Siegeszug
der Filme mit niedrigen Produktionskosten
Von Chen Si
Früher schaute ich mir chinesische Filme an, weil
die Figuren und die Landschaft des Orients mir gefielen. Aber
der Film Tuyas Marriage fesselte mich mit seiner
Handlung so, dass ich nicht merkte, dass dies ein chinesischer
Film ist. Über den Kommentar eines deutschen Filmkritikers
kam Wang Quanan, Regisseur des Films, zu der Erkenntnis:
Die Zuschauer sind nicht mehr von den chinesischen Besonderheiten
eines Films beeindruckt, sondern eher durch wesentliche Elemente
des Films bewegt.
Ein wahrer, guter und rührender Film
Tuyas Marriage hat auf der 57. Berlinale die
anderen 21 Kandidaten besiegt und gewann den Goldenen Bären.
Das ist der dritte Goldene Bär für einen chinesischen
Film, der zweite wurde vor 14 Jahren nach China geholt. Tuyas
Marriage ist ein künstlerischer Film mit Produktionskosten
in Höhe von fünf Millionen Yuan (10 Yuan entsprechen
etwa 1 Euro). Nur die Hauptdarstellerin ist eine professionelle
Schauspielerin, alle anderen sind sozusagen Laien. Shi Nansheng,
Juror der Berlinale, sagte: Bereits an dem Tag, an dem sich
sieben Juroren diesen Film angeschaut hatten, waren sie der Meinung,
dass der Film der diesjährige Preisträger des Golden
Bären sein sollte. Daher gab es bei der Abstimmung keinen
Gegenkandidaten mehr. Die einzige Auseinandersetzung war, ob die
Hauptdarstellerin Yu Nan einen Preis erhalten sollte.
Anders als Tuyas Marriage gab es 2006 einige
chinesische Filme mit Produktionskosten von über 100 Millionen
Yuan, die aber bei den verschiedenen internationalen Filmfestivals
keinen einzigen Preis gewinnen konnten. Die meisten dieser Filme
sind groß angelegte historische Dramen, die weder mit der
Ausdruckskraft der dargestellten Figuren glänzten, noch rührende
Geschichten erzählten. Daher entsprachen sie nicht den Anforderungen
der Jury und der Zuschauer. Der Regisseur Wang Quanan meinte:
Von den Entscheidungsträgern der Filmfestivals habe
ich ein Erfordernis erahnt: ,Könntet ihr nicht etwas Kreatives
anbieten, das sich eng mit dem gegenwärtigen unruhigen, aber
vitalen und schwungvollen China verbindet? Seine Mutmaßung
wurde mit der Verleihung des Goldenen Bären auf der Berlinale
an Tuyas Marriage und der Verleihung des Goldenen
Löwen auf dem Filmfestival von Venedig an Still Life
bestätigt. Still Life beschreibt die großen
Veränderungen im Leben lokaler Anwohner durch den Bau des
weltweit größten Wasserbauprojekts, des Drei-Schluchten-Staudamms.
In Tuyas Marriage werden aus einer individuellen
Perspektive die Einflüsse der raschen wirtschaftlichen Entwicklung
auf die traditionelle Lebensweise widerspiegelt.
Tuyas Marriage erzählt von dem Leben einer
Frau namens Tuya, die aus der Steppe der Inneren Mongolei stammt.
Ihr Mann verunglückt beim Graben eines Brunnens und ist seitdem
gelähmt. Tuya nimmt die schwere Bürde des Familienlebens
auf sich und verletzt sich aufgrund der harten Arbeit schwer an
ihrer Lendenwirbelsäule. Ihr Mann lässt sich von ihr
scheiden, um Tuya nicht weiter zur Last zu fallen. Tuya stimmt
dem unter der Bedingung zu, dass sich eine neue Familie um ihren
behinderten Mann kümmert. Tuya selbst beginnt mit der schwierigen
Suche nach einem neuen Mann
Im Film werden die Hartnäckigkeit und Bescheidenheit einer
Mongolin aus einfachen Verhältnissen von der Schauspielerin
Yu Nan glaubhaft dargestellt. Yu Nan hat in allen vom Regisseur
Wang Quanan bisher inszenierten Filmen die Hauptrolle gespielt.
Alle Laienschauspieler verhalten sich natürlich und eindrucksvoll.
Die Außenaufnahmen des Films wurden in einem Weidegebiet
gemacht, welches nicht weit vom Geburtsort der Mutter von Wang
entfernt liegt. Dazu erklärte Wang Quanan: Ich
liebe die dortigen mongolischen Hirten, ihre Lebensweise und ihre
Musik. Als ich hörte, dass die Hirten wegen der Wüstenbildung
gezwungen waren, umzusiedeln, entschloss ich, dies alles in einem
Film zu dokumentieren, bevor es verschwindet. Tuyas
Marriage bezieht seinen Stoff aus einer wahrhaftigen Geschichte,
die vor Ort geschehen ist. Gedreht wurde der Film hauptsächlich
in der letzten Hirtenfamilie, die ihr dortiges Heimatgebiet noch
nicht verlassen hat. Neben der Hauptdarstellerin wurden die meisten
Rollen von lokalen mongolischen Hirten gespielt. Als die Dreharbeiten
zu Ende gingen, waren die Häuser und Einwohner der Gegend
nicht mehr zu sehen. Sie sind nicht mehr die stolzen mongolischen
Reiter früherer Zeiten, sondern Bauern in den Vorstädten
oder fliegende Händler in den Stadtzentren. Das ist eine
traurige Sache, aber ich fühle mich innerlich beruhigt, wenn
ich daran denke, dass ihre Freude und Trauer in Tuyas Marriage
aufgezeichnet worden sind. In diesem Moment halte ich es für
ein Glück, dass ich Regisseur geworden bin, und ich habe
vollen Respekt vor meinem Beruf und empfinde Dankbarkeit gegenüber
der Filmbranche.
Wang Quanan sagte: Meine Filme spiegeln alle die
soziale Realität Chinas wider. Ich drehe solche Filme, weil
es wenige Filme gibt, die das Thema behandeln. Zur Zeit handeln
kaum noch chinesische Filme von der wirklichen chinesischen Gesellschaft
und dem realen Zustand, in dem sich die chinesische Bevölkerung
befindet, daher ist dieser Film eine Ausnahme.
Aufmerksamkeit: Thema Frauen
Bisher hat Wang Quanan nur drei Filme gedreht, die aber
alle die Situation von Frauen zum Thema hatten. Seiner Meinung
nach haben Frauen mehr Fingerspitzengefühl. Ihre Reaktion
auf einen Vorfall trifft oft den wesentlichen Punkt der aufgeworfenen
Fragen. Ich habe vollen Respekt vor Frauen.
Als der 42-jährige Wang Quanan noch klein war, war
sein Traumberuf Maler. Mit 12 Jahren verließ er entgegen
seinem kindlichen Berufswunsch die Schule und wurde Tänzer
in einem Gesang- und Tanzensemble. 1985 hegte er plötzlich
den starken Wunsch, Filme zu drehen. 1987 wurde er von der Fakultät
für Schauspielkünste der Filmakademie Beijing aufgenommen
und verzichtete daher auf das Regiestudium an der Lyoner Filmakademie,
weil er der Ansicht war, dass er China besser kennt.
Wang Quanan spielte einen Busfahrer im Film Good
Morning, Beijing, ein von chinesischen Regisseuren der sechsten
Generation hoch geschätzter Film. Filmkritiker hielten
seine Darstellung für exakt. Nach Abschluss des
Studiums wurde er Drehbuchautor des Xianer Filmstudios.
Er hat insgesamt 13 Drehbücher geschrieben. Seiner Ansicht
nach sollte ein ausgezeichneter Regisseur wie Francis Ford Coppola
selbst Drehbücher schreiben, weil er die Struktur eines Films
in- und auswendig kennt.
2000 drehte Wang Quanan seinen ersten Film Lunar
Eclipse, der als chinesischer La Double vie de Véronique
bezeichnet wurde. Der Film ist durchdrungen von Geistesblitzen
und zahlreichen neuen Filmelementen. Er stand deshalb im Mittelpunkt
der Aufmerksamkeit der Filmwelt und wurde zu zahlreichen internationalen
Filmvorführungen eingeladen. Durch Lunar Eclipse
wurde Wang Quanan von dem Gedanken, Regisseur zu werden,
überzeugt. Dazu sagte er: Damals befand ich mich in
einer Phase, in der es mir wichtig war, mich selbst zu verwirklichen,
ohne Rücksicht auf das Publikum zu nehmen. Durch das Medium
Film konnte ich alles ausdrücken. Schließlich fand
ich heraus, dass Erzählungen für Filme die geeigneteste
Form darstellen. Was wir vernachlässigt haben, ist die Tatsache,
dass ein Film ein möglichst breites Publikum erreichen sollte.
In Wang Quanans zweitem Film The Story of Ermei
ließ der Regisseur seine lebensferne Ausdrucksform und die
experimentelle Drehtechnik beiseite und konzentrierte sich auf
die Geschichte: Ermei ist ein Dorfmädchen und wird von ihrem
Vater einem Mann einer reichen Familie des Dorfes versprochen.
Sie flieht in die Stadt, doch ihr Traum von städtischem Leben
und von Liebe wird bald zerstört. Schließlich geht
sie ins Dorf zurück und heiratet den Mann. Wang Quanans
Meinung nach soll der Gehalt eines Films in eine anmutige Geschichte
eingebettet werden.
Für künstlerische Filme
Nach Wang Quanans Aussage ist er gerne Regisseur, weil
er dadurch seine eigenen Ansichten über die in seiner Umgebung
lebenden Menschen und die sich ereignenden Vorfälle zum Ausdruck
bringen kann und die Dreharbeiten für ihn ein Genuss sind.
Er meint, dass einige Regisseure zwar eine Reihe von Filmen mit
hohen Produktionskosten gedreht hätten, aber keiner dieser
Filme werde ihnen Freude bereiten. Je mehr Filme sie drehten,
desto mehr müssten sie einbüßen. Daher hat sich
Wang Quanan für künstlerische Filme entschieden,
bei denen er optimistisch ist: Wichtig für künstlerische
Filme sind ihre kommunizierenden Zielgruppen. Die chinesischen
Zuschauer der künstlerischen Filme sind gedanklich dermaßen
gereift, dass es mich erstaunt. Unter diesen Umständen ist
eine fließende Kommunikation dann auch problemlos.
Schon während seines zweiten Films The Story of Ermei
ist ein internationales Drehteam um Wang Quanan entstanden.
Seine Hauptdarstellerin Yu Nan spricht fließend Englisch
und Französisch und hat bereits mit ausländischen Regisseuren
zusammengearbeitet. Der Kameramann für die Filme The
Story of Ermei und Tuyas Marriage war
Lutz Reitemeier aus Deutschland. Er hat sich Wangs Film Lunar
Eclipse angesehen und entschied sich zur Zusammenarbeit.
Über ihn sagte Wang Quanan: Anders als viele
Fotographen schenkt Lutz den zu fotografierenden Objekten größere
Aufmerksamkeit. Er kann eine Balance zwischen Bildern und Inhalt
schaffen. Über das Drehteam äußerte sich
Wang Quanan so: Ich werde durch Mitarbeiter meines
Drehteams inspiriert. Sie haben einen scharfen Blick für
etwas Gewöhnliches und können ihm etwas Neues entlocken.
Aber bei ungewöhnlich Emotionalem bewahren sie einen kühlen
Kopf, was für mich besonders hilfreich ist.
Manch ein Medienbericht in China warf Wang Quanan vor,
Filme gezielt für internationale Filmfestivals zu drehen.
Wangs Erklärung: Wenn ein Film die weltweite Aufmerksamkeit
erregen will, dann sind Filmfestivals eine wichtige Plattform.
Sonst haben Filme aus Entwicklungsländern kaum noch eine
Chance, einem Publikum aus entwickelten Ländern präsentiert
zu werden. Die Frage ist doch nicht, ob chinesische Filme an ausländischen
Filmfestivals teilnehmen und ob sie es überhaupt wollen,
sondern vielmehr die, ob sie es dürfen und ob sie Preise
gewinnen können. Meiner Meinung nach sollten noch mehr chinesische
Filme auf ausländischen Filmfestivals gezeigt werden. Das
wäre sehr wichtig. Er meint, dass chinesische Filmemacher
neben einer Orientierungshilfe durch ausländische Filmfestivals
dort auch Ermutigendes mitnehmen würden. Aber er gibt zu,
dass es tatsächlich chinesische Filme gäbe, die sich
nach dem Geschmack ausländischer Filmfestivals richten würden,
wogegen er sich ausspricht.
Im Großen und Ganzen unterteilen sich chinesische Filme
in kommerzielle und künstlerische, die im Widerspruch zueinander
stehen. Wangs Meinung nach ist dies unnötig und in China
sollten Filme verschiedenster Richtungen mit vielfältigen
Elementen und originellen Einfällen koexistieren.
Zur Zeit bereitet sich Wang Quanan auf die Verfilmung des
literarischen Werkes White Deer Plain (Ebene des Weißen
Hirsches), welches den höchsten Literaturpreis Chinas
den Mao-Dun-Literaturpreis erhalten hat, vor. Bisher hat
der Roman eine Auflage von über einer Million Exemplaren
erreicht. Das Werk hat durch Beschreibung von Höhen und Tiefen
im Leben einer Familie die Schicksale von Einzelpersonen, Familien
und der gesamten Nation veranschaulicht und die gesellschaftlichen
Wandlungen der ersten 50 Jahre des vorigen Jahrhunderts illustriert.
Da sich die Geschichte über eine lange historische Zeitspanne
erstreckt, die Erzählweise kompliziert ist und verschlungene
Beziehungen zwischen den literarischen Figuren vorkommen, konnte
der Roman 14 Jahre lang nicht filmisch umgesetzt werden. Man sagt,
dass Wang Quanan um die Regieführung bei diesem Film
gebeten worden sei, weil er sich gut auf filmische Erzählungen
verstehe.
Kurzinfos
Chinesische Filme, die den Goldenen Bären auf der Berlinale
gewonnen haben:
1988 Red Sorghum, Regie: Zhang Yimo
1993 The Women from the Lake of Scented Souls, Regie:
Xie Jin
2007 Tuyas Marriage, Regie: Wang Quanan
Wang Quanan, geboren 1965, absolvierte 1991 das Studium
an der Fakultät für Darstellungskünste der Beijinger
Filmakademie, danach war er im Xianer Filmstudio tätig,
für das er zahlreiche Drehbücher verfasst hat. Im Jahr
2000 hat der Film Lunar Eclipse, für den Wang
Quanan das Drehbuch geschrieben hat und Regie führte,
große Aufmerksamkeit auf sich gezogen und an mehr als 20
internationalen Filmfestivals teilgenommen, bei denen er mehrere
wichtige Preise gewonnen hat. Mit dem Film The Story of
Ermei hat Wang Quanan im Jahr 2003 weitere Lorbeeren
geerntet.
2000 war Lunar Eclipse im Berlinale-Forum zu sehen;
2003 lief The Story of Ermei im Berlinale-Panorama;
2006 gewann Tuyas Marriage den Goldenen Bär
auf der Berlinale.
Yu Nan schloss ihr Studium an der Fakultät für Darstellungskünste
der Beijinger Filmakademie ab. 2000 wurde sie auf in- und ausländischen
Filmfestivals für die Hauptrolle in Lunar Eclipse
mit dem Preis in der Kategorie Beste Schauspielerin
ausgezeichnet. 2001 spielte sie die Hauptroller im französischen
Film Fureur. 2003 gewann sie wegen ihrer Darstellung
in The Story of Ermei fast alle chinesischen Preise
in der Kategorie Beste Schauspielerin 2003 und 2004.
2005 spielte sie wiederum die Hauptrolle in Wang Quanans
Tuyas Marriage. 2006 war sie die Hauptdarstellerin
im Hollywood-Film Diamond Dogs. Anschließend
wird sie wieder eine Rolle im vierten Film von Wang Quanan,
Textilarbeiterin, übernehmen.
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