Berliner
Schüler lernen gern Chinesisch
Von Susanne Buschmann
Nimen hao ma?, fragt Frau Musev die Schulklasse zur
Begrüßung. Die junge, dunkelhaarige Lehrerin spricht
mit heller, klarer Stimme, so dass ihre Schüler die Tonhöhen
der einzelnen Wörter leicht heraushören können.
Ich sitze zwischen den fünfzehnjährigen Jungen und
Mädchen der 9. Oberschulklasse in Berlin-Pankow und darf
im Chinesisch-Unterricht hospitieren. Es bereitet mir großes
Vergnügen, mitzuerleben, wie die jungen Leute sich mit großem
Ernst bemühen, auf die Fragen der Lehrerin die passenden
Antworten zu finden. Natürlich sind die Sätze, die sie
bilden, noch sehr einfach, haben sie doch erst vor einigen Wochen
mit dem Chinesisch-Lernen begonnen.
Zhe shi wo gege de shu, sagt einer der Jungen gerade.
Er fällt mir auf, nicht etwa, weil er kleiner ist als seine
Klassenkameraden, sondern vor allem, weil er sich meistens sofort
meldet und die richtigen Antworten weiß. Man merkt ihm die
Begeisterung am Lernen deutlich an.
Dass auch Frau Musev mit Freude bei der Sache ist, ist nicht
zu übersehen. Sie hat den Sprachunterricht in dieser 9. Klasse
an der Ossietzky-Oberschule erst im vergangenen September neu
übernommen. Aber sie ist nicht unerfahren in ihrem Fach.
Schnell wird mir klar, dass sie genau weiß, wie man die
für deutsche Schüler so fremdartige Sprache vermitteln
muss, um beim Lernen auch Freude und Spaß zu haben. Frau
Musev ist zwar im Unterschied zu anderen Chinesisch-Lehrern an
Berliner Gymnasien keine Muttersprachlerin. Aber sie ist eine
Sinologin, die sich ganz dem Unterricht der chinesischen Sprache
verschrieben hat, in der Vergangenheit für Erwachsene, jetzt
für Gymnasiasten.
Heute ist offenbar die Stunde der Wiederholung. Das mag mit meiner
Anwesenheit im Klassenzimmer zusammenhängen oder vielleicht
noch mehr mit der des Schuldirektors, der auch teilnimmt und sich
Notizen macht. So ist es kein Wunder, wenn ein bisschen Schüchternheit
und Verlegenheit unter den Schülern herrscht. Nachdem einfache
Fragen, in Pinyin-Umschrift an die Tafel geschrieben, beantwortet
wurden, gibt es nun eine Abwechslung. Frau Musev hält mehrere
Karten, die jeweils mit einem chinesischen Wort beschriftet sind,
in unregelmäßiger Reihenfolge in die Höhe. Richtig
gelesen müssen sie einen chinesischen Satz ergeben. Das ist
schon schwerer. Aber alle Schüler bewältigen
nach einigem Nachdenken auch diese Aufgabe gut.
Mir gefällt der Unterricht. Vor allem fällt mir auf,
dass die Schüler kaum im Chor zu sprechen haben, sondern
jeder einzelne muss zeigen, was er kann. Schließlich werden
einzelne nach vorn vor die Klasse gerufen, um nun selbst Lehrer
zu spielen. Ohne ein klein wenig Kichern geht das natürlich
nicht ab. Aber allen macht es Spaß, den eigenen Klassenkameraden
selbst ausgedachte Fragen auf Chinesisch zu stellen.
Ob sie wohl schon chinesische Schriftzeichen schreiben können,
frage ich in der Annahme, dass das Schreiben möglicherweise
erst später gelehrt wird. Aber nein! Solch einen Verdacht
muss man sofort widerlegen. Einer nach dem anderen, Jungen und
Mädchen, gehen zur Tafel und schreiben für mich die
schon gelernten Schriftzeichen, zwar noch langsam und ungelenk,
aber sie schreiben richtig und voller Stolz.
Dieses altehrwürdige Schulgebäude, denke ich dabei,
mit seiner imposanten Fassade und sogar einem Turm, hat bestimmt
schon hundert Jahre auf dem Buckel. Seine einstigen Gründer
konnten nicht vorhersehen, dass in seinen Mauern einmal Chinesisch
gelehrt würde.
Unwillkürlich muss ich an meine eigene Schulzeit denken,
die fast ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Ich war von
dem brennenden Wunsch erfüllt, unbedingt Chinesisch zu lernen.
Ich wollte über die wie mir schien leichten
europäischen Sprachen hinaus Neues entdecken. Chinesisch
war für mich eine Herausforderung. So wurde ich an meiner
Oberschule rasch bekannt wie ein bunter Hund. Lehrer
wie Schüler schüttelten den Kopf über meinen extravaganten
Wunsch. Ich beneide die jungen Leute, neben denen ich jetzt sitze.
Für sie ist es fast eine Selbstverständlichkeit, in
der Schule Chinesisch zu lernen. Darüber hinaus stehen ihnen
vielfältige Möglichkeiten offen, China und seine Kultur
kennen zu lernen, bis hin zum Schüleraustausch. Sie werden
sicherlich auch, wie ihre Mitschüler der 10. Klasse, die
gerade einer Schule in Beijing einen Besuch abstatten, die Gelegenheit
für eine Reise nach China bekommen.
Die Jungen und Mädchen in Frau Musevs Klasse gehören
zu jenen Oberschülern an zehn Berliner Gymnasien, die Chinesisch
als 3. Fremdsprache gewählt haben. Von den drei zur Auswahl
stehenden Wahlfächern Technik/Naturwissenschaften, Französisch
oder Chinesisch haben sie sich für das letztere entschieden.
Sie können sich in dieser Sprache auch im mündlichen
Abitur prüfen lassen. Diese Möglichkeit besteht in Berlin
seit dem Jahr 2003.
Frau Musevs Schüler haben allerdings noch einen weiten Weg
bis zum Chinesisch-Abitur vor sich. Zunächst gilt es, das
Gefühl für die so uneuropäische fremde
Sprache zu entwickeln, die Pinyin-Umschrift zu beherrschen, das
Sprechen und Schreiben zu üben und natürlich auch Vokabeln
zu lernen. Allerdings lernen die Schüler bis zum Abitur nur
etwa 700 bis 800 Zeichen. Ich wollte anfangs meinen Ohren nicht
trauen, als ich diese Zahl hörte. So wenig? Aber bei näherer
Betrachtung werden die Ursachen für diese scheinbar geringe
Zeichen-Anzahl sichtbar: Der wöchentliche Chinesisch-Unterricht
umfasst nur zwei bis drei Unterrichtstunden. Diese Sprache ist
nur ein Wahlfach und kann auf dem Stundenplan neben
den vielen Pflichtfächern nur geringen Raum einnehmen. So
verfügen die Jungen und Mädchen in der Tat nicht über
die Zeit, die erforderlich wäre, um ein ebensolches Niveau
der Sprachbeherrschung zu erreichen wie etwa im Englischen. Wichtige
Schwerpunkte des Unterrichts liegen daher auf der Wiederholung
und der Vermittlung von Kenntnissen über die Grundstruktur
der chinesischen Sprache. Immerhin, denke ich, als ich damals
mein Sinologie-Studium an der Universität begann, besaß
ich nicht einmal solche Grundkenntnisse.
Warum lernt ihr eigentlich Chinesisch?, frage ich
die Jungen und Mädchen zum Schluss. Der Junge mit den flinken
Augen antwortet wieder als erster. Er erhoffe sich von den chinesischen
Sprachkenntnissen bessere Berufs- und Jobchancen, sagt er, da
sich doch jetzt die Wirtschaftsbeziehungen mit China immer weiter
vertiefen. Die anderen nicken zustimmend. Eines der Mädchen
hebt zaghaft den Finger: Für mich ist Chinesisch-Lernen
eine Herausforderung. Ich will wissen, ob Chinesisch wirklich
so schwer ist, wie man sagt. Ich muss lächeln, erinnern
mich ihre Worte doch sehr an meine eigene Jugend. Und,
frage ich zurück, ist es so schwer? Jetzt lacht
sie: Nein, Chinesisch kann man lernen!
Und der Junge fügt hinzu: Meine Eltern sind sehr stolz
auf mich, weil ich Chinesisch lerne!
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