Begegnung im Pflegeheim von Pinggu
Von Michael Müller
Selbstverständlich! Was ist das denn für eine
Frage, bringt Herr Xing seine Verwunderung zum Ausdruck.
Na klar habe ich noch Träume, sehr viele sogar.
Mit dieser Ergänzung lässt er an seiner Einstellung
zum Leben keine Zweifel aufkommen. Herr Xing ist einer von rund
zweihundert Bewohnern des Alten- und Pflegeheims in Pinggu.
Pinggu liegt wenige Autostunden nördlich von Beijing und
ist den meisten lediglich als Lieferant der köstlichen Pinggu-Pfirsiche
ein Begriff. Rund um das Dorf liegen die großen Pfirsich-Plantagen,
auf welchen Jahr für Jahr Abertausende der saftigen Obstfrüchte
wachsen und gedeihen. Vor allem im Frühling ist Pinggu deshalb
ein beliebtes Ausflugsziel der Chinesen. Nicht nur aus diesem
Grund organisierte die Peking-Universität einen Tagesausflug
in das kleine Dorf nördlich von Chinas Hauptstadt.
Kleines Dorf trifft dabei eher die chinesischen Relationen,
in Deutschland würde doch kein Mensch auf den Gedanken kommen,
einen Ort mit mehr als 300 000 Einwohnern als Dorf zu bezeichnen.
Doch in China wird in anderen Kategorien und Größenordnungen
gedacht.
Die Begegnung mit Herrn Xing war an diesem Tag nur eine unter
zahlreichen Begegnungen und Erlebnissen in Pinggu, jedoch sicherlich
diejenige, die die tiefsten Eindrücke hinterlassen hat.
Zwei Jahre sind bereits vergangen, seit Herr Xing in das Pflegeheim
von Pinggu gebracht wurde. Dabei ist die Wortwahl gebracht
wurde durchaus zutreffend, denn der Ortswechsel vom großen
Peking ins kleine Pinggu war alles andere als freiwillig. Nein,
im Gegenteil. Zunächst war ich ganz schön sauer. Was
soll ich als Hauptstädter denn in diesem kleinen Dorf. Pinggu?
Wieso ausgerechnet Pinggu? Aber ich hatte keine Wahl. Ohne finanzielle
Mittel kannst du es dir einfach nicht aussuchen. Ich hatte doch
niemanden, der sich um mich kümmerte. Noch heute gerät
Herr Xing etwas in Rage, wenn er an die Zeit seiner Ankunft in
Pinggu zurückdenkt.
Doch sehr schnell glätten sich die Wutfalten auf seinem
Gesicht wieder, die positiven Aspekte seiner neuen Heimstatt verdrängen
die Sorgen und Ängste der Anfangszeit. Ich war schon
ein wenig verärgert, aber das legte sich sehr schnell. Schau
dich um, hier ist es doch einfach schön. Ich jedenfalls bin
mittlerweile sehr gerne hier. Xings Gesichtszüge formen
sich zu einem breiten Lächeln. Es scheint fast, als teilten
alle 200 hier ansässigen alten oder pflegebedürftigen
Menschen Xings Ansicht. Aus allen Ecken hört man leises Gekicher,
Stimmen sind zu vernehmen. Es ist überaus lebhaft hier im
Pflegeheim von Pinggu.
Es ist ein schöner Tag im Juni. Das Wetter zeigt sich von
seiner besten Seite, und so können sich die zahlreichen Studenten
der Peking-Universität mit den Wohnheimleuten gemütlich
im Hof des Pflegeheims unterhalten. Bei solch schönem
Wetter sitze ich eigentlich immer hier draußen, es ist hier
doch viel schöner als in den Zimmern.
Herr Xing versprüht allerlei Energie. Nicht selten während
unseres kurzen Gesprächs rutscht er rastlos in seinem Rollstuhl
hin und her. Unweigerlich stellt sich einem die Frage nach den
Ursachen für seinen Gesundheitszustand: Hände und Beine
von Herrn Xing sind stark verkümmert. Zwar ist es ihm möglich,
kleine Gegenstände wie einen Stift oder ein Buch in den Händen
zu halten, doch zu mehr reicht seine Kraft nicht aus. Auch seine
zurückgebildeten Beine zeugen von einer langen Zeitdauer
im Rollstuhl.
Sofort kommen mir Zweifel. Soll ich so indiskret sein und nach
den Gründen seiner Verkrüppelung fragen? Nach kurzem
Zögern gebe ich mir einen Ruck. Ach, das habe ich schon
lange. Eigentlich schon immer, seit ich denken kann. Es handelt
sich um Kinderlähmung, gibt Herr Xing freimütig
Auskunft. Kinderlähmung ist eine Viruserkrankung, die vorwiegend
zur Lähmung und Verkümmerung von Armen und Beinen führt.
Besonders tragisch ist ein solches Schicksal angesichts der Tatsache,
dass die Erkrankung durch eine simple Impfung verhindert werden
kann. Der Name Kinderlähmung ist dabei durchaus irreführend,
denn auch Erwachsene können an ihr erkranken. Bei Herrn Xing
war das jedoch nicht der Fall: Ich sitze bereits mein Leben
lang im Rollstuhl. 31 Jahre an den Rollstuhl gefesselt,
und doch scheint der untersetzt wirkende Mann nicht unter Energiemangel
zu leiden.
Ich habe viele Hobbys. Ich lese gerne, und was immer alle
überrascht: Ich male auch gerne. Angesichts seiner
zurückgebildeten Hände ist diese Aussage durchaus sehr
überraschend. Doch Herr Xing gibt sich selbstbewusst: Auch
überrascht?! Die Leute hier finden meine Bilder sehr schön.
Die Einladung, einen kleinen Blick auf einige seiner Exemplare
zu werfen, musste ich jedoch ablehnen. Der kurze Aufenthalt unserer
studentischen Reisegruppe im Pflegeheim von Pinggu ist fast zu
Ende, die übrigen Studenten drängen bereits zurück
in den Bus. Wie so oft auf solchen organisierten Tagesausflügen
diktiert der straffe Zeitplan die Interessen.
Aber eine Frage brennt mir noch auf der Zunge: Träume. Wie
sieht Herr Xing eigentlich seine Zukunft? Überraschend wäre
es nicht, würde er eher hoffnungs- und illusionslos in die
Zukunft blicken. Träume? Wünsche? Was erhofft er sich
noch von seinem Leben? Die Antwort bricht förmlich aus ihm
heraus: "Jeden Tag lese ich, versuche, mir Dinge selbst beizubringen.
Ich weiß, dass ich ohne Arbeit und Selbstdisziplin nichts
erreichen kann. Mir traut keiner was zu, aber ich will, ich möchte
noch ein anderes Leben haben. Das ist mein größter
Wunsch: mein eigenes Leben. Ein Leben, in dem ich selbst bestimmen
kann, was ich heute machen werde ein Leben mit eigenem
Zimmer. Wo ich selbst über die Zeit des morgendlichen Aufstehens
entscheide. Einfach mein eigenes Leben."
Es ist Zeit zu gehen. Nach einer schnellen Verabschiedung von
Herrn Xing, das Gelände des Pflegeheims liegt bereits hinter
mir, beginnt ein Prozess, ein Denkvorgang. Wer hätte das
gedacht: Wir Beida-Studenten gehen auf einen organisierten Ausflug
der Universität, ehrlich gesagt, mehr eine Pflichtveranstaltung
als freiwillige Freizeitgestaltung. Und doch hat mir der Tag viel
gegeben. Es waren diese 30 Minuten mit Herrn Xing, die mich seither
immer wieder beschäftigen. Es stimmt mich nachdenklich, dass
ein Mann mit solch innerer Kraft an den Rollstuhl gefesselt ist.
Kinderlähmung. Eine einzige Impfung hätte dies verhindern
können!
Doch hadert er mit dem Schicksal? Ist er von Verbitterung und
Hoffnungslosigkeit geplagt? Keineswegs. Viele von uns hadern mit
dem Schicksal, sind unzufrieden mit dem eigenen Leben. Uns allen
täte ein Gespräch mit Herrn Xing sehr gut. Sicherlich
gehört eine große Portion Idealismus dazu zu denken,
man müsse nur wollen, dann könne man alles schaffen.
Nein, das ist sicherlich zu naiv. Und dennoch, seine Aussagen
führten mir eines deutlich vor Augen: Nutze die Zeit, mach'
was aus dem Leben, denn... es ist dein eigenes Leben.
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