Pastorin als Lebensinhalt, nicht als Beruf
Von Qiao Tianbi
Die Christen Chinas bestehen im Großen und Ganzen aus zwei
Gruppen. Die eine Gruppe kommt aus einer christlichen Familie
und die andere setzt sich aus Gläubigen zusammen, die sich
erst nach dem Ende der Kulturrevolution (19661976)
zum Christentum bekannten, als die kirchlichen Institutionen wiederhergestellt
wurden. Die zweite Gruppe macht einen großen Anteil an den
Christen Chinas aus. Die Pastorin Gao Ying, die seit dem März
2006 als Vizepräsidentin des Theologischen Seminars Nanjing
Union in der Provinz Jiangsu fungiert, gehört zu ihnen. Ihre
Eltern waren hochrangige Funktionäre der Kommunistischen
Partei Chinas.
Während der Kulturrevolution leistete Gao Ying wie
auch andere Jugendliche mit Schulabschluss in dieser Zeit
Feldarbeit in einem Dorf. 1974 kehrte sie nach Beijing zurück
und arbeitete in einer Fabrik. Da die Menschen in China in den
vorangegangenen zehn Jahren viele seelische Verletzungen erleiden
mussten, waren die zwischenmenschlichen Beziehungen kurz nach
der Kulturrevolution sehr kühl. Gao Ying hatte eine Arbeitskollegin,
deren Vater ein Pastor war. Dadurch konnte Gao Ying mit dem Christentum
in Berührung kommen und war sehr neugierig darauf. Dann passierte
eine Reihe von Ereignissen in einer sehr kurzen Zeit, sagt
Gao Ying.
1980 ging Gao Ying zum ersten Mal in die Kirche. In ihren Augen
erschien die Kirche ganz anders als die Außenwelt. Sie empfand
Gleichberechtigung, Freundlichkeit und eine Atmosphäre voller
Vertrauen und menschlicher Wärme, was sie tief anzog und
ihr zu Herzen ging. So entschied sie sich sofort, sich taufen
zu lassen. Ihre Eltern waren vehement dagegen. Beide Seiten standen
in Opposition zueinander. Noch heute kann sich Gao Ying daran
erinnern: Meine Eltern konnten mich damals nicht verstehen,
insbesondere meine Mutter, weil Religionen ihrer Meinung nach
rückständig und reaktionär wie ein Aberglaube sind.
Es tat ihr sehr leid, dass ihre Tochter einen Lebensweg einschlug,
der in eine ganz andere Richtung führt als ihre politische
Überzeugung. Gao Yings christlicher Glaube war ein
großer Schlag für ihre Mutter. Ihre Mutter war der
Auffassung, dass sie auf einen Abweg geraten war.
Kurz nachdem ich eine Christin wurde, hörte ich, dass
das Theologische Seminar Nanjing Union wieder Studenten aufnehmen
will. Darüber habe ich mich sehr gefreut. Ich hörte
die Stimme und den Ruf des Gottes und fühlte meine Verantwortung
und Mission. So bewarb ich mich mit großer Entschlossenheit
um einen Studienplatz am Theologischen Seminar. Über diese
Wahl war meine Mutter so enttäuscht, dass sie die Beziehung
zu mir abbrechen wollte. Ich glaubte damals, dass sie mich mit
der Zeit verstehen würde, und verließ Beijing.
Die Reaktion der Mutter deprimierte Gao Ying zwar sehr, doch ging
die zu diesem Zeitpunkt 26-jährige 1981 in das theologische
Seminar, wo sie 11 Jahre studierte.
Gao Ying zählte zu den ersten Studenten, die das Theologische
Seminar Nanjing Union nach 15 Jahre Unterbrechung wieder aufnahm.
Damals wusste man ganz wenig von Religionen und die Nachricht,
dass das Theologische Seminar wieder Studenten aufnahm, war wenigen
Leuten bekannt. Weil Gao Ying in Beijing, der Hauptstadt des Landes,
wohnte, war sie gut informiert. Am Theologischen Seminar stammten
die meisten Mitstudenten von ihr aus gläubigen Familien,
manche davon waren Kinder der kirchlichen Würdenträger.
Außerdem war der Altersunterschied unter den Studierenden
groß, da das Theologische Seminar 15 Jahre lang keine Studenten
aufgenommen hatte. Der älteste war 36 Jahr alt, während
der jüngste nur 17 Jahre alt war. Die meisten Lehrer des
Theologischen Seminars waren damals alte Geistliche, die ein umfangreiches
Wissen besaßen und bei den Studierenden angesehen waren.
Aus diesem Grund schätzten die Studierenden die Gelegenheit,
hier studieren zu können, sehr.
Von 1987 bis 1991 studierte Gao Ying am Theologischen Seminar
der Berkeley University in den USA. Gerade während dieser
Zeit versöhnte sie sich mit ihrer Mutter. 1989 herrschte
in Beijing politische Unruhe, worüber fast alle US-amerikanischen
Medien berichteten. Ich sorgte mich sehr um meine Mutter
und telefonierte nach Beijing, um nach ihrem Zustand zu fragen.
Aber es gelang mir einige Tage lang nicht, weil die Leitung aus
den USA nach China immer besetzt zu sein schien. Schließlich
erreichte Gao Ying Ding Guangxun, den Präsidenten des Theologischen
Seminars in Nanjing. Dank seiner Hilfe konnte Gao Ying mit ihrer
Mutter sprechen. Beim Ferngespräch weinten wir beide,
weil wir uns als Mutter und Tochter umeinander sorgten, wodurch
eine Versöhnung möglich wurde. Anfang 1991 wurde
Gao Yings Mutter aufgrund einer Krankheit ins Krankenhaus eingeliefert
und starb dort 40 Tage später. Aus diesem Anlass kehrte Gao
Ying nach China zurück.
Nachdem Gao Ying nach Beijing zurückgekehrt war, wurde sie
als Pastorin, später als leitende Pastorin, in der Chongwenmen-Kirche
(ursprünglich Asbury Church) tätig. Die Asbury Church
ist die erste christliche Kirche Beijings bzw. Nordchinas und
wurde 1870 von US-amerikanischen Methodisten gegründet. Während
der Kulturrevolution diente sie als Festhalle einer Mädchenschule,
1982 bekam sie ihren vorherigen Status wieder und ist gegenwärtig
die größte Kirche Beijings.
Später bekleidete Gao Ying eine führende Funktion in
der christlichen Organisation Beijings und hatte zahlreiche soziale
Aktivitäten durchzuführen. Ich war sehr beschäftigt
und umso mehr beschäftigt, nachdem ich leitende Pastorin
wurde. Zwar hatte ich keine konkrete Aufgabe mehr, aber ich musste
die meiste Zeit der Koordination der ganzen Kirche widmen. Die
Chongwenmen-Kirche hatte mehr als 200 freiwillige Helferinnen
und Helfer. Fast jeden Tag gab es Veranstaltungen. Außerdem
hatte ich viel mit sozialer Arbeit zu tun. Trotzdem hält
Gao Ying jeden Sonntag eine Predigt. Laut den Kollegen des Theologischen
Seminars Nanjing Union predigt Gao Ying sehr ausgezeichnet. Dazu
meint Gao Ying selbst: Das kann man nicht mit ausgezeichnet
bewerten. Ich habe nur einige Erfahrungen gesammelt.
Gao Ying beschäftigte sich viele Jahre mit der kirchlichen
Arbeit und hat im Ausland studiert. Als Vizepräsidentin des
Theologischen Seminars Nanjing Union hat sie viele Ideen, wie
die Leitung des Seminars zu verbessern ist. Als sie studierte,
waren die Studierenden des Seminars relativ alt und hatten unter
Einfluss ihrer Familien meist einen vorgeformten Glauben, während
die meisten der heutigen Studierenden das einzige Kind ihrer Eltern
sind und einige von ihnen nicht aus einer christlichen Familie
stammen. Sie können vom Weltlichen leichter beeinflusst werden.
Weil Nanjing Union das einzige christliche theologische Seminar
auf zentraler Ebene ist, ist der größte Teil seiner
Lehrer von diesem selbst ausgebildet worden. Zwar kann man dadurch
ununterbrochen Lehrkräfte bekommen, aber es wird andererseits
schwierig, das Niveau der Lehrkräfte zu erhöhen. Als
Chinas bestes theologisches Seminar sieht Nanjing Union große
Unterschiede gegenüber ausländischen Seminaren. 80%
der 40 Lehrer von Nanjing Union haben sich wegen des Austauschs
kurzfristig im Ausland aufgehalten. Ein Sechstel der Lehrer haben
im Ausland studiert. Im Januar 2007 kehrte ein Doktor für
Theologie aus den USA zurück. Im Vergleich dazu haben alle
Lehrer der theologischen Seminare in Hongkong und Taiwan ausnahmslos
promoviert. Heute hat Nanjing Union fünf ausländische
Lehrer, darunter zwei aus den USA, zwei aus Kanada und einen aus
Deutschland.
Nach der Fertigstellung des neuen Campus in diesem Jahr wird
die Aufnahmekapazität des Theologischen Seminars Nanjing
Union von 170 gegenwärtig auf 500 Studenten erhöht.
Das stellt höhere Anforderung an die Lehrkräfte und
das Unterrichtsniveau. Gao Ying schenkt dem Aufbau des Lehrkörpers
größte Aufmerksamkeit. Ihr Ziel ist es, dass alle Lehrer
mindestens den akademischen Grad eines Magisters mitbringen. Einerseits
werden weiterhin Lehrer ausgewählt und zur Weiterbildung
ins Ausland geschickt. Andererseits wird der Austausch von Personal
auf verschiedene Art und Weise gefördert sowie die Lehrtätigkeit
und Forschung ständig intensiviert.
Zur Zeit ist die Gesamtstruktur des Lehrprogramms des Theologischen
Seminars Nanjing Union im Großen und Ganzen dem im Ausland
angeglichen. Anders als bisher, in den letzten Jahren wurde größerer
Wert auf wissenschaftlichen Unterricht gelegt, will man nun den
Schwerpunkt auf die Dienstleistungsaufgaben für die kirchlichen
Institutionen lenken. Dementsprechend wurde das Praktikum in der
Kirche wieder eingeführt, damit die Studierenden über
mehr praktische Erfahrungen verfügen. Gleichzeitig hat man
Grundkurse wie den Bibelunterricht verstärkt. Außerdem
wird das Seminar mehr Gewicht auf die Intelligenz der Studierenden
legen.
Was das Privatleben betrifft, scherzt Gao Ying, dass, wenn sie
selbst satt ist, die ganze Familie keinen Hunger mehr hat. In
ernsthaftem Ton sagt sie aber, dass es nicht ihr Plan war, ledig
zu sein. Weil ich 11 Jahre lang studiert habe und eine Pastorin
bin, ist es für mich nicht leicht, einen geeigneten Partner
zu finden.
In Bezug auf die Frage, wie man ein guter Pastor wird, sagt Gao
Ying etwas nachdenklich: Im US-amerikanischen Film The Miracle
Worker verliebt sich ein junger Mann in Helen Keller und macht
ihr einen Heiratsantrag. Dagegen treten die Eltern von Helen Keller
entschieden auf. Ihre Mutter meint, dass Helen einen Partner braucht,
der auf sein eigenes Ich verzichten muss, um ihr ganz Leib und
Seele zu widmen, weil sie eine ganz besondere Person ist. Das
könnte aber außer den Eltern kaum jemand tun. Als Pastor
soll man der Kirche ebenfalls ganz Leib und Seele widmen. Pastor
zu sein, ist nicht ein Beruf, sondern eine Wahl. Hält man
das für einen Beruf, ist es kaum möglich, immer weiter
zu gehen. Unterwegs wird man schon verlassen. Nichts Anderes ist
so wichtig, wie ein guter Pastor zu sein.
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