Entwicklung im Wandel des Lebens

– Die moderne chinesische Literatur im Überblick

Von Zeng Zhennan

Die moderne chinesische Literatur hat bis heute – von 1949 berechnet – bereits 58 Jahre hinter sich. Sie ist eine Literatur im Osten der Welt, die im historischen Wandel des Lebens der Menschen fortschreitet und starke Vitalität aufweist. Sie hat in ihren verschiedenen Entwicklungsphasen eine große Anzahl vorzüglicher Autoren und Werke hervorgebracht und wirkt sich nachhaltig auf das geistige Leben der Menschen aus.

Das wichtigste und elementare Merkmal der modernen chinesischen Literatur besteht darin, dass ihre Entwicklung im Einklang mit dem Lebensprozess der Menschen in China steht. Damit lässt sie sich auch in die gegenwärtige Weltliteratur einreihen. Um sie kennen zu lernen und zu verstehen, ist es der angemessene Weg, einige repräsentative Werke zu lesen. Durch die Lektüre gelangt man selbst zu Erkenntnissen und macht ästhetische Erfahrungen.

Ich persönlich habe in meinem Jugendalter meine Vorliebe zur modernen chinesischen Literatur entwickelt und eine Vielzahl literarischer Werke gelesen. Etwa zu Beginn der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts erschien eine Reihe von Romanen, die später populär wurden. Meine Schulfreunde und ich haben eifrig Sun Lis „Der Sturm“, Liu Qings „Bahnbrechende Unternehmung auf dem Land“, Yang Mos „Lied der Jugend“, Qu Bos „Schneebedeckte Wälder“, Liang Bings „Die Rote Fahne“, Li Keqins „Die Rote Sonne“ und Luo Guangbings „Roter Fels“ gelesen. Wir waren einfach fasziniert. Diese Werke haben im Wesentlichen zwei Aspekte zum Inhalt: Zum einen wird der große, mitreißende Prozess der chinesischen Revolution unter verschiedenen Gesichtspunkten beschrieben, das Leben und die Psyche der Menschen werden charakterisiert, zum anderen werden verschiedene Gebiete Chinas, die sich vor einem großen Aufbau befanden, und die Begeisterung der Menschen gekennzeichnet.

Diese Werke eröffneten uns eine Welt, in der das Leben frisch, weitgefächert und betörend schön ist, und forderten uns auf, uns für den Enthusiasmus des Lebens einzusetzen. Wir betrachteten sie als „Lehrbücher fürs Leben“. Aus unserer Sicht tragen diese hervorragenden Autoren den Titel „Gestalter der Seele der Menschen“. Kunstvoll berührten sie leicht unsere Seele und brachten sie zum Schwingen. Sie haben unsere geistige Welt auf eine neue Stufe angehoben, damit wir zum bewussten Schöpfer des neuen Lebens wurden.

Ich denke, dass viele meiner Zeitgenossen ähnliche Leseerlebnisse hatten. Die im Jugendalter entstandene Faszination wirkt im Leben unserer Generation fort. Ich kann mich daran erinnern, wie ich nach der „Kulturrevolution“ (1966–1976) im Jahr 1978 die Prüfung für Postgraduierte ablegte. Das Thema des Aufsatzes war „Mein Lieblingsbuch“. Ohne zu zögern, habe ich meine Leseerlebnisse vom Roman „Bahnbrechende Unternehmung auf dem Land“ beschrieben. Ich habe geschrieben, dass ich beim Schein der Öllampe in den Roman so sehr versunken war, dass ich nicht merkte, dass meine Haare angebrannt waren. Ich war aufgewachsen in einer Kreisstadt und habe durch den Roman Psyche und Handeln der chinesischen Bauern, die in den 50er und 60er Jahren die ländlichen Gebiete zu verändern versuchten, verstehen können.

In jeder historischen Phase hat das gesellschaftliche Leben der Menschheit zwei Seiten: die positive und die negative. Das trifft auch auf das gesellschaftliche Leben in China vor der „Kulturrevolution“ zu. In dieser Zeit war die Widerspiegelung des Lebens in der Literatur im Großen und Ganzen eher durch Einseitigkeit und Oberflächlichkeit gekennzeichnet. Da versuchte die Literatur stets, von der positiven Seite ausgehend die scheinbar reißende Strömung auf der Oberfläche des Lebens zu zeichnen, den Menschen pädagogischen Impetus zu geben, Lebensträume zu flechten und inhaltsleere Loblieder zu singen.

Als die ganze Gesellschaft in unrealistischen Träumen schwelgte und die Menschen vom sinnlosen „revolutionären“ Stolz und Überheblichkeitsgefühlen beherrscht wurden, waren literarische Träume auch Schäume. Obwohl eine kleine Anzahl nüchterner Schriftsteller etwa im Jahr 1957 und im Jahr 1960 versuchten, das wahre Leben aufzuzeigen, tief sitzende und komplexe Widersprüche im Leben darzustellen, ihre leise, jedoch sorgenvolle und zornige Stimme, die im krassen Unterschied zu den Lobliedern stand, zu artikulieren, wurden sie schnell als abtrünnig abgestempelt und vom Donner der Verurteilung übertönt. Jeder Versuch, sich den unrealistischen Träumen zu entziehen, scheiterte. An seine Stelle traten noch rauschhaftere und groteskere Traumbilder.

Die Einseitigkeit und die Homogenität der damaligen Literatur steht in diametralem Gegensatz zur Komplexität und Vielfältigkeit des Lebens. Da das Leben selbst in „lichte“ und „revolutionäre“ Ideale gehüllt war, waren sich die Menschen dieses Gegensatzes nicht bewusst. Aus diesem Grund ging die Literatur hoffnungslos und tragisch unter, so dass sie in der „Kulturrevolution“ die Pseudoromantik zu betrügerischem Zweck betrieb.

Die „Kulturrevolution“ war für China eine beispiellose nationale Katastrophe, führte aber das Erwachen der Nation herbei und erweckte deren Bewusstsein in einem früher nicht gekannten Ausmaß. Die Bewegung der Befreiung der Gedanken, die im Jahr 1978 begann, ging schnell über jegliche Vorstellung hinaus und entwickelte sich zum Prozess der rationalen Reflexion und Überprüfung sämtlicher „revolutionärer“ Werte in der chinesischen Vorgeschichte der Gegenwart und auch zur Tendenz des Lernens von der modernen Zivilisation und Kultur der Welt. Die Bewegung der Befreiung der Gedanken dauert bis zur Gegenwart an und umfasst die Aufstellung des wissenschaftlichen Entwicklungskonzeptes, des Ziels des Aufbaus einer harmonischen Gesellschaft und die Formulierung des Konzepts, dass der Mensch in den Mittelpunkt gestellt wird. Dies alles sollte als Weiterentwicklung und Vertiefung der Bewegung der Befreiung der Gedanken betrachtet werden.

Dies alles hat auch die Beziehungen zwischen Literatur und gesellschaftlichem Leben stark verändert und gewährt der Literatur größeren Spielraum für Freiheit und Initiative, damit das Leben der Menschen durch die Literatur abgebildet wird. Die finstere Seite des Lebens gilt der Literatur nicht wie vor der „Kulturrevolution“ als Tabu. Auch die literarischen Werke, die die fortschrittliche und positive Seite des Lebens erzählen, haben nun einen anderen Tenor als die literarischen Werke vor der „Kulturrevolution“. Während man scharfsinnig die fortschrittlichen und positiven Elemente entdeckt, vermeidet man die schweren Dinge, die komplizierten Widersprüche und die tragischen Elemente in einer positiven Entwicklung nicht.

Beispielsweise wird in Zhang Jies „Schwere Flügel“ (bereits im Deutschen bei Carl Hanser erschienen) das Leben zur Zeit der Reform beschrieben. Bei der Schilderung der positiven Entwicklung des Lebens werden auch Leiden und Hoffnung der Chinesen im gesellschaftlichen Wandel beschrieben. Das Licht der Hoffnung dringt durch die ernste und nüchterne Reflexion der Realität. Das ist die Hoffnung der Menschen, die mutig genug sind, dem Leben unmittelbar gegenüberzustehen. Der Roman erreicht eine gedankliche Tiefe, die die vor der „Kulturrevolution“ geschaffenen literarischen Werke, die auch die positive Seite des gesellschaftlichen Wandels beschrieben, nicht kannten.

Die Kenntnisse und Verständnisse des Lebens von Schriftstellern haben sich stark verändert, sie befreiten sich von den früheren engen trügerischen Traumbildern und richteten ihr Augenmerk auf die breite Realität des Lebens. Thematische Tabus wurden abgeschafft, ihr damit verbundenes Leiden wurde abgeschüttelt. Daraus entwickelt sich eine stoffliche und thematische Vielfalt, die es in der Literatur vor der „Kulturrevolution“ nicht gab. Etwa zu Beginn der 80er Jahre fand, angetrieben von der Bewegung der Befreiung der Gedanken, die Restauration der literarischen Tradition des chinesischen Realismus statt. Dadurch erreicht die chinesische Literatur eine beispiellose Blüte, die einen Höhepunkt der Literatur in der neuen Periode darstellt. Der große historische Wandel des Lebens des Volkes durchtränkte alle Gattungen der Literatur, die nun ihre starke Stimme artikulierte. Damals vereinigten sich die objektiven Erfordernisse der Zeit, das Verlangen des Lesers und die Passion der Schriftsteller zu einer Grundlage des Literaturschaffens, auf der das unvergessliche Kapitel der modernen chinesischen Literatur geschrieben wurde.

Zu jener Zeit habe ich eine große Anzahl der gegenwärtigen literarischen Werke gelesen, was sich entscheidend auf meine Berufswahl des Literaturkritikers auswirkte. Damals studierte ich als Postgraduierter an der Abteilung für Chinesische Philologie der Peking-Universität die Theorie von Literatur und Kunst als Hauptfach und verwendete viel Zeit auf die Lektüre der chinesischen gegenwärtigen Literatur. Da spürte ich eine starke, nahezu unwiderstehliche Kraft der Erschütterung und Anziehung der literarischen Werke, die unmittelbar aus der Tiefe des Lebens entstanden. Nicht die literarischen Kunstformen, sondern das erzählte siedende Leben, der gezeichnete Pulsschlag der Zeit und ausgedrückte neue Gedanken und Gefühle bewegten mich. Mag sein, dass die künstlerischen Ausdrucksformen der literarischen Werke noch nicht ausgereift sind und ihre Vollendung noch nicht erreicht haben, aber die hohe Stimmung und der frische Impuls bringen einen zum Handeln – sich für den großen Wandel des gesellschaftlichen Lebens einzusetzen.

In den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde der Strom des Lebens ruhiger. Für das Literaturschaffen ist ein weiter Horizont bereits entstanden. Den Romanciers, die die gesellschaftlichen Phänomene und die vollständigen Schicksale der Menschen sowie den in verschiedenen Perioden vorherrschenden Zeitgeist in großen Zusammenhängen darstellen wollten, wurden günstige objektive Bedingungen zuteil, unter denen sie gelassen ihrem literarischen Schaffen nachgehen konnten. Dadurch entstand eine lang andauernde Blütezeit der Gattung Roman. Die realistische Tradition fortführend, die durch Liu Qings „Bahnbrechende Unternehmung auf dem Land“ gekennzeichnet ist, haben die Schriftsteller den chinesischen literarischen Realismus weiterentwickelt. Die repräsentativen Werke sind die Romane „Die einfache Welt“ und „Ebene des weißen Hirsches“, die jeweils von Lu Yao und Chen Zhongshi geschaffen wurden.

Lu Yaos „Die einfache Welt“ entrollt ein historisches Bild vom Wandel des gesellschaftlichen Lebens in China von 1975 bis 1985. Die Geschichte hat sich im Vorort einer Stadt im Nordwesten zugetragen. In Zuge der Urbanisierung und Industrialisierung gehen die chinesischen Bauern als Wanderarbeiter in die Stadt. Dabei zeichnet sich die Tendenz ab, das Schicksal individuell zu gestalten. Die Romanhelden Sun Shao’an und Sun Shaoping entscheiden sich für einen bestimmten Lebensweg und ändern damit auch ihr Leben. Mit Scharfsinn erblickt der Autor darin die allgemeine und historische Bedeutung dieser Änderung und bringt sie durch kunstvolle Gestaltung zur Anschauung.

Chen Zhongshis Roman „Ebene des weißen Hirsches“ erschien erstmals 1993. Der Roman beschreibt historische Umwälzungen auf der Lößebene im Nordwesten Chinas, in denen die patriarchalische Sippenordnung zugrunde geht. Die Romanhelden Bai Jiaxuan und Lu Zilin werden eindrucksvoll als Gutsbesitzer charakterisiert und die tragischen Schicksale der Menschen in ihrer Umgebung, ihrer Kinder, Landarbeiter und Diener werden im Roman beschrieben. Dabei wird die Tendenz der geschichtlichen Entwicklung aufgezeigt. Die Besonderheit dieses Romans besteht darin, dass er den etablierten Rahmen der Erzählung vom Leben auf dem Land gesprengt und mit den alten Gedankengängen der Erzählung gebrochen hat. Die kunstvolle Erzählung macht einen tiefen und unvergesslichen Eindruck auf die Leser. Vom Roman „Bahnbrechende Unternehmung auf dem Land“ bis zu den Romanen „Die einfache Welt“ und „Ebene des weißen Hirsches“ wird ein großer Sprung in Tiefe und Breite bei der Widerspiegelung des Lebens der Menschen vollzogen. Diese Werke sind bedeutende Fortschritte der gegenwärtigen chinesischen Literatur bei der Darstellung des Lebens der Menschen im historischen Wandel.

Nach dem Eintritt ins 21. Jahrhundert entwickelt sich die Produktivität des literarischen Schaffens weiter, dabei tritt an die Stelle der Charakterisierung der Seele der Menschen die Beschreibung des Alltagslebens. Die Literatur, die einst die Seele der Menschen zum Schwingen brachte und ihnen das Leben begreifbar machte, gehört im heutigen Konsumzeitalter zu den Konsumgütern.

Dies versetzt dem geistigen Gehalt der Literatur einen fatalen Schlag. Die Schriftsteller denken beim Schaffen oft nicht mehr an den geistigen Gehalt der Werke, manche Schriftsteller wollen mit ihren Werken nur der allgemeinen Unterhaltung der Massen dienen. Die Höhe der Auflage ist in gewissem Grad das Kriterium zur Beurteilung der Bücher geworden. Es gibt zwar Schriftsteller, die Literatur als Hort der geistigen Welt verteidigen, aber die Wirkung ihrer Werke auf die Leser wird immer geringer.

Zeng Zhennan ist Forscher des Instituts für Literatur der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften.


 
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