Mit „Schweren Flügeln“ – die Autorin Zhang Jie

Von Lars Mörking

Die Schriftstellerin Zhang Jie gehört zu den großen Namen der modernen chinesischen Literatur. Sie ist vielleicht die in Deutschland bekannteste chinesische Schriftstellerin der Gegenwart. Ob nun aufgrund ihrer Schreibweise, bei der Probleme offen dargelegt werden, oder weil sie historisch bedeutsame Themen aufgreift – die Werke Zhang Jies wurden in China immer kontrovers diskutiert und anschließend oftmals prämiert.

Auch der Roman „Schwere Flügel“, eines der ersten bedeutenden Werke von Zhang Jie, löste heftige Debatten aus, als er 1981 erschien. Der Mao-Dun-Preis, der höchste chinesische Literaturpreis, war das Ergebnis der Kontroverse. 2005 erhielt sie als einzige chinesische Autorin ein zweites Mal den Mao-Dun-Preis, und zwar für Ihre umfangreiche Roman-Trilogie „Wuzi“ („Ohne Worte“), die am Beispiel der Geschichte dreier Frauen aus drei Generationen chinesische Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählt. Sie hat im Laufe ihres Schaffens alle staatlichen Preise in den Genres Roman, Novelle und Erzählung erhalten, was bis dato einzigartig in der chinesischen Literaturgeschichte ist. Bisher sind die Werke Zhang Jies in mehrere Sprachen übersetzt worden, darunter Englisch, Französisch, Deutsch, Russisch, Dänisch, Norwegisch, Schwedisch, Finnisch, Holländisch und Italienisch.

Zhang Jie ist 1937 geboren, sie wuchs als Tochter einer Volksschullehrerin auf und bekam, entgegen ihrer Hoffnung auf ein Studium der Literatur, die Möglichkeit, Planungswissenschaften an der Renmin-Universität in Beijing zu studieren. Nach dem Studienabschluss im Jahr 1960 arbeitete sie fast zwanzig Jahre im Industrieministerium. Als Tochter eines „Rechten“ musste sie von 1969 bis 1972 an einer Kaderschule an Umerziehungsmaßnahmen teilnehmen. In diesen Zeitraum fällt auch der Beginn ihrer schriftstellerischen Tätigkeit, jedoch gab es erst im Jahr 1978 erste Veröffentlichungen ihrer literarischen Arbeiten. Eine ihrer ersten Erzählungen „Das Kind, das aus den Wäldern kam“ (1978) wird der „Narbenliteratur“ zugerechnet, welche sich mit der Kulturrevolution auseinandersetzt. „Die Liebe darf nicht vergessen werden“ (1979) legt den Grundstein für aus der Perspektive von Frauen geschriebener Literatur in der VR China.

Zhang Jie ist trotz – oder wegen – ihres kritischen Umgangs mit der chinesischen Geschichte offiziell anerkannt. Sie selbst wiederum trat 1979 in den chinesischen Schriftstellerverband und 1980 in die Kommunistische Partei ein. In ihren Geschichten reflektiert die Autorin die Umwälzungen der Modernisierung und besonders die veränderte Lebenssituation der Frauen in ihrem Land. Kennzeichnend für ihre literarische Entwicklung ist der Wechsel von einer sanften lyrischen Stimmung der ersten Erzählungen hin zu einer deutlicheren Sprache, die das Phänomen der Macht in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen – durchaus auch mit satirischen Untertönen – zum Gegensatnd macht.

Der Roman „Schwere Flügel“

„Schwere Flügel“ ist Gegenwartsliteratur, die sich mit der Phase kurz vor Beginn bzw. zu Beginn der Reform- und Öffnungspolitik befasst. Heute, wo sich viele in den entwickelten Ländern die Frage stellen, wie es zur politischen Umorientierung nach der Mao-Ära und zur schnellen Entwicklung der Produktivkräfte kommen konnte, gibt dieser Roman wichtigen Aufschluss in Bezug auf politische Prozesse. Ihre Protagonisten gehören allen Gesellschaftsschichten an, vom angesehenen Vize-Minister bis hin zu einfachen Verwaltungsangestellten und Arbeitern. Jede Person verkörpert zu behandelnde objektive Widersprüche; am Beispiel der Geschichte Mo Zhengs, einem Sohn von „Intellektuellen“, die während „der ›Großen Kulturrevolution‹ ums Leben gekommen waren“ (S. 6), zeigt sie auf, wie tief die verursachten Wunden dieser Zeit sein können.

Zhang Jie beschreibt in „Schwere Flügel“ vor allem Situationen, die ihr selbst – beispielsweise aus ihrer langjährigen Berufspraxis – vertraut sind. Sie will begreifen und erklären, dabei wirft ihr Buch – dem beschriebenen Zeitabschnitt entsprechend – viele Fragen auf und zeigt mögliche Entwicklungen an, die es ihrer Auffassung nach zukünftig umzusetzen gilt. So lässt sie He Jiabin, einen ihrer Verfechter materialistisch geprägter Vernunft, sagen: „Ich habe keinen Standpunkt, ich kenne nur die Schwester eines Freundes, die in einem Frauenbohrteam auf dem Ölfeld arbeitet. [...] Wollen die vielleicht nicht weiterlernen, sich kulturell und technisch fortbilden? [...] Keineswegs. Sie haben nur krumme Buckel von der Schufterei und keine Energien mehr für irgend etwas anderes. [...] Und dann heißt es, sie sollen die Amerikaner und die Revisionisten überholen. Bei denen ist doch die Arbeitsbelastung auf den Ölfeldern viel geringer als in diesem Frauenbohrteam. Wie sollen sie das denn schaffen? Mit ihrer Körperkraft? Natürlich nicht, das geht nur über Mechanisierung und Modernisierung.“ (S. 48)

„Schwere Flügel“ gewinnt seine Faszination durch den Bezug zur Realität, in der das Alte noch präsent ist und das Neue bereits durchschimmert. Bei ihr wird deutlich, dass das gesamte Volk über die Zukunft des Sozialismus in China entscheidet. Zentrale Leitungsgremien der Partei oder die höchsten Ebenen der Regierung kommen nur indirekt vor, denn ihr geht es darum, dass die Zukunft auf den geschilderten Ebenen entscheidend mitbestimmt wird. Diese ihnen zugeschriebene Verantwortung treibt die Protagonisten der Geschichte an, sich mit voller Energie für ihre Überzeugung einzusetzen und ihr persönliches Wohl zumindest zeitweise in den Hintergrund zu drängen.

Einfühlsam und mit Liebe zum Detail geschrieben, entfaltet „Schwere Flügel“ trotz der für chinesische Schriftsteller ungewöhnlich drastischen Beschreibung von Missständen der Gegenwart dennoch Verständnis für diejenigen, die diese zu verantworten haben. Es geht ihr nicht um Verurteilung von Schuldigen, sondern um einen Erklärungsversuch, der zeigen soll, wie Hierarchien funktionieren. Sie bringt viel Verständnis für menschliche Schwächen ein, versucht Verhaltensweisen aus der sozialen Lage und der Biografie der Handelnden heraus zu deuten und bedient sich dabei einer Sprache, die wie ein Gedankengang kurvenreich und zunächst voller nicht auflösbar scheinender Widersprüche steckt. Zugleich macht sie deutlich, dass ein „weiter so“ für sie ausgeschlossen ist. Das alte Wirtschaftsprinzip fasst sie so zusammen: „ »Solange was im Topf ist, sollen alle daraus essen.« Satt wurde keiner.“ (S. 33)

Deutlich wird immer wieder, dass die Menschen durchaus willens sind, sich für die Verbesserung der allgemeinen Zustände einzusetzen. Dafür müssen die Voraussetzungen geschaffen werden. Systeme, die Karrieristen oder gar Zyniker in leitende Positionen befördern, gilt es zu beseitigen. Zhang Jies Protagonisten sind keine Einzelkämpfer mehr, vor allem sind sie keine einsamen Helden, die die Welt aus den Angeln heben, sondern sie beginnen, anderen Mitstreitern zu vertrauen und gemeinsam Probleme zu ergründen und anzugehen. Dabei ist mühsame Kleinstarbeit gefragt, große Sprünge gehören der Vergangenheit an. Aber es sind wenige, die – entgegen geltenden Gewohnheiten – Fortschritt verkörpern und die sichere Bahn des Vertrauten verlassen. Alte Traditionen aus den Zeiten vor der Gründung der Volksrepublik wirken – trotz Kulturrevolution – fort, Unsicherheiten und überpolitisierte Arbeitsabläufe sind noch präsent und gleichzeitig beeinflussen neue politische und wirtschaftliche Ansätze die Wirklichkeit. Alles ist in Bewegung, alle versuchen sich neu auszurichten, um nicht aus dem Sattel zu fallen. Insgesamt bietet dieser Roman einen Einblick in den Beginn der Reformperiode in der VR China und von dort einen Ausblick in eine Zukunft, die zu Teilen inzwischen bereits der Geschichte des Landes zugerechnet werden muss.

Schwere Flügel (沉重的翅膀). Aus dem Chinesischen von M. Kahn-Ackermann.

(Alle Zitate aus „Schwere Flügel“ nach der dtv-Ausgabe von 1987)


 
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