Ausländischer Einfluss auf die chinesische Literatur, Teil I

Von Qin Gong

Meisterwerke der Weltliteratur, klassische oder zeitgenössische, sind seit Beginn des 20. Jahrhunderts in chinesischer Übersetzung verfügbar. Sie übertreffen die Übersetzungen chinesischer Literatur bei weitem. Literatur aus dem Westen hat ohne Zweifel einen spürbaren Einfluss auf die moderne chinesische Literatur und darstellende Kunst. Die folgenden ausländischen Schriftsteller und Dramatiker aus Europa werden von chinesischen Literaten und Literaturliebhabern als führende Meister der ausländischen Literatur angesehen.

William Shakespeare (1564–1616): Englischer Dramatiker und Poet

Shakespeare wurde zunächst 1856 durch die Arbeit englischer Missionare in China bekannt. Im Jahr 1877 wurde sein Name erstmals in Chinesisch notiert, und zwar im Tagebuch Guo Songtaos, eines Diplomaten der Qing-Dynastie (1644–1911). „Geschichten von Shakespeare“, zusammengestellt von Charles und Mary Lamb, war die erste chinesische Übersetzung der Werke des Dichters, die von Liang Qichao, einem Gelehrten der späten Qing-Dynastie, vorgenommen wurde. Es gibt nun mindestens 58 chinesische Versionen der Übersetzungen der Werke Shakespeares, darunter vier Versionen der vollständigen Werkausgabe.

Shakespeares Theaterstücke wurden erstmalig 1902 aufgeführt. Sie sind seitdem in ihrer original englischen Form und nach Bearbeitung auch als chinesische Dramen und lokale chinesische Opern aufgeführt worden. Shakespeare aufzuführen, ist ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung bei jedem Schauspielkurs. Shakespeare zu spielen, wird als ultimativer Test für jede Schauspielgruppe betrachtet. Die Charaktere in seinen bekanntesten Werken – Hamlet, Othello, Macbeth, King Lear, Romeo und Julia – sind chinesischen Lesern und Theaterbesuchern so bekannt wie diejenigen der chinesischen Klassiker, „Die Räuber vom Liangshan-Moor“ und „Der Traum der Roten Kammer“.

Victor Hugo (1802–1885): Französischer Romancier

Victor Hugos Werke wurden erstmals im Jahr 1901 ins Chinesische übersetzt. 1903 übersetzte der bekannte chinesische Schriftsteller Lu Xun einen Teil des Meisterwerkes „Les Misérables“. Seitdem sind viele weitere Romane, Gedichte und Stücke des großen französischen Autors ins Chinesische übersetzt worden. Der Geist der Romantik, von dem Victor Hugos Werke durchtränkt sind, trieb die literarische Revolution voran, die Chinas 4. Mai-Bewegung 1919 folgte. Das Jahr 1935 markierte den 50. Todestag Victor Hugos und die Hundertjahrfeier der französischen Romantik. Als Konsequenz wurde eine Reihe von Hugos Werken übersetzt. Das humanistische Konzept, welches er ausdrückt, besonders in „Les Misérables“, wurde von vielen hervorstechenden chinesischen Schriftstellern bewundert und nachgeahmt. Zwei von ihnen, Guo Moruo und Ba Jin, wurden später führende chinesische Poeten und Schriftsteller. Guos Poesie, am bemerkenswertesten „Qu Yuan“ und „Göttin“, war stark von Hugo beeinflusst und verehrte dessen Verfechtung literarischer Freiheit. Die greifbare Leidenschaft der Romane und Gedichte aus der Feder Ba Jins ist ebenso der Wirkung der Arbeiten von Hugo zu verdanken. Das berühmteste Werk Victor Hugos, der Roman „Notre-Dame de Paris“, wird aufgrund seiner eloquenten Ausdrucksweise und seiner Dialektik von Gut und Böse gerühmt. Doch erst in den späten 1980er Jahren wurden sein Roman „Quatre-Vingt-Treize“ und der Geist des Humanismus und der Toleranz, die darin beschrieben werden, von einem breiten Leserkreis anerkannt, was mit seinen anderen bekannteren Werken schon längst geschehen war.

Hans Christian Andersen (1805–1875): Dänischer Autor von Märchengeschichten

Andersen hatte zu Lebzeiten keine Möglichkeit, nach China zu kommen. Aber in dem halben Jahrhundert nach seinem Tod zogen die von ihm geschriebenen Märchen in China eine breite Leserschaft – Erwachsene genauso wie Kinder – an.

Es war Zhou Zuoren, der diese Welle des Interesses an Kindergeschichten anstieß. 1912 veröffentlichte Zhou seinen Artikel „Über Märchen“, der sich mit den Werken von Andersen auseinandersetzte. Die Flut von darauf bezogenen Artikeln, die dem folgten, regte viele Forschungsarbeiten an, die sich mit dem dänischen Schriftsteller und den Gebrüdern Grimm beschäftigten. Die Werke der beiden deutschen Autoren wurden wenige Zeit später übersetzt.

1925 veröffentlichte der Chefredakteur der Monatszeitschrift „Monats-Roman“ in Gedenken an den 120. Geburtstag und den 50. Todestag von Andersen zwei Sonderausgaben, die Andersens Geschichten vorstellten. Von da an sind die dänischen Märchen ein ständiger Begleiter des chinesischen Literaturunterrichts. Die Geschichten von Hans Christian Andersen sind den chinesischen Kindern und Erwachsenen so bekannt wie sonst auf der ganzen Welt.

Henrik Ibsen (1828–1906): Norwegischer Dramatiker und Poet

Vor der Neuen Kulturbewegung (1915–1919) war Ibsen nur in Kreisen chinesischer Intellektueller bekannt. Am 15. Juni 1918 widmete die revolutionäre Monatszeitschrift „Neue Jugend“ dem norwegischen Schriftsteller eine Sonderausgabe. Im Oktober des gleichen Jahres wurde „Ein Puppenhaus“ von Chen Jia übersetzt und von der Shanghai Commercial Press veröffentlicht. Zu dieser Zeit wurde sein Werk für alle zugänglich gemacht. Ausgewählte Werke von Ibsen und Forschungen darüber wurden veröffentlicht und immer wieder nachgedruckt.

Am 5. Mai 1923 wurde das Bühnendrama „Nora“, welches auf dem Werk „Ein Puppenhaus“ basiert, von Schülerinnen einer Beijinger Mädchenschule aufgeführt. Dies war die erste, wenn auch nicht erfolgreichste Aufführung eines Schauspiels von Ibsen in China.

Am 20. März 1928 führte die Neue Nankai’er Schauspieltruppe in Tianjin das Stück „Der Volksfeind“ unter dem Namen „Unfügsamer Arzt“ auf. Am 17. Oktober des gleichen Jahres brachte die Neue Nankai’er Schauspieltruppe „Ein Puppenhaus“ auf die Bühne. Vier Aufführungen von „Nora“, unter der Regie von Zhang Min, fanden vom 1. bis zum 3. Januar 1935 im Taotao Schauspielhaus in Nanjing in der Provinz Jiangsu statt. Sie waren ein großer Erfolg. Im Juni des gleichen Jahres wurde „Nora“ noch einmal von der Shanghaier Vereinigung für Amateurschauspieler im Jincheng Theaterhaus auf die Bühne gebracht. Dies war die erste öffentliche Aufführung dieser Gruppe und ebenfalls ein ungeheurer Erfolg. Das Jahr 1935 kann man durchaus als das Jahr von Nora bezeichnen. Die chinesische Jugend war zu dieser Zeit von dem deutlichen Einsatz Ibsens für Freiheit und Individualität ergriffen. Sein Einfluss war keineswegs nur auf Literaturzirkel beschränkt; Nora wurde zur Symbolfigur der Emanzipation der Frauen. Viele junge Chinesinnen folgten – inspiriert von ihrem Geist – Noras Beispiel und lösten sich von den feudalen Fesseln, indem sie der Sklaverei der Ehe entflohen.


 
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