Geschenke und Gefühle
Von Ya Dan
In den ländlichen Gebieten Chinas kann es an einigen Orten
vorkommen, dass der Gastgeber einer Hochzeit eine Liste führt,
in die die von Gästen überreichten Geschenke eingetragen
sind. Die Liste wird als Liste für die Pflege der Freundschaft
bezeichnet. Das Geschenk ist untrennbar mit den zwischenmenschlichen
Beziehungen verbunden. Die zu anderen Anlässen angenommenen
Geschenke werden zwar nicht in eine Liste eingetragen, aber im
Gedächtnis behalten.
Man sagt, dass sich die modernen Menschen heute alle damit beschäftigen,
Geld zu verdienen. Der gegenseitige Besuch bei Verwandten und
Freunden wird immer seltener und die menschliche Bindung verblasst.
Vor mehr als über 20 Jahren waren Süßigkeiten
gebräuchliche Geschenke zum Frühlingsfest. Dies war
zwar eintönig, aber trotzdem waren einige Packungen Süßigkeiten
häufig Bestandteil der gegenseitigen Besuche von Verwandten
und Freunden, die vom ersten Tag des Frühlingsfestes an nahezu
einen Monat lang dauerten. Wenn man sich heute an die lebhafte
Stimmung von damals erinnert, könnte in einem fast Wehmut
aufsteigen.
Li Qiang, der als Wanderarbeiter in Beijing tätig ist, sagt:
In den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts ging man zum
Neujahrsbesuch zu seinen Freunden und Verwandten. Keiner von ihnen
wurde außer Acht gelassen. Beim Besuch einer Familie traf
man wiederum andere Besucher. Alle unterhielten sich, wodurch
herzliche Freundschaften entstanden. Manchmal bildete sich eine
Gruppe von Dutzenden von Besuchern, die dann zusammen zu einem
weiteren Besuch gingen.
Mit der gegenwärtigen Situation ist Li Qiang unzufrieden,
er kann aber nichts dagegen tun. Er sagt: Seit einigen Jahren
wird ein Besuch bei Freunden und Verwandten immer seltener. Wir
Wanderarbeiter arbeiten auswärts. Aber auch zum Frühlingsfest
gehen wir nicht nach Hause. Die Züge sind zu dieser Zeit
gerammelt voll, ein Flug ist zu teuer. In einem Schlager wird
gesungen: Kommt doch öfter zu Besuch nach Hause. Aber es
ist keine einfache Sache, zum Frühlingsfest nach Hause zu
fahren.
Da der Lebensrhythmus schneller wird und Besuche im Alltag immer
seltener stattfinden, legt man zu wichtigen traditionellen chinesischen
Festen großen Wert auf ein Treffen mit Verwandten und Freunden.
Wenn ein Zusammentreffen nicht möglich ist, dann wählt
man ein passendes Geschenk aus. Dazu sagt Li Qiang: Ich
lasse meinen Verwandten und Freunden in meiner Heimat ein kleines
Geschenk mitbringen. Das ist zwar keine gute Lösung, wenn
es aber selbst diese kleinen Aufmerksamkeiten nicht mehr geben
sollte, dann gehen die menschlichen Bindungen wirklich vollkommen
verloren.
Für höfliches Verhalten und Geschenke gilt in der Regel
das Prinzip der Gleichheit. Vor 20 Jahren hat man in China bei
einer Hochzeit auf dem Land als Geschenk zwar kleine Geldsummen
angenommen, aber auch verschiedenartige Dinge geschenkt bekommen,
vom Getreide bis zu Gebrauchsgegenständen. Der Gastgeber
notierte jedes Geschenk und klebte sogar ein Kennzeichen darauf,
damit es später mit einem gleichwertigen Geschenk erwidert
werden konnte. Mit der Zeit wurde nur noch Bargeld geschenkt und
das Prinzip vereinfachte sich.
Zhang Yang, Mitarbeiter an der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften,
sagt: Normalerweise bedeutet die Annahme eines Geschenks
nicht Besitz, oder allenfalls nur einen vorläufigen Besitz.
Denn die Erwiderung erfolgt bald, zur Steigerung des Ansehens
kostet sie manchmal sogar noch mehr. Ein Geschenk fungiert in
vielen Fällen als Ausdruck der menschlichen Bindung und steht
nicht kostenlos zur Verfügung.
Beim gegenseitigen Beschenken geht es darum, die Freundschaft
zu erhalten. Wenn die eigene finanzielle Situation günstig
ist, sollte man ein Geschenk erwidern. Dabei werden diejenigen
Familien ausgenommen, die aus der Sicht ihrer Mitmenschen als
arm gelten und somit nicht dazu verpflichtet sind, in dieser Weise
ihr Gesicht zu wahren. Die Freundschaft mit anderen und das eigene
Ansehen hängen eng zusammen.
Eine Gänsefeder, aus der Ferne als Geschenk mitgebracht,
ist zwar leicht, aber wichtig für die Freundschaft.
Wenn die menschliche Bindung durch ein Geschenk gestärkt
wird, dann spielt sein Sachwert eher eine untergeordnete Rolle.
Es ist deshalb nicht angebracht, dass man bei der Auswahl eines
Geschenks miteinander um den höheren Sachwert wetteifert.
Wenn ein Geschenk über die Erhaltung der Freundschaft hinausgeht
und utilitäre Ziele hat, dann verliert das Geschenk seine
Bedeutung.
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