Der Kampf um die Rechte der Fahrradfahrer
Von Lu Rucai
Seit jeher ist China als Land der Fahrräder
bekannt. Diese Bezeichnung scheint jedoch heutzutage den realen
Verhältnissen in China kaum noch zu entsprechen. Im Vergleich
zum rasch wachsenden Bestand von Kraftfahrzeugen sinkt der Bestand
von Fahrrädern von Jahr zu Jahr.
In Großstädten, in denen immer öfter Verkehrsstaus
auftreten, beginnt die Regierung, großen Wert auf das umweltfreundlichste
und günstigste Fortbewegungsmittel, das Fahrrad, zu legen.
Doch die Begeisterung des Durchschnittsbürgers
für Privatautos steigert sich ständig. Es ist daher
ein dringend zu lösendes Problem, wie man die Stadtbewohner
zurück in den Fahrradsattel bringen kann.
Autofahren ist erste Wahl
Zhang Hui ist kaufmännischer Angestellter einer französischen
Firma in Beijing. Während des Anfang November 2006 in Beijing
abgehaltenen Beijinger Gipfeltreffens des Forums für Chinesisch-Afrikanische
Kooperation verzichtete er, einem Aufruf der Stadtregierung entsprechend,
darauf, mit dem Auto zu fahren, und fuhr mit dem Fahrrad zur Arbeit.
Wenn ich mit dem Auto zur Arbeit fahre, gehe ich um sieben
Uhr morgens von Zuhause weg. Unterwegs brauche ich mindestens
eine Stunde. Mit dem Fahrrad mache ich mich eine halbe Stunde
später auf den Weg und komme vorzeitig bei der Firma an.
Dass er mit dem Fahrrad schneller in der Arbeit ist als mit dem
Auto, wundert Zhang Hui sehr.
Statistischen Angaben der Beijinger Verkehrsbehörden zufolge
erreicht das Tempo in Stadtgebieten bei Fahrradfahrern, die in
der Hauptverkehrszeit unterwegs sind, 15 km/h, während das
durchschnittliche Tempo der Autofahrer nur bei 12 km/h liegt.
Während des Beijinger Gipfeltreffens fuhren einige Millionen
Beijinger Stadtbewohner wie Zhang Hui statt mit dem Auto mit dem
Fahrrad oder öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit. Zudem
unterlag die Hälfte aller Dienstwagen einem Fahrverbot, so
dass sich der Verkehrszustand in Beijing während dieser Zeit
deutlich verbesserte. Aber die Möglichkeit, zügig fahren
zu können, hielt kaum eine Woche an. Nach dem Gipfeltreffen
steckt man in der Rushhour am Morgen und am Abend schon wieder
im Stau. Zhang Hui fährt auch weiter mit seinem Auto zur
Arbeit. Obwohl das Fahrradfahren schneller geht, bereitet
es auch viele Unannehmlichkeiten. Unsere Firma liegt in der Nähe
von Jianguomen, wo es keinen Parkplatz speziell für Fahrräder
gibt. Außerdem muss ich ein Taxi nehmen, wenn ich geschäftliche
Termine außer Haus habe. Ich kann doch nicht mit dem Fahrrad
zu meinen Kunden fahren. Nach Zhang Huis Ansicht ist das
Auto in gewissem Grad ein Statussymbol, welches den Abschluss
von Geschäften begünstigt.
Der Gedanke, Autos als Statussymbol zu betrachten, ist nicht
neu. Der Fall von Frau Cheng ist ein Beispiel dafür. Sie
wohnt weit von ihrer Arbeitsstelle entfernt; die Busfahrt dauert
zwei Stunden, weshalb sie sich dafür entschied, ein Privatauto
zu kaufen. Bei der Wahl des Autos kamen Meinungsverschiedenheiten
in der Familie auf: Ich wollte ein wirtschaftliches Auto
mit einem kleinen Hubraum kaufen, das ungefähr 50 000 bis
60 000 Yuan (etwa 5000 bis 6000 Euro) kostet. Aber mein Mann war
dagegen. Meine Tochter meinte sogar, es sei besser, kein Auto
zu kaufen als so eines. Schließlich ging sie auf die
Ansprüche ihres Mannes und ihrer Tochter ein und brachte
ein Auto nach Hause, welches doppelt so teuer war. Der Grund:
Es sieht vergleichsweise eindrucksvoll aus.
Die Marktforschungsfirma AC Nielson führte zwischen Mai
und Juni 2006 eine Umfrage in den drei Großstädten
Beijing, Shanghai und Guangzhou durch. Die Ergebnisse zeigen,
dass 30% der über 1500 Befragten innerhalb von einem Jahr
einen Autokauf planen. Der Anteil lag im Jahr 2005 und 2004 jeweils
bei 9% und 6%. Der Kaufwillen ist nun stärker als jemals
zuvor. Der 28-jährige Mann Liu Yong hält einen Autokauf
für eine Anpassung an den modernen Lebenswandel und ein Zeichen
der gesellschaftlichen Entwicklung. Er vertritt damit die Meinung
vieler Stadtbewohner: Warum sollen wir mit dem Fahrrad fahren,
wenn wir uns ein Auto leisten können? Es stimmt, dass das
Fahrradfahren umweltfreundlich ist. Aber die Luftqualität
wird sich doch nicht verbessern, wenn nur ich allein auf das Autofahren
verzichte.
Hinsichtlich der Ankurbelung des lokalen wirtschaftlichen Wachstums
durch die Entwicklung der Autoindustrie ermutigt die lokale Regierung
einerseits die Stadtbewohner zum Kauf eines Autos, macht sich
andererseits aber auch große Sorgen um die damit verbundenen
Umweltprobleme. Dementsprechend sind die Fahrspuren für Kraftfahrzeuge
in Großstädten normalerweise viel breiter als die Fahrwege
für Fahrräder, und in manchen Städten wie Guangzhou
und Shanghai mussten Fahrradwege sogar eine gewisse Zeit lang
den Fahrspuren für Autos weichen, damit diese schneller fahren
konnten.
Fahrräder gehören nicht mehr zur Grundausstattung
Die 50-jährige Frau Li ist eine einheimische Bewohnerin
Beijings. Ihr Zuhause liegt ca. 5 km von ihrer Arbeitsstelle entfernt.
Das Fahrrad ist das beste Verkehrsmittel für sie. Aber seit
zwei Jahren hat sie zunehmend Angst, mit dem Fahrrad auf der Straße
zu fahren. Als ich früher mit dem Fahrrad zur Arbeit
fuhr, fühlte ich mich viel sicherer als jetzt, denn zwischen
den Fahrspuren und Fahrradwegen auf der Straße vor unserem
Wohngebäude standen Schutzgitter. Durch den Ausbau
der Straße ist sie nun dreispurig und es gibt keine Schutzgitter
mehr. Einmal wurde Frau Zhang, die auf dem Fahrradweg radelte,
von einem Auto angefahren. Sie war zwar nicht schwer verletzt,
aber dieses Erlebnis hat einen Schatten hinterlassen. Jetzt
weiche ich auf der Straße den Autos aus, sobald ich sie
in meiner Nähe wahrnehme.
Frau Li vermisst den Beijinger Straßenverkehr jener Zeit,
zu der sie noch jung war. Damals fuhren auf der Straße
sehr wenige Kraftfahrzeuge. Soweit das Auge reichte, gab es Fahrräder.
Man machte sich keine Sorgen, wo man radelte. Im Jahr 1949
gab es in Beijing nur 2300 Kraftfahrzeuge. Es vergingen 48 Jahre,
bis im Februar 1997 die Millionenmarke überschritten wurde.
Bereits im Jahr 2003 betrug der Kraftfahrzeug-Bestand zwei Millionen.
Zurzeit liegt die Zahl knapp bei drei Millionen, täglich
kommen über 1000 Kraftfahrzeuge hinzu. In China werden im
Vergleich dazu zwar jährlich mehr als 70 Millionen Fahrräder
produziert, aber über 50 Millionen werden exportiert, somit
ist China weltweit das Produktionszentrum für Fahrräder.
Zudem werden Fahrräder seltener benutzt als früher:
Von vier Millionen Fahrrädern in Beijing bewegen sich täglich
nur etwas mehr als zwei Millionen auf der Straße.
Die Familie von Frau Liu ist von einem ebenerdigen Wohnhaus in
einer Gasse in der Stadtmitte von Beijing in ein Wohngebäude
fern den zentralen Stadtvierteln gezogen. Das neu gebaute Wohnviertel
hat genügend Parkplätze für Kraftfahrzeuge bereitgestellt,
aber keinen sicheren Platz für Fahrräder. Dazu sagt
Frau Liu: Früher hatte jeder von unserer fünfköpfigen
Familie ein Fahrrad, jetzt haben wir alle nur eins, dennoch wissen
wir nicht, wo wir es unterbringen sollen. Daher hat die
Familie vor zwei Jahren ein Privatauto gekauft. Mit dem Fahrrad
fahren sie nur, um in der Nähe ihres Wohnviertels Gemüse
zu kaufen.
Die sich ständig vergrößernde Stadtfläche
in Großstädten erschwert die Nutzung des Fahrrads als
universelles Verkehrsmittel. Liu Jianshuang kommt aus einer Kleinstadt
in der Provinz Hebei. In ihrer Heimatstadt fahren die Bewohner
meist mit dem Fahrrad zur Arbeit, denn die Stadt ist klein und
sie wohnen auch nicht weit von ihren Arbeitsstellen. Aber in den
Großstädten wie Beijing und Shanghai werden immer mehr
Wohnhäuser in den Vororten gebaut, so dass viele Stadtbewohner
auf dem Weg zur Arbeit einige Male umsteigen müssen, wenn
sie öffentliche Verkehrsmittel nehmen. Die frisch verheiratete
Frau Liu sagt: Mein Zuhause liegt ungefähr 40 km von
meiner Arbeitsstelle entfernt. Es ist unmöglich, zur Arbeit
zu radeln. Nun fahre ich zuerst mit der U-Bahn, dann mit dem Bus,
wobei ich zweimal umsteigen muss. Deshalb haben mein Mann und
ich entschieden, von nun an Geld für ein Auto zu sparen.
Zumindest werde ich dann vom Gedränge im Bus befreit.
Xu Gang, der Generaldirektor der Shanghai Maple Automobile, ist
der Ansicht, dass die Lebensqualität im direkten Zusammenhang
mit dem Bewegungsradius der Menschen steht. Seiner Aussage zufolge
hat man zu Fuß einen Bewegungsradius von 300 bis 500 m,
mit dem Fahrrad 3 bis 5 km und mit dem Privatauto 30 bis 50 km.
Durch die räumliche Ausdehnung des Bewegungsradius erfahre
man revolutionäre Veränderungen in Lebensanschauung,
Lebensart und Lebensqualität. Daher gehört der Erwerb
eines Privatautos als wichtiger Faktor für eine zunehmende
Anzahl junger Leute zur Verbesserung der Lebensqualität.
Konflikte zwischen Fahrradfahrern und Autofahrern
Mit den während der Zeit des Gipfeltreffens des Forums für
Chinesisch-Afrikanische Kooperation gesammelten Erlebnissen eines
Fahrradfahrers im Gedächtnis fährt Zhang Hui nun vorschriftsmäßig
Auto. Früher, wenn er im Verkehrsstau steckte und keine Polizisten
in Sicht waren, fuhr er auf dem Fahrradweg. Dadurch konnte
man viel Zeit sparen. Außerdem war ich nicht der einzige
Autofahrer, der das tat. Online diskutieren Autofahrer
angeregt darüber, wo es Videokameras gibt und wo gern mal
Verkehrspolizisten lauern. Sie finden so heraus, wo
es vergleichsweise sicher ist, wenn sie auf dem Fahrradweg
fahren.
Lao Zhangs Arbeit ist es, Verkehrspolizisten bei der Aufrechterhaltung
der Verkehrsordnung zu helfen. Er sieht täglich die Streitigkeiten
zwischen Fahrradfahrern und Autofahrern. Er meint: Autofahrer
sollten Fahrradfahrern die Vorfahrt lassen, da die letzteren im
Falle eines Verkehrsunfalls sicherlich schwerer verletzt würden.
Aber gerade deswegen wagen die Autofahrer es immer wieder, gegen
die Verkehrsregeln zu verstoßen.
Die 29-jährige Ren Haiyu hat vor kurzem ihren Doktortitel
in einer kleinen Stadt in den USA verliehen bekommen und arbeitet
nun in einem biotechnischen Unternehmen in Beijing. Als sie zum
ersten Mal mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhr, hatte sie sich verspätet.
Ich radelte zu einer Verkehrsinsel und entdeckte, dass es
keinen Fahrradweg mehr gab. Ich wusste dann nicht mehr, wie ich
über die Straße kommen sollte. Die Autofahrer hielten
nicht an, auch dann nicht, wenn sie Rot hatten. Ich sah, wie sich
Fahrradfahrer durch die Wagenreihen schlängelten, wagte aber
nicht, ihnen zu folgen. Ich konnte nichts anderes tun, als mehr
als zehn Minuten zu warten und dann über die Straße
zu fahren. Es ist furchtbar. Seitdem steht ihr Fahrrad im
Korridor und sie geht jeden Tag zu Fuß zur Arbeit.
Was können wir für Fahrradfahrer tun?
Forschungsergebnisse zeigen, dass, bezogen auf einen Radius von
4,5 km, das Fahrrad das schnellste und umweltfreundlichste Verkehrsmittel
ist. Außerdem nimmt ein Fahrrad nur 1/8 der Fläche
in Anspruch, die von Kraftfahrzeugen in Anspruch genommen wird.
Aus diesem Grund spornt die Regierung die Stadtbewohner an, mehr
mit dem Fahrrad zu fahren. Qiu Baoxing, der Vize-Minister des
Aufbauministeriums, machte vor kurzem deutlich, dass China einen
bestimmten Fahrradbestand halten und die Fahrradwege und Gehwege
von Hindernissen freihalten sollte. In den 80er Jahren des vorigen
Jahrhunderts hatte China 500 Millionen Fahrräder und in den
meisten Städten gab es Fahrradwege. Dagegen, dass in den
letzten zwei Jahren die Fahrradwege in manchen Städten abgeschafft
wurden, tritt das Aufbauministerium mit Entschlossenheit auf.
Gegenwärtig stehen in diesen Städten wieder Fahrradwege
zur Verfügung. Die Stadt Shanghai plant nun, innerhalb von
fünf Jahren über 100 km Fahrradwege anzulegen.
Liang Congjie ist Leiter der Umweltschutzorganisation Freunde
der Natur. Er stellte einen Antrag auf verstärkte Installierung
von Schutzgittern zwischen Fahrspuren und Fahrradwegen und auf
ein Parkverbot auf Fahrradwegen. Sein Antrag wurde vom Amt für
Verkehrsregelung der Stadt Beijing und der Kommission für
Stadtplanung von Beijing beantwortet. Nach Angaben des Amtes für
Verkehrsregelung haben sie in den letzten Jahren 11 000 m Schutzgitter
neu installiert; an einigen Straßenstrecken wurden die Parkflächen
auf Fahrradwegen abgeschafft. Überdies werden Untersuchungen
zu weiteren möglichen Verbesserungen durchgeführt.
Das Problem, dass Fahrradfahrer und Autofahrer nicht vorschriftgemäß
fahren, ist nach Meinung von Verkehrsexperten zur Zeit nicht vollständig
zu lösen. Man kann Fahrradfahrer und Autofahrer zur Zeit
nur auffordern, die Verkehrsgesetze und -regeln zu befolgen.
Jedes Jahr fahren die Mitglieder chinesischer Umweltschutzorganisationen
für einen bestimmten Zeitraum mit dem Fahrrad durch die Straßen
und in die Gassen, um Stadtbewohner über die Vorteile des
Radfahrens für die Umwelt und den Verkehr aufzuklären.
Doch ihre Einstellung zu Fortbewegungsmitteln von Grund auf zu
verändern, das ist ein langwieriger Weg.
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