Das Werk von Marx und Engels in China: Gespräch mit Eike Kopf

Von Lars Mörking

Eike Kopf, seit 1965 Marx-Engels-Forscher, gründete 1967 am Pädagogischen Institut Mühlhausen/Thüringen (ab 1969 Pädagogische Hochschule Erfurt/Mühlhausen) die Forschungsgruppe „Marx-Engels-Forschung“, die wegen ihrer Forschungsleistungen ab 1978 direkt zur Bearbeitung von MEGA (Marx-Engels-Gesamtausgabe) -Bänden eingeladen wurde. Seit 1997 arbeitet er bei der Marx-Engels-Abteilung des Instituts für die Sammlung und Übersetzung der Werke von Marx, Engels, Lenin und Stalin beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas in Beijing und ist dort an der Bearbeitung von Bänden der zweiten chinesischen Ausgabe der Werke von Marx und Engels beteiligt, die auf der Grundlage der MEGA herausgegeben wird.

Sie haben in der DDR an der Bearbeitung von Bänden der MEGA gearbeitet. Dieses Projekt war ja 1990 noch nicht beendet. Was geschah mit der MEGA nach dem Bruch 1989/90?

Allein in Berlin hatten wir etwa 100 MEGA-Mitarbeiter am Institut für Marxismus-Leninismus, an der Akademie der Wissenschaften sowie an der Humboldt Universität. Es gab MEGA-Gruppen in Halle, in Leipzig, in Jena, in Erfurt/Mühlhausen – jetzt sind 7,5 Mitarbeiterstellen in Berlin übriggeblieben. Das wirkt sich natürlich auch auf die Qualität aus. In Berlin, Leipzig, Halle, Jena und Erfurt/Mühlhausen arbeiteten ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MEGA-Projektes auch nach 1990 weiter daran, teilweise ohne Bezahlung oder mit sehr spärlicher Bezahlung durch Werkverträge o. ä. Ohne diese Mitarbeit gäbe es noch nicht die 52 Bände, die bisher herausgegeben werden konnten. Mit der Arbeit an vielen der erst in den letzten Jahren erschienenen Bände wurde allerdings noch in der DDR begonnen, so dass bisher auf umfangreiche Vorarbeiten zurück gegriffen werden konnte. Auch in Moskau werden noch Bände bearbeitet, in Japan gibt es intensive Forschungsarbeit, in Dänemark und den USA wird ein Beitrag geleistet und es gibt weitere Mitarbeiter, die selbstständig an Bänden arbeiten. Ein großes Problem ist, dass die Bund-Länder-Finanzierung in Deutschland die Personalkosten der genannten Stellen und damit verbundene Sachkosten deckt, die Drucklegung der erstellten Bände jedoch beispielsweise nicht finanziert wird. So konnte 2006 kein einziger Band erscheinen, 2007 werden es hoffentlich wieder zwei Bände sein.

Welchen Umfang hat das MEGA-Projekt in dieser Form?

52 Bände sind vorhanden, 114 sollen es werden, etwa 40 wurden bereits in der DDR fertiggestellt. Es wird also noch sehr lange dauern, bis - bei diesem Tempo - die vollständige MEGA vorliegen wird.

Sie arbeiten in Beijing an der zweiten chinesischen Ausgabe der Werke von Marx und Engels. Wie kam es dazu?

Kurz nach dem „Beitritt“ der DDR zur BRD wurden sämtliche Hochschullehrer der Bereiche Sozialwissenschaften, Pädagogik, Psychologie und Polytechnik der Pädagogischen Hochschule in Erfurt/Mühlhausen, an der ich bis dahin tätig war, in den Hörsaal einbestellt und uns wurde mitgeteilt, dass wir zum 31. 12. 1990 gekündigt sind. Das betraf alle Hochschullehrer. Man hatte damals zwei Möglichkeiten: Entweder meldete man sich ab dem 2. Januar beim Arbeitsamt arbeitslos, verlor damit aber auch die Berechtigung, das Gelände der Hochschule zu betreten, oder – weil man nun nicht innerhalb der Weihnachtsferien in der Lage war, 100 Lehrkräfte aus den alten Bundesländern einzusetzen – man konnte bis Sommer 1991 bleiben, die begonnene Ausbildung der Studierenden zu Ende führen und sich dann anschließend arbeitslos melden. Ich habe mich dann für letzteres entschieden, um nicht den Zugang zu meinem Arbeitszimmer zu verlieren, in dem auch die ganzen Materialien unseres MEGA-Projektes lagen. Wir hatten ja noch im Frühjahr 1989 zwei neue Verträge mit den Herausgebern der MEGA abgeschlossen: Band 15 der zweiten Abteilung (3. Buch des Kapitals), der bis 1994, dem 100. Jahrestag der ersten Herausgabe dieses Bandes des „Kapitals“ durch Engels, fertiggestellt werden sollte und dann 10 Jahre später als geplant, also 2004, auch erschien. Und wir hatten vertraglich vereinbart, die jetzt als Nr. 25 und 28 der vierten Abteilung (Exzerpte) geplanten Bände der MEGA zu bearbeiten, weil sich darin die letzten ökonomischen Exzerpte von Marx aus seinem Nachlass wiederfinden sollen. Als Arbeitsloser habe ich mit zwei ehemaligen Mitarbeitern unserer Arbeitsgruppe, die in Mühlhausen lebten, auf eigene Kosten jeden Tag weiter an den vertraglich vereinbarten Bänden gearbeitet. Nachdem wir keine Zugangsberechtigung mehr zur Hochschule hatten, haben wir dann im Stadtarchiv Mühlhausen unsere Tätigkeit fortgesetzt. Das übrigens auch aus einem Selbsterhaltungstrieb heraus, weil ich festgestellt habe, dass man schnell „verblödet“, wenn man über Jahrzehnte tagtäglich bei Lehrveranstaltungen, Vorlesungen, Seminaren, Übungen, Prüfungen und Forschungsarbeit geistig tätig gewesen ist und plötzlich in die Arbeitslosigkeit geschickt wird. Auch deshalb habe ich weiter an der MEGA mitgearbeitet, was ich im Grunde bis heute tue. 1995 wurde ich dann vom damaligen Sekretär der Internationalen Marx-Engels-Stiftung Amsterdam, Jürgen Rojahn, angesprochen, ob ich nicht Lust hätte, in China für ungefähr 420 DM im Monat an der zweiten chinesischen Marx-Engels-Ausgabe zu arbeiten. Ich versuchte zunächst eine Gelegenheit zu bekommen, mich hier in Beijing vor Ort und Stelle zu informieren und vorzustellen, um mir einen Überblick zu verschaffen, wie die Arbeitsmöglichkeiten hier sind. Ich habe letztendlich eine Leserreise des ND genutzt, um nach China zu reisen, und habe mich mit den Bedingungen im Institut – insbesondere der Bibliothek – vertraut gemacht. Ich habe dann gesehen, dass sie sehr umfangreiches und gutes Material haben, mit dem man auch entsprechend arbeiten kann.

Warum ist eine zweite Ausgabe der Werke von Marx und Engels überhaupt in Angriff genommen worden?

Die erste chinesische Marx-Engels-Ausgabe wurde in 50 Bänden herausgegeben. Diese Ausgabe war eine Übersetzung aus dem Russischen, der zweiten russischen Ausgabe der Marx-Engels-Werke. Nun ist klar, dass die russische Ausgabe immer auch – mit wenigen Stellen, wo Marx und Engels selbst russisch geschrieben haben – eine bereits erfolgte Übersetzung eines deutschen, französischen, englischen oder italienischen Originaltextes ins Russische darstellt. Und nun war diese Übersetzung also noch einmal übersetzt worden und bildete diese erste chinesische Ausgabe. Man kann die besten Übersetzer mit den besten Absichten an so eine Aufgabe setzen, es ist nicht zu verhindern, dass bei Übersetzungen immer – ohne dass böser Wille oder Absicht dahinter steckt – Nuancen auftreten. Das ist nicht zu verhindern. Daher die Entscheidung der chinesischen Führung, eine Ausgabe in China zu erarbeiten, die die Texte direkt aus den Originalsprachen, wie sie in der MEGA zur Verfügung stehen, ins Chinesische zu übertragen. Da nun aber nach 1991/92 einige Jahre lang keine MEGA-Bände mehr erschienen, und sich auch jetzt, nach etwa 15 Jahren zeigt, dass sich die Erscheinungsdauer dieser MEGA-Bände hinziehen wird, hat die chinesische Führung der KP Ende April 2004 nach Durchführung einer Gesamtchinesischen Arbeitsberatung im ZK den Beschluss gefasst, dass bis Ende 2007 eine 10 Bände umfassende chinesische Ausgabe der Werke, Manuskripte und Briefe von Marx und Engels zu erstellen ist. Es wird also nicht erst auf den Abschluss der MEGA und die auf dieser Grundlage zu erarbeitende zweite chinesische Ausgabe einer Marx-Engels-Werke-Edition gewartet. Von der zweiten chinesischen Ausgabe, die – nach der jetzigen Planung – wenigstens 70 Bände umfassen wird, sind inzwischen übrigens 18 Bände vorgelegt worden. Jeder Band wurde in 5000 Exemplaren gedruckt.

Es soll also noch in diesem Jahr eine Marx-Engels-Ausgewählte-Werke-Edition in 10 Bänden geben ...

Eike Kopf: ... ja, im Unterschied zu den in Deutschland vorliegenden 6-bändigen Marx-Engels-Ausgewählte-Werken (MEAW) sind in der 10-bändigen chinesischen Ausgabe die 3 Bände des „Kapitals“ enthalten. Auch der „Anti-Dühring“ und „Dialektik der Natur“ machen einen Band aus und sind komplett abgedruckt. Der Beschluss des ZK zur Erarbeitung dieser 10 Bände enthält übrigens auch Anregungen zum Umgang mit dieser Auswahlausgabe in den Universitäten, Foschungseinrichtungen und -instituten. Es soll geklärt werden, in wieweit man die Erkenntnisse von Marx und Engels unter den heutigen Bedingungen in der VR China schöpferisch anwenden kann. Es soll in größerem Umfang damit gearbeitet werden. Die 10-bändige Ausgabe ist natürlich handlicher als die erste chinesische Ausgabe in 50 Bänden oder auch als die zweite Ausgabe, die dann, wenn sie fertig ist, ja 70 Bände umfassen wird und eher für Forschungseinrichtungen gedacht ist.

Wie schätzten Sie den Wirkungsgrad der Tätigkeit des Instituts für die Sammlung und Übersetzung der Werke von Marx, Engels, Lenin und Stalin ein?

Ich habe in den letzten Jahren an einigen internationalen wissenschaftlichen Konferenzen teilgenommen, die hier in China veranstaltet wurden und sich mit dem Werk von Marx und Engels befassten. Beispielsweise gab es im April 2004 eine Konferenz über „Marx und Engels und die Internationalisierung des Weltmarktes“ in Shanghai oder auch eine Konferenz über den Sozialismus und das 21. Jahrhundert an der Akademie für Sozialwissenschaften hier in Beijing. Solche Veranstaltungen werden immer auch in Zusammenarbeit mit unserem Institut ausgerichtet. Teilnehmer unseres Instituts bekommen mit ihren Beiträgen dabei einen besonderen Platz eingeräumt. Wir haben diese Gelegenheiten u. a. genutzt, um darüber zu informieren, was wir im Institut zur Zeit machen. Als Reaktion darauf haben inzwischen eine ganze Reihe von Mitarbeitern von Universitäten und Forschungseinrichtungen durchaus Interesse an der zweiten chinesischen Ausgabe bekundet. Ich habe aber auch insgesamt den Eindruck, dass die bewusste Absicht des derzeitigen ZK besteht, intensiver als vielleicht in den vorangegangenen 15 Jahren wieder die Analysen von Marx und Engels aus einer Zeit, als die kapitalistische Entwicklung noch einfacher zu überblicken war als heute, und daraus erarbeitete politische Schlussfolgerungen und Hinweise für die zukünftige Entwicklung aufzugreifen. Übrigens entspricht das derzeitige langfristige Gesellschaftskonzept der chinesischen Führung, im Inneren des Landes eine harmonische sozialistische Gesellschaft und außenpolitisch eine harmonische Welt aufzubauen, auch Marx’ Schlussfolgerung in seiner Adresse zum Deutsch-Französischen Krieg 1871, dass die wichtigsten Prinzipien der sozialistischen Gesellschaft außenpolitisch der F r i e d e ist, weil im Inneren das Prinzip der A r b e i t herrscht (MEW, Bd. 17, S.7).

 
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