Die
Beida - ein Mikrokosmos der chinesischen Elite
Von Michael Müller
Knapp vier Monate studiere ich nun bereits an der Beijing-Universität,
die von allen liebevoll nur Beida genannt wird. Sind wirklich
schon vier Monate seit meiner Ankunft vergangen? Unglaublich,
es scheint, als würde die Zeit in China rasen. Und obwohl
es nicht mein erster Aufenthalt im Reich der Mitte ist, überwältigen
mich China und seine Menschen wieder aufs Neue. Das Land pulsiert,
und mit ihm seine Menschen - an der Beida, wie auch anderswo in
China.
Es ist laut; alles ist in Bewegung. Man kann sich dieser Dynamik
kaum entziehen. Bereits in den frühen Morgenstunden machen
sich die Leute auf die tägliche Reise ins Ungewisse. Da trifft
es sich, dass die Mensen der Beida bereits um 6.30 Uhr ihre Pforten
für die Hungrigen öffnen. Was für Ausländer
eine ungewöhnlich frühe Frühstückszeit darstellt,
ist für die Chinesen Usus. So wundert es nicht, dass in den
frühen Morgenstunden die Mensen fest in chinesischer Hand
sind, Ausländer sind um diese Zeit so gut wie nicht anzutreffen.
Frühstück um 6.30 Uhr? Haben die Chinesen dann nicht
bald wieder Hunger? Selbstverständlich. Und so wird bereits
um 11 Uhr zum Mittagessen gebeten. Will man beim täglichen
Kampf ums Essen nicht völlig unter die Räder geraten,
empfiehlt es sich, die Öffnungszeiten genau zu studieren.
Kommt der Waiguoren - wie er es von zu Hause gewohnt ist - um
12 Uhr zum Mittagessen, erfasst ihn die ungebremste Dynamik dieses
Landes. Das Szenario trügt: draußen vor den Eingangstüren
herrscht die Ruhe vor dem Sturm. Wie die Perlen einer Halskette
reiht sich ein Fahrrad an das nächste. Wird die Türschwelle
jedoch passiert, betritt man eine andere Welt. Schieben, Drücken,
Drängeln - alles ist erlaubt, und über allem thront
der Geräuschpegel unzähliger hungriger Studenten.
Man muss es gesehen haben, so viele Menschen in einem solch kleinen
Raum. Da wundert es auch nicht, dass die an sich zahlreich vorhandenen
Sitzplätze allesamt in Windeseile belegt sind. Viele sind
gezwungen im Stehen zu essen. Versuche das einer: zwei Essstäbchen
in den Händen, dazu das Essenstablette bei gleichzeitig ständigem
Drängeln, Schubsen und Stoßen von rechts, links, von
vorne und von hinten. Aber diese Geschicklichkeitsübung will
erst erreicht werden. Zunächst gilt es für den Ankömmling,
sich eine Mahlzeit zu sichern. Anstellen? Kann versuchen wer will,
doch sollte sich keiner darauf verlassen, dann auch etwas vom
Essen abzubekommen. Die Mensen haben ihre eigene goldene Regel,
die da lautet: Jeder ist sich selbst der Nächste.
Die erste Empörung über solches Verhalten weicht schnell
einer eigenen Angrifftechnik, die es ermöglichen soll, etwas
von den Mensa-Spezialitäten zu erhaschen. Gelingt dies, weiß
man, wofür die ganzen Strapazen, denn die in den Beida-Mensen
dargebotenen Speisen schmecken wirklich vorzüglich. Um 12.30
Uhr ist der ganze Spuk bereits wieder vorbei. Die Tore werden
geschlossen - bis um 17 Uhr das Schieben, Drücken und Drängeln
neu entfacht werden.
Also Hektik und Stress pur? Euphemistisch ausgedrückt: Dynamik
und Bewegung in Reinform - ist das China, ist das die Beida? Weit
gefehlt. Die Beida ist mehr. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten,
dem täglichen Stress Chinas zu entgehen. Der Campus ist voll
von Oasen der Ruhe. Der Weiming-Hu ist sicherlich der bekannteste,
allerdings bei weitem nicht der einzige Ort, an dem Stille und
Besinnung gefunden werden können. Dabei spielen vor allem
das Grün der Bäume, das allgegenwärtige Gezwitscher
der zahlreichen Vögel und die zum Spaziergang einladende
Szenerie eine gewichtige Rolle. Hektik und Entspannung - hier
auf dem Campus der Beida finden sie zusammen.
Insgesamt kann man sich dem Eindruck nicht entziehen, dass die
Beida mit ihrem weitläufigen Campus einen Mikrokosmos in
Mitten der Beijinger Haidian-Hektik darstellt. Für die Sportlichen
gibt es eine Sporthalle mit angegliederten Plätzen, Schwimmbad,
zahlreiche Basketball- und Tennisplätze. Fitnessstudio selbstverständlich
inklusive. Auch der Nachwuchs in Chinas Topsportart geht nicht
leer aus: Möglichkeiten, Tischtennis zu zelebrieren, sind
ausreichend gegeben.
Für die Wissbegierigen stellen die riesige Bibliothek, die
zahlreichen Unterrichtsgebäude und Klassenräume beliebte
Pilgerstätten des Wissens dar. Klassisch eben; doch die Beida
ist anders. So ist zum Lernen und Studieren Anlaufpunkt Nummer
Eins ein anderer, nämlich die Cafeteria mit Namen "Campus".
Hier, zwischen Jiaozi und Baozi lernt es sich aus chinesischer
Sicht immer noch am Besten. Die Laptops der Studenten laufen auf
Hochtouren, und lediglich die begrenzte Laufzeit der Akkus scheint
dem Aufenthalt in der "Campus"-Cafeteria ein Ende zu
setzen.
Komplettiert wird das Bild vom Mikrokosmos Beida durch zwei Supermärkte,
den wochenendlichen Büchermarkt, ein eigenes Kino sowie die
zahlreichen Ständen, an denen Allerlei angeboten wird. Da
finden sich Porträts von Mao Zedong neben denen von David
Beckham - Chinas derzeitiger Wandel findet auch hier seinen Niederschlag.
Socken, Mützen, Handschuhe; Hosen, Schuhe, Obst und Gemüse
- alles scheint da zu sein, und unweigerlich fragt man sich nach
dem Sinn der beiden regulären Supermärkte. Doch der
Handel floriert, und beschränkt sich bei weitem nicht nur
auf Nützliches, auch allerlei Ramsch wird hier feilgeboten.
Feilbieten ist dabei der richtige Ausdruck, denn wer den ersten
Preis akzeptiert, der wurde über den Tisch gezogen. Mag es
auch aus Sicht der Ausländer bereits unglaublich billig erscheinen,
das erste Angebot muss (!) verhandelt werden. Das gehört
zum chinesischen Leben wie die allgegenwärtigen Schriftzeichen.
Apropos Schriftzeichen - ein wichtiges Thema für Ausländer
und ein triftiger Grund, Teil des Mikrokosmos Beida zu werden.
Klar ist, dass, wenn man die chinesische Sprache richtig erlernen
möchte, an einem Aufenthalt in China kein Weg vorbeiführt.
Die Beida ist in dieser Hinsicht sicherlich eines der begehrteren
Ziele. Nicht zu Unrecht eilt dieser Uni der Ruf, eine Spitzenuniversität
zu sein, voraus - vielleicht ist sie gar die Nummer Eins in China,
doch dies zu klären ist Aufgabe anderer.
Der Unterricht an der Beida ist unterteilt in Hanyu, Kouyu (vorwiegend
Sprechen) und Tingli (Hörverständnis) - ein positiver
Aspekt, zieht man in Betracht, dass die sprachlichen Fertigkeiten
der einzelnen Studenten hinsichtlich dieser drei Bereiche stark
schwanken. So kommt es vor allem bei den japanischen Studenten
oft vor, dass ihr Wortschatz sehr groß ist, ihre Aussprache
sowie ihr Hörverständnis allerdings eher elementarer
Natur. Ein weiterer Pluspunkt des Sprachunterrichts ist die Tatsache,
dass die durchschnittliche Klassenstärke die Marke von 15
Studenten nicht überschreitet. So wird gewährleistet,
dass jedem die Aufmerksamkeit des Lehrers zuteil wird - ob gewünscht
oder nicht. Zudem sind die Sprachlehrer durchweg sehr jung und
ambitioniert. Den Vergleich mit den Zuständen an ausländischen
Universitäten braucht die Beida in dieser Hinsicht jedenfalls
nicht zu scheuen.
Ein Punkt, auf welchen die Beida großen Wert legt, ist
Disziplin und Anwesenheit. Fehlt ein Student in einer Unterrichtsstunde,
findet dieses "Fehlverhalten" sofortigen Niederschlag
in der Endnote. Ein Abzug von einem Prozentpunkt in der Gesamtzensur
ist die unvermeidliche Folge. Sicherlich ist es gut, dass auf
Anwesenheit Wert gelegt wird, dies zeigt doch, dass das regelmäßige
Kommen der einzelnen Studenten von Wert ist. Doch ist die Grenze
zur Übertreibung schnell überschritten, eine bestimmte
- wenn auch niedrig angesetzte - Fehlquote wäre ein denkbarer
Zwischenweg, der beiden Seiten zupass kommen würde.
So finden sich also jeden Tag die zahlreichen Studenten in den
zahlreichen Unterrichtsräumen ein, um in schweißtreibender
Fleißarbeit ihr Sprachniveau anzuheben. Die alltäglichen
Pilgerorte der ausländischen Studenten sind das Russen-Haus
sowie das Gebäude Shaoyuan II. Insbesondere Shaoyuan II verdient
aufgrund seiner herrlichen Aussicht eine gesonderte Erwähnung.
Schenkt der Smok der Stadt eine Verschnaufpause, ist die Aussicht
aus dem oberen Stockwerke, wo sich die Unterrichtsräume befindet,
traumhaft.
So ist es nicht selten der Fall, dass die Blicke der Studenten
durch die Fenster in die Ferne schweifen. Die Reise in eine ganz
persönliche Traumwelt nimmt seinen Lauf, hinweg über
die Weiten des Beida-Campus. Die Stadtgrenzen Beijings werden
fliegend genommen, bis die Große Mauer bereits am Horizont
zu erkennen ist. Oft findet die Traumreise jedoch ein jähes
Ende, meist in dem Moment, wenn der vermeidliche "Reiseführer"
in Person des Sprachlehrers die Rückkehr in den Klassenraum
anmahnt.
Die Beida - ein Mikrokosmos, der alles bietet, was benötigt
wird. Für das leibliche Wohl, die Grundversorgung und für
vieles, was darüber hinaus geht, ist bestens gesorgt. So
berichtete mir ein osteuropäischer Austauschstudent denn
auch, dass er kein Fahrrad kaufen werde. Grund: den Beida-Campus
werde er ohnehin nicht verlassen.
Doch bei all den schönen Aspekten, die bisher aufgezählt
wurden, sollte der Leser nicht vergessen, dass es sich bei der
Beida um einen "Mikrokosmos der Elite" handelt. Es ist
Chinas Elite, die hier studiert, die durch harte Prüfungen
Ausgewählten. Man spürt dies deutlich, sobald man den
Campus verlässt und die Reise in ein anderes China antritt.
Die Unterschiede sind groß, und unweigerlich beschleicht
einen das Gefühl, an der Beida lediglich Teil einer eigenen,
überaus künstlichen Welt zu sein. Schön und wohl
behütet - doch so ist das Leben nun mal nicht.
Die Aussage über die chinesische Elite an der Beida ist
übrigens nicht nur die Meinung des Autors, vielmehr hört
man diesen Satz fast täglich. "Ihr, die Studenten der
Beida, seid privilegiert." Und es stimmt, die Beida ist etwas
ganz Besonderes. Auch wenn nicht alles Gold ist, was glänzt,
so muss ich doch sagen: Ich bin froh, hier studieren zu können.
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