Feste und Bräuche (1)
Die traditionellen Feste der tibetischen Nationalität haben
unter dem Einfluss des tibetischen Buddhismus eine stark religiöse
Färbung angenommen. Etliche sind nach und nach zu rein religiösen
Festen geworden. Die Tibeter des schneebedeckten Hochplateaus,
die unter harten Naturbedingungen leben müssen, haben sich
immer danach gesehnt, den Schutz der Götter zu genießen.
Während ihrer verschiedenen Feste verehren sie die Götter
wie die Natur. Zugleich verbringen sie eine wunderbare Zeit beim
Feiern.
Die Tibeter feiern in jedem Monat nach dem traditionellen tibetischen
Kalender Feste. Auf den 8., den 15. und den 30. jeden Monats fallen
das Bhaisajya-Guru-, das Dakini-, das Shakyamuni- bzw. das Amitabha-Fest.
Das heißt, dass man eine betrachtliche Anzahl religiöse
Festtage im Jahr begeht. Ferner werden als Feste gefeiert: Der
Neujahrstag nach dem traditionellen tibetischen Kalender, die
Große Gebetszeremonie und das Butterlampen-Fest im ersten
Monat; das Fest zum Vertreiben böser Geister, das Fest zur
Ausstellung von Schätzen und das Chotrul-Fest im zweiten
Monat; das Zeitrad-Vajra-Fest im dritten Monat; das
Sagyia Dawa-Fest und das Nganjo-Fest im vierten Monat; das Quton-Fest,
das Linka-Fest, das Fest zur Ausstellung des Buddhabildes im Tashilhunpo-Kloster
im fünften Monat; das Choekhor Duechcen-Fest (Fest zur Verehrung
des Heiligen Berges), das Drukpa Tsezhi-Fest und das Yangle-Fest
im sechsten Monat; Das Shoton-Fest, das Vajra-Fest, das Ongkor-Fest
(Erntenfest), das Badefest, Pabang Tangkor-Fest im Razheng-Kloster,
das Fest des Zehnten im Yeba-Kloster, das Qoincho-Fest im Zhaibung-Kloster
und das göttliche Tanz-Fest in Xigaze im siebten Monat; das
Fest zur Feier des Heruntersteigens von Göttern auf die Erde
im neunten Monat; das Balha-Xizhuk-Fest und das Tsongkapa-Butterlampenfest
im zehnten Monat; das Niebaguzang-Fest und die Große Winter-Gebetszeremonie
im elften Monat; das Punje-Fest, das Fest zum Vertreiben böser
Geister, das Fest zur Beköstigung des Gottes und das Fest
des Göttertanzes im Potala-Palast im zwölften Monat.
Das ganze Jahr hindurch werden etwa hundert kleine und große
Feste in Tibet gefeiert. Wenn Sie sich zehn bis 15 Tage in Tibet
aufhalten, können Sie jedenfalls ein Fest mitfeiern und die
fröhliche Stimmung selbst erleben.
Mit den erwähnten mehr als 100 Festen ist die Gesamtzahl
der Feste in den verschiedenen Regionen Tibets gemeint. In manchen
Orten feiert man alles in allem mehrere Dutzend Feste. In anderen
Orten feiert man ganz andere Feste. Rechnet man alle zusammen,
ergibt es doch eine beträchtliche Zahl. Aber die Tibeter
in den verschiedenen Regionen haben auch ihre gemeinsamen Feste,
selbst wenn ihre Formen sich je nach Region unterscheiden. Diese
Feste sind sogar häufiger als jene, die nur regionale Bedeutung
haben.
Neujahrstag
Verschiedene große Feste fallen auf den ersten Monat nach
dem traditionellen tibetischen Kalender. Fast an jedem Tag dieses
Monats wird ein Fest gefeiert. Das Neujahrsfest ist das wichtigste
Fest des ganzen Jahres. Im Lhasa-Gebiet bereitet man sich bereits
im zwölften Monat nach dem traditionellen tibetischen Kalender
darauf vor. In der mittleren Dekade dieses Monats bereitet man
Karsai zu, ein Ölgebäck in verschiedenen
Formen aus Butter und Weizenmehl. Außerdem macht man Qema.
Es sind bunt bemalte Holzbehälter mit zermahlenem und geröstetem
Qingke-Gerstenmehl Zanba und mit Weizenkörnern,
Puffbohnen und anderen Feldfrüchten. Auf die Behälter
steckt man Qingke-Gerstenähren, Hahnenkämme und eine
Tafel mit Sonnen- und Mondbildern. Sie werden auch noch mit Butterwürfeln
verziert und dann als Opfergaben auf den Hausaltar gestellt. Am
28. und 29. Tag des letzten Monats macht jede Familie die Altarnische
und die Möbel sauber. Manche Familien tünchen auch ihre
Wohnhäuser. An die Stirnwand der gereinigten Küche und
auf die Küchentür malt man mit Zanba-Mehl glückverheißende
Muster. Am Abend des 29. dieses Monats ist die ganze Familie zum
Festessen Gortu vereinigt. Gortu sind
Teigtäschchen, die mit Steinen, Schafwolle, Holzkohle, Paprika
oder anderen Dingen von symbolischer Bedeutung gefüllt werden.
Beim Verzehr der Teigtäschchen geht es dann immer sehr lustig
zu. Nach dem Essen gehen die Familienangehörigen vor das
Haus, um in einer Zeremonie böse Geister zu vertreiben. Dann
spielen sich in Lhasa merkwürdige Szenen ab: Böse Geister
fliehen mit einer Schüssel in der Hand. Die Verfolger laufen
hinterher, bis die bösen Geister die Schüssel in ein
Feuer aus Qingke-Gerstenstroh werfen. Am nächsten Tag, dem
Neujahrstag, geht die Hausfrau zum Fluss, um vor Tagesanbruch
glückverheißendes Wasser zu holen. Alle
Familienangehörigen essen dann den Brei, der mit dem glückverheißenden
Wasser gekocht wurde, und andere längst vorbereitete
Speisen. Nach dem Essen zieht man sich neue Kleider an, um den
ersten Morgen des Jahres zu begrüßen. Als erstes betet
man zu der Gottheit, dann gratuliert man mit Qema und Qingke-Gerste
in den Händen einander zum neuen Jahr. Nach dem wechselseitigen
Beglückwünschen trinkt man warmen Qingke-Gerstenwein
und toastet einander zu. Am zweiten Tag besuchen Verwandte und
Freunde einander. Am dritten Tag pilgert man zum Bumpari-Berg
im östlichen Vorort der Stadt Lhasa und zum Chakpori-Berg
im westlichen Vorort. Hier wird Weihrauch verbrannt, man pflanzt
Gebetsfahnen auf und hängt bunte Flaggen an Bäume und
Sträucher, um den Berg- und den Wassergott um Glück
und Frieden zu bitten. Während des Neujahrsfestes wird überall
in Lhasa getanzt und gesungen. Um die feierliche Stimmung zu steigern,
werden viele Feuerwerkskörper gezündet.
Auch in anderen von Tibetern bewohnten Orten wird das Neujahrsfest
lebhaft gefeiert, doch gibt es Unterschiede bei einigen Bräuchen.
In Xigaze, im Zentrum Mitteltibets, opfert man am zweiten Tag
des neuen Jahres dem Erdgott und dem Dharmaschutzgott. Am dritten
Tag lässt man Rauch vom Dach des eigenen Hauses steigen und
pflanzt dort die glückverheißenden Gebetsbanner auf,
mit denen man die Götter ehrt. Im Kreis Amdo ist es Sitte,
frühmorgens einen Berg zu besteigen, um Weihrauchstäbchen
als Opfer für die Götter zu verbrennen. Die Familienangehörigen
gratulieren einander und besuchen die Senioren des Dorfes, um
ihnen ihre guten Wünsche auszusprechen.
Im Gongbo-Gebiet feiert man das Neujahrsfest erst am 1. Tag des
zehnten Monats nach dem traditionellen tibetischen Kalender. Bevor
sich die Familienangehörigen am Abernd des 30. des neunten
Monats zum Neujahrsfestessen treffen, füttern sie ihre Hunde
und beobachten genau, was die Hunde fressen. Denn dies deutet
auf Glück oder Missgeschick der ganzen Familie im kommenden
Jahr hin. Wenn diese Hunde Butter und Käse zuerst fressen,
verspricht das Erfolg in der Viehzucht. Wählen sie zuerst
Zanba-Mehl oder Fladen, wird es eine gute Ernte geben. Doch wenn
sie Fleisch fressen, bedeutet es Unglück. Vielleicht wird
eine Epidemie ausbrechen und man hofft, in der eigenen Familie
keine Todesfälle beklagen zu müssen. Während des
Neujahrsfestes muss man sich unbedingt satt essen, weil man sonst
von den Teufeln weggeschleppt werden kann. Am Neujahrsmorgen isst
man zum Frühstück Haferbrei. Nach einer Überlieferung
soll der König des Gongbo-Reichs beschlossen haben, die Neujahrsfeier
auf den 1. Tag des zehnten Monats vorzuverlegen, damit seine Krieger,
denen Kämpfe mit Eindringlingen bevorstanden, noch einmal
mit ihren Familien feiern konnten. Danach zogen sie in die Schlacht,
kämpften heldenhaft und siegten. Seither feiert man in Gongbo
eben am 1. Tag des zehnten Monats das Neujahrsfest. Auch in anderen
überwiegend von Tibetern bewohnten Regionen wird das Neujahrsfest
nicht am gleichen Tag begangen. In Jiarong fällt das tibetische
Zanba-Neujahrsfest auf den 13. Tag des zehnten oder elften Monats.
Die Einwohner in Baima begehen am 15. des ersten Monats das Fackelfest.
Im Mianning-Gebiet in Südostsichuan wird das tibetische Fackelfest
in der zweiten Dekade des sechsten Monats gefeiert, und an diesem
Tag beginnt dann dort das neue Jahr.
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