Buchbesprechung: Roman Ebene des weißen Hirsches
Von Shu Ping
Der Romantitel beinhaltet eines der wenigen Sinnbilder, die in
dem 572 Seiten starken, durchaus realistisch angelegten Roman
verwendet wurden. Nach einer seit Generationen überlieferten
Sage taucht in einer Ebene ein schneeweißer Hirsch
auf. Er hat eine zierliche Gestalt, ist flink und hüpft
so fröhlich, als ob er tanzen würde. Schwebend bewegt
er sich vom südlichen Hügel auf die weite Ebene, in
der er nach Lust und Laune spielt. Dort, wo er sich aufhält,
gedeihen die Bäume, blühen die Setzlinge, gibt es gute
Getreideernten und das Vieh wächst prächtig. Pest und
Seuche sind beseitigt und giftige Insekten ausgerottet. Alle Familien
leben in Frieden und Prosperität. Welch eine Blütezeit!
Das illusionäre, durch den weißen Hirsch
symbolisierte Glück, nach dem sich die Bewohner der Ebene
sehnen, ist schemenhaft und bricht angesichts der Realität
zusammen, denn in einer Welt, die als Unglück und Ungerechtigkeit
gesehen wird, kann Glück nur in der genauen Umkehrung der
Realität bestehen. (Wolfgang Bauer, China und
die Hoffnung auf Glück S 9) Als Gegensymbol zum weißen
Hirsch wird das zweideutige Sinnbild weißer Wolf
verwendet. Dieser frisst kein Fleisch und saugt nur Blut,
bereitet durch seine Anwesenheit den Dorfbewohnern schreckliche
Angst, wird mit der Räuberbande identifiziert und verweist
auf Verheerung und Zerstörung. Im Roman geht es allerdings
nicht um eine Auseinandersetzung zweier Welten, vielmehr wird
darin betont, welche beständige und gewaltige Kraft in der
Vorstellung vom weißen Hirsch wohnt, eine Kraft, mit der
die Menschen ihrem Schicksal trotzen.
Der Roman hat eine kunstvolle Darstellung einer historischen
Realität in einer Ortschaft in der Provinz Shaanxi im Nordwesten
Chinas zum Inhalt. Der zeitliche Erzählrahmen erstreckt sich
von der ausgehenden Qing-Dynastie im ersten Jahrzehnt des vorigen
Jahrhunderts bis zur Gründung des Neuen China, wobei historische
Exkurse und zeitliche Vorwegnahme eingebaut werden: Beispielsweise
wird darauf hingewiesen, dass der fiktionale Kreis Zishui, in
dem die Ebene des weißen Hirsches liegt, bereits im 4. Jahrhundert
vor unserer Zeitrechnung, nämlich vom Herrscher Xiaogong
(381 bis 338 v. u. Z.) des Königreichs Qin, eingerichtet
wurde, und in der Zeit des Großen Sprungs nach vorne
wurde die geglückte Kreuzung zwischen einem sowjetischen
und einem einheimischen Schwein vom Kreisvorsteher auf den ebenfalls
vieldeutigen Namen Schwarzer Hirsch getauft und zum
Anlass des Nationalfeiertages der Provinzregierung überreicht.
Aufgrund der tiefgreifenden historischen Einbettung wird das Leben
der Romanhelden Bai Jiaxuan und Lu Zilin in etwa einem halben
Jahrhundert erzählt. Der Handlungsverlauf und die Figurenkonstellation
spiegeln mittelbar oder unmittelbar umwälzende zeitgenössische
Ereignisse in China wider: den Sturz der Qing-Dynastie (16441911)
durch die von Sun Yatsen geleitete Revolution, die Bauernbewegung,
die Zusammenarbeit und Spaltung von Kuomintang (Guomindang) und
der KP Chinas im Ersten Revolutionären Bürgerkrieg,
die von der Roten Armee geführten Kriege und die Gründung
der Räterepublik im Zweiten Revolutionären Bürgerkrieg,
den mit dem hohen Geist vom weißen Hirsch geführten
Widerstandskrieg gegen den japanischen Angriffskrieg, den Befreiungskrieg
und die Gründung des Neuen China. Die Menschen sind mit historischen
Umwälzungen konfrontiert, bei denen manche zugrunde gehen
und manche überleben. Der Roman gilt in der Literaturkritik
zu Recht als heimliche Chronik der Nation.
Bai Jiaxuan und sein heimlicher Kontrahent Lu Zilin sind eigentlich
Gutsbesitzer. Sie werden aber nicht als skrupellose Ausbeuter
charakterisiert. Damit wird mit tradierten Stereotypen solcher
Romanfiguren in der modernen chinesischen Literatur gebrochen
und das Konzept des Klassenkampfes aufgehoben. Das Erzählen
ist auf der kulturhistorischen Ebene angesiedelt. Bai Jiaxuan
verkörpert Konfuzianismus und tritt für die patriarchalische
Sippenordnung ein. Seine Überzeugung von konfuzianischen
Kardinaltugenden und sein diesseitiges Vertrauen sind unerschütterlich.
Seine Tragik liegt in der Zeit, die sich stark verändert.
Oft ist er verwirrt und verstört. Ohne Kaiser, wie
kann man da in Zukunft leben? Jedoch gibt er nie auf, gnadenlos
die Sippenordnung aufrechtzuerhalten. Sein letzter Versuch, durch
eigene Bürgerschaft Heiwa, den Sohn seines Landarbeiters,
der mit seinem rebellischen Charakter nach schicksalsschweren
Windungen und Wendungen in seinem Leben schließlich als
Offizier der Kuomintang zur Volksbefreiungsarmee überlaufen
war, vor der Hinrichtung zu bewahren, scheitert an seinem Sohn,
dem neuen Kreisvorsteher: Vater, rede doch keinen Unsinn,
du verstehst die neue Politik der Volksregierung nicht.
Als Bai Jiaxuan die Schüsse vom Hinrichtungsplatz hört,
fällt er in Ohnmacht. Bis zum Romanschluss lebt zwar Bai
Jiaxuan immer noch, aber seine ideelle Welt ist zu Grab getragen.
Der Roman bekam nach seiner Veröffentlichung gute Kritiken,
wird als repräsentatives literarisches Werk der Ära
der Reform und Öffnung angesehen und wurde mit dem renommierten
Maodun-Literaturpreis ausgezeichnet.
Chen Zhongshi, Bailuyuan (Ebene
des weißen Hirsches), (xiaoshuozixuanji, changpianxiaoshuojuan),
Verlag Cangjiangwenyichubanshe 2004 Wuhan, ISBN 7-5354-2681-6,
572 Seiten.
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