Erhält sich China seine literarische Wirkung?
Von Luo Yuanjun
Dass China eine wichtige Position in der Weltliteratur einnimmt,
ist unstrittig. Chinas gewaltige Schatzkammer inhaltsreicher und
vielfältiger Literatur reicht mehr als 2000 Jahre zurück;
klassische Werke der chinesischen Literatur sind auch durch bekannte
Meister der Literatur anderer Länder lange in tiefer Hochachtung
gehalten worden.
In der ganzen Welt haben gefeierte Schriftsteller von der Inspiration
berichtet, die sie aus der chinesischen Literatur gezogen haben.
Der große deutsche Meister Johann Wolfgang von Goethe ist
so ein Beispiel. Er las Werke aus China und lernte, chinesische
Schriftzeichen zu schreiben. Einige seiner Gedichte schrieb er
motivisch nach den chinesischen Klassikern. Luis Borges ist argentinischer
Poet und ein weiterer Liebhaber der chinesischen Literatur. Er
ist zugleich Essayist, Allegorist und Verfasser von Kurzgeschichten,
seine Werke zählen zu den klassischen Werken des 20. Jahrhunderts.
Luis Borges war besonders bewandert in Bezug auf den Roman Liaozhai
Zhiyi (Seltsame Geschichten aus einem sorglosen Atelier).
Der Einfluss der chinesischen Klassik ist in seinem Werk offenkundig.
[Liaozhai Zhiyi ist eine Sammlung von ungefähr
500 Erzählungen von Übernatürlichem, die Pu Songling
(16401715) verfasste. Seine mysteriösen, Fabel-ähnlichen
Geschichten waren eigentlich eine an die damalige feudale Gesellschaft
gerichtete gleichnishafte Kritik. Durch sie deckte Pu Songling
soziale Ungerechtigkeiten auf und drückte die Hoffnungen
der breiten Massen aus.]
Historische Gegebenheiten haben verhindert, dass Chinesisch
wie Englisch zu einer weltweit vorherrschenden Sprache
geworden ist. Das hat den Literaturaustausch zwischen China und
anderen Ländern behindert. Aber es hat keineswegs die literarische
Wirkung Chinas gemindert. In dieser Hinsicht wurde dessen Status
jahrhundertelang nicht in Frage gestellt, bestätigt
Tan Yuanheng, ein Professor an der Südchinesischen Universität
für Technologie.
Es gibt allerdings andere Meinungen darüber, wie bzw. ob
sich China seine Stellung als Land weltweit anerkannter Literatur
bewahren kann. Dazu sagt der bekannte Schriftsteller Wang Meng,
dass China in der Tat dieser Reputation würdig ist. Seine
Meinung basiert auf der Quantität von Literaturmagazinen,
die in China publiziert werden die höchste Anzahl
weltweit und den immensen Verkaufszahlen von literarischen
Werken. China publiziert pro Jahr etwa 500 Erzählungen und
Romane.
Yang Kuanghan, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für
Literatur der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften,
stimmt dem Argument Wang Mengs zu. Er betont, dass seit der Gründung
der Volksrepublik China im Jahre 1949 die Anzahl und Vielfalt
der literarischen Werke, die auf dem chinesischen Festland veröffentlicht
wurden, diejenige der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
weit übertreffen. Auch die Leserschaft für Literatur
ist so groß wie nie zuvor.
Andere sind weniger begeistert von der zeitgenössischen
chinesischen Literatur. Manche Kritiken, die hauptsächlich
aus Übersee stammen, sagen, dass es nur wenige gefeierte
Schriftsteller und Werke in der zeitgenössischen chinesischen
Literatur gibt. Andere glauben, dass die Leserschaft chinesischer
Literatur zurückgeht und es den heutigen Schriftstellern
an literarischem Geist fehlt.
Die Ansicht, dass es nur wenige gefeierte zeitgenössische
chinesische Literaturschaffende gibt, hat vielleicht mit einem
divergierenden Verständnis von dem zu tun, was für Literatur
konstitutiv ist. Aber der Grund für die kleine Anzahl gefeierter
Literaten ist der Mangel an Übersetzungen chinesischer literarischer
Werke, ein Hinweis auf mehr oder weniger technische Barrieren
für den Literaturaustausch. Die vorherrschende Ansicht unter
den Herausgebern ist, dass der Mangel an Fachwissen und speziellen
Kenntnissen bei Übersetzungen das größte Hindernis
für den Verkauf von Lizenzrechten ins Ausland darstellt.
Genauer gesagt, bildet der Mangel an interkulturellen Kenntnissen,
also Kenntnissen über die chinesische Kultur und die Kultur
des Landes der Zielsprache bei den Übersetzern das Haupthindernis
für einen internationalen Erfolg chinesischer Literatur.
China verkaufte auf der Frankfurter Buchmesse 2006 1936 Lizenzen
ins Ausland und kaufte im Gegenzug 1254 Lizenzen. Dies ist das
erste Mal, dass beim Handel mit Lizenzen eine positive Bilanz
erzielt werden konnte. Bei dem Lizenzverkauf ins Ausland handelt
es sich jedoch um Nachschlagewerke und traditionelle Klassiker.
Der Anteil der zeitgenössischen Literatur ist eher gering.
Das Problem ist, dass die meisten Leser im Ausland weniger
an chinesischer Literatur denn an China als Ganzem interessiert
sind. Es gibt im Ausland keine spezielle Leserschaft für
chinesische Literatur, sagt Professor Zhang Yiwu von der
Peking-Universität.
Die Ansicht, dass die Leserschaft von Literatur schrumpft, basiert
auf der kleinen nationalen Auflage von Zeitschriften zur Belletristik.
Zong Renfa, Chefredakteur des Magazins Writer, erklärt:
Dies ist ein altes Problem für Magazine zur Belletristik,
besonders jetzt, wo die Leser so viele Möglichkeiten haben.
Es liegt auf der Hand, dass die Leute verschiedene Zeitschriften
lesen wollen. Wenn ein Magazin, welches sich mit Literatur befasst,
heutzutage 10 000 bis 20 000 Leser hat, dann ist das schon gut.
50 000 wären in der Tat sehr gut.
Obgleich die Leserschaft von Literatur-Magazinen klein ist, heißt
dies nicht unbedingt, dass das Interesse schwindet. Es muss daran
erinnert werden, wie viele zusätzliche Zugangsmöglichkeiten
zu literarischen Werken es seit der Einführung des Internets
gibt. Internetnutzer können aus einem immensen Angebot wählen.
Dies ist ein Grund, warum die Auflage gedruckter Magazine sinkt.
Im Allgemeinen bezieht sich der Geist der Literatur
auf die Verpflichtung, die Komplexität des menschlichen Wesens
und der menschlichen Beziehungen darzustellen, und das Wahre,
das Gute und das Schöne in der Menschheit durch eine
rationale und dennoch tiefsinnige Sprache wachzurufen. Einige
beklagen sich aber, dass die Aufgabe der Literatur und deren ästhetische
Gesichtspunkte in einer Zeit der Jagd nach kommerziellem Erfolg
schnell an Bedeutung verlieren.
Der Mangel an geistvoller Literatur ist direkt verbunden mit
den sozialen Veränderungen. In der Zeit des Wandels kommt
eine spontane und wuchtige neue Kultur in Mode. Die Literatur
von solch einer Fastfood-Kultur ist zwangsläufig
pragmatisch und vulgär, ohne erzieherische Ästhetik.
Wenn dieser soziale Wandel erst einmal vollzogen ist, wird es
eine ungekünstelte literarische Renaissance geben.
Unzweifelhaft gibt es Probleme in der zeitgenössischen chinesischen
Literatur, dennoch gibt es Möglichkeiten der Entwicklung.
Der soziale Wandel hat einen unschätzbaren Wert für
die heutigen Schriftsteller. Die Tiefe und die Vielfalt der geistigen
Welt, die sich dabei herausbildet, stellen eine unerschöpfliche
Quelle für literarische Kreativität dar. Von diesem
Standpunkt aus bin ich von der Entwicklung der zeitgenössischen
chinesischen Literatur überzeugt, sagt Zhang Mengyang
vom Institut für Literatur der Chinesischen Akademie der
Sozialwissenschaften.
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