Fußspuren der Jugend im lehmigen Weg

Von Li Qian

Für das Interview hat Frau Liu Jingjing lange am Tor der Gemeindeverwaltung gewartet. Sie ist schlicht gekleidet, durch das ländliche Leben braungebrannt und sieht etwas schüchtern aus. Im Unterschied zu ihren Altersgenossinnen spürt man nicht die geringste Flatterhaftigkeit, die bei jungen Frauen sonst oftmals zu beobachten ist. Sie macht stattdessen einen besonnenen Eindruck.

„Andere Wahl, andere Chancen“

Liu Jingjing absolvierte ein Studium der Geschichte an der Chinesischen Remin-Universität. Auf dem ruhigen Campus hat sie schöne Jahre des Hochschulstudiums verbracht. Im vierten Studienjahr, also vor dem Abschluss, planten die meisten Kommilitonen ihre Zukunft, einige waren in der Vorbereitungsphase für die Aufnahmeprüfung der Postgraduiertenausbildung, andere hatten vor, ein Aufbaustudium im Ausland zu machen, wieder andere haben gute Arbeitsstellen gefunden.

Liu Jingjing, die sonst sehr ruhig ist, stand zum ersten Mal im Rampenlicht der allgemeinen Aufmerksamkeit, denn sie hat die ungewöhnliche Entscheidung getroffen, sich um eine Stelle als Verwaltungsassistentin in einem Dorf zu bewerben. Diese Wahl bedeutete zugleich, dass sie gut bezahlte Arbeitsangebote ausschlug.

Unverständnis zeigten nicht nur ihre Kommilitonen, sondern auch ihre Eltern. Aus ihrer Sicht bedeutete diese Wahl den Verzicht auf ein gemütliches Leben und die Entscheidung für ein mühseliges Leben auf dem Land.

Liu Jingjing bestand dennoch auf ihrer Wahl, letzten Endes machten die Eltern Zugeständnisse.

„Ich möchte in meiner Jugend verschiedenartige Lebensweisen kennen lernen, um mein Leben zu bereichern. Ich denke, aus verschiedenen Entscheidungen ergeben sich verschiedene Chancen“, sagte sie. Liu Jingjing stammt aus der Provinz Henan, ihre Heimat liegt auf dem Land. Obwohl sie von klein auf mit ihren Eltern in der Stadt lebte, hat sie eine starke innere Verbundenheit mit ihrer ländlichen Heimat. „Die meisten ländlichen Gebiete in Henan sind sehr unterentwickelt, die Bauern sind arm. Durch meine Arbeit in der Dorfverwaltung in Beijing kann ich Erfahrungen sammeln, mit denen ich später zum Aufbau meiner Heimat beitragen kann.“

Nach einigen Runden von mündlichen und schriftlichen Prüfungen ist Frau Liu aus den Bewerbern ausgewählt worden und wurde so eine der ersten Hochschulabsolventen von Beijing, die als Leitungskräfte in den Dörfern arbeiten. Zurzeit arbeitet sie als Assistentin des Sekretärs der Parteizelle des Dorfes Xitaizi im Bezirk Huairou.

„Ich habe meine Entscheidung bereut“

Im ersten Monat ihres Dienstes auf dem Land hat ihr die Leitung weder Aufgaben bei der Dorfverwaltung noch andere konkrete Aufgaben gegeben. Im Büro der Gemeindeverwaltung konnte sie nur Kopien anfertigen, Ablage und andere Kleinigkeiten machen. Manchmal hatte sie nichts zu tun, deshalb räumte sie das Büro auf und füllte Thermosflaschen.

Sie hatte den Ehrgeiz, etwas auf dem Land zu bewegen und stieß in der Realität auf kühle Ablehnung. „Vor dem Beginn meiner Arbeit habe ich mich psychisch auf das neue Umfeld vorbereitet, aber die realen Verhältnisse gehen über meine Erwartung hinaus, sind also noch schlimmer. Im ersten Monat dachte ich jeden Tag: Soll ich wirklich das machen, was ein Grundschüler schon machen kann? Muss ich die drei Jahre wirklich so verbringen? In jenen Tagen hatte die Gemeindeverwaltung noch keinen Internetanschluss, sie bekam auch keine Zeitung. Es kam ihr vor, als ob sie von der Außenwelt isoliert worden wäre. Sie bekam Angst davor, dass ihre Jugend derart vergeudet würde. „Als ich in depressiver Stimmung war, habe ich meine Entscheidung bereut. Ich dachte aber auch, dass ich die Zähne zusammenbeißen muss, da meine Entscheidung gefallen ist.“

„Ich habe noch sehr viel zu lernen“

Nach einem Monat hat ihr die Leitung endlich konkrete Aufgaben gegeben, sie arbeitete im Büro für Bautätigkeiten und war für die Genehmigung von Grundstücken von Wohnhäusern zuständig. Allmählich wurde ihre Arbeit in Gang gebracht. Sie war sehr beschäftigt. Sie musste nicht nur Dorfbewohner empfangen, die bei ihr Formalitäten erledigen wollten, sondern auch Vermessungen vor Ort vornehmen und Gutachten zusammentragen. Die Arbeit schien einfach zu sein, war aber kompliziert, denn sie sah sich vielfach mit unerwarteten Situationen konfrontiert.

Einmal kam sie mit einem erfahrenen Kollegen ins Dorf, um alte Häuser, die abgerissen und umgebaut werden sollten, zu vermessen. Der Umbau von alten Häusern verkörpert eigentlich die Politik im Interesse der Dorfbewohner, aber einige Dorfbewohner mit altmodischen Gedanken wollten nicht, dass ihre alten Häuser abgerissen und umgebaut werden. Es gab unfreundliche Worte und sogar aggressive Handlungen Liu Jingjing und ihrem Kollegen gegenüber. Liu Jingjing wurde dadurch aus dem Takt gebracht, während ihr Kollege gelassen und besonnen reagierte. Er beruhigte die Dorfbewohner, indem er ihnen geduldig die Politik der Regierung erklärte, ihre Fragen beantwortete und ihre Bedenken beseitigte. Damit hatte er die Situation schnell im Griff. „Ich bewundere sehr die Arbeitstaktik meines Kollegen. Von diesem Tag an hatte ich kein elitäres Gefühl mehr. Ich begreife, dass Wissen nicht Fähigkeit bedeutet und ein deutlicher Abstand zwischen mir und meinen Kollegen besteht. Ich habe also noch sehr viel zu lernen.“

Von da an legte Liu Jingjing Wert darauf, mit Dorfbewohnern ins Gespräch zu kommen und ihre Meinungen anzuhören. Sie achtet auch auf ihre Kommunikationsfähigkeiten, Arbeitsmethoden und -taktik. Bei schwierigen Problemen holt sie Rat bei Kollegen und älteren Dorfbewohnern ein. Nach einem Jahr ist sie ihren Aufgaben vollkommen gewachsen gewesen.

„Das Leben hier macht mich ruhig“

Trotz der ungünstigen Verkehrsverbindungen nimmt Frau Liu am Zusammentreffen von ehemaligen Studienkollegen teil und pflegt engen Kontakt mit ihnen. Ein Jahr nach dem Hochschulabschluss haben sie sich mehr oder weniger geändert, einige haben ihre Arbeitsstellen gewechselt, andere wurden befördert, wieder andere haben ein Studium im Ausland aufgenommen. „Im Vergleich zu ihnen habe ich kein Gefühl eines Abstiegs, ich bin sehr zufrieden mit meiner gegenwärtigen Arbeit. Das Leben hier macht mich ruhig.“

In der Freizeit liest Frau Liu Bücher und surft im Internet. Sie eignet sich autodidaktisch Kenntnisse in der Buchhaltung an und hat vor, ein Diplom in diesem Bereich als zusätzliche Qualifikation zu erwerben. „Ich denke, dass ich jetzt die Zeit gut ausnutzen sollte, um mehr zu lernen und damit mein Leben zu bereichern.“

Als sie gefragt wurde, ob sie einen Freund habe, antwortete sie schüchtern: „Ich arbeite in der Gemeindeverwaltung und habe wenig Gelegenheit, Leute zu treffen, die in Frage kämen. Die Liebe ist noch weit entfernt von mir. Aber ich wünsche mir Liebe. Mein Herzblatt wartet bestimmt an einem Ort auf mich, der in der Zukunft liegt“, ist sie überzeugt.


 
Adresse: Baiwanzhuang Dajie 24, Beijing, VR China
Postleitzahl: 100037
Fax: 010-68328338
Website: http://www.chinatoday.com.cn
E-mail: chinaheute@chinatoday.com.cn
Copyright (c) China Today, All Rights Reserved.