sind zum Teil
erfolgreiche Musikanten geworden, obschon sie mitlerweile in Pension
gegangen sind. Die Geschichte über Alfred Wittenbergs Leben
wird auch durch sie weiter verbreitet werden. Alles, was er für
die Entwicklung der europäischen Musik in China geleistet
hat, werden wir Chinesen nie vergessen.
*Xu Buceng, Professor beim Informationsinstitut der Akademie
der Sozialwissenschaften in Shanghai ist der Autor vom Buch Die
kulturellen Eliten der Juden in Shanghai. Das Buch besteht
aus 17 Artikeln, die sich um Leben, Arbeit und Leistungen von
17 Juden aus Deutschland, Österreich, Italien, Rumänien
und anderen Ländern handelt, die während des 2. Weltkrieges
in Shanghai waren.
|