Riten für den Hausbau in Tibet
Die Wohnung wird in jeder Nationalität als unabdingbar für
eine menschenwürdige Existenz betrachtet. In Tibet und in
anderen von Tibetern bewohnten Gebieten ist es Brauch, zur Weihe
des Hauses religiöse Zeremonien durchzuführen.
Im Umland von Lhasa bittet man einen Lama oder einen Astrologen,
einen glücklichen Tag für den Baubeginn zu bestimmen.
Auch soll er die Ausrrichtung des Hauses festlegen und die Person
benennen, die den ersten Spatenstich führen soll. Dazu gibt
es entsprechende Zeremonien. Auf das Ritual zur Bestimmung des
Standortes für das Haus folgt eine Opferungszeremonie, um
die Dämonen zu vertreiben. Gleichzeitig erbittet man Glück
für die künftigen Hausbewohner. Vor Baubeginn sprechen
Lamas Gebete an der Baustelle, mit denen der Erdgott versöhnt
werden soll. Je nach Vermögen steckt der Bauherr Jade, Achat
oder einen anderen Edelstein in eine Wand seines im Bau befindlichen
Hauses, wodurch er seinen Wunsch nach Reichtum zum Ausdruck bringt.
Bevor das Dach gedeckt wird, vergräbt der Hausbesitzer zwei
kleine Krüge, die den Himmels- bzw. den Erdgott symbolisieren,
an der Hauswand, um diese beiden Götter gnädig zu stimmen.
Auch der Einzug ins neue Haus erfolgt erst, wenn die entsprechenden
religiösen Rituale vollzogen wurden. Wieder wendet man sich
an einen Lama oder Astrologen, um einen glücklichen Tag und
eine Glück verheißende Richtung für den Umzug
zu wählen. Im Anschluss daran finden Zeremonien für
den Umzug statt. Zum Beispiel häuft man auf dem Platz vor
dem neuen Haus Yakmist und stellt einen Eimer mit klarem Wasser
neben den Misthaufen; das drückt den Wunsch nach einem besseren
Leben und Gück bei der Viehzucht aus. Dann werden Lamas eingeladen,
um Gebete für einen glücklichen Umzug zu sprechen. Nach
dem Umzug legt man Hadas über den Yakmisthaufen, den mit
Wasser gefüllten Eimer sowie auf die Säulen des neuen
Hauses (Hada: Schal aus weißer Seide, der als Begrüßungsgeschenk
benutzt wird), um böse Geister zu vertreiben und nochmals
um Glück zu bitten.
In Südosttibet, der Heimat der Moinba-Nationalität,
gehen einem Hausbau sehr komplizierte Rituale voran. Bei allen
Zeremonien ist das Maskottchen Karangxing wichtig,
das 13fach vorhanden sein muss. Ist das neue Haus fertig, werden
Lamas eingeladen, um eine Einweihungszeremonie zu veranstalten.
Gebete vorlesend umrunden sie zuerst dreimal mit den Maskottchen
in den Händen das Haus. Ihnen folgen der Hausbesitzer und
die Bauarbeiter. Dann wählen die Lamas eine Stelle in glücklicher
Richtung, um eine tiefe Grube ausheben zu lassen. Vor Beginn des
Festessens zur Einweihungsfeier begräbt man die Maskottchen,
sowie Körner von neun Getreidearten, Seidestreifen, Metallsplitter
und eine Schüssel voller Milch in der Grube. Zum Festessen
trinkt man Wein, den die Schwester oder eine Cousine des Hausbesitzers
hergestellt hat. Dabei wird den Gästen das Maskottchen Karangxing
gezeigt, an das man weiße Fäden gehängt hat, um
Glückwünsche zur Einweihung auszudrücken. Das Festessen
dauert drei bis fünf Tage. Der Wein wird in der Hauptsache
den Nachbarn ausgeschenkt. Die Verwandten und Freunde des Hausbesitzers
bringen ihm Speisen mit und feiern gewaltig. So beglückwünscht
man den neuen Hausbesitzer.
In Mitteltibet (im Bezirk Xigaze) ist es Sitte, dass Verwandte,
Freunde und Nachbarn dem Hausbesitzer zur Einweihung seines neuen
Hauses gratulieren. Diese Sitte nennt man dort Khangsui.
Festlich gekleidet kommen die Gäste mit Geschenken, zum Beispiel
Yak- und Hammelfleisch, Qingke (Hochlandgerste)-Wein und Butter
zum Hausbesitzer. Der Gastgeber ist bemüht, seine Gäste
reichlich zu bewirten. Bevor die Gäste das neue Haus besichtigen,
müssen sie drei Tassen Qingke-Wein austrinken und sich eine
Handvoll Qingke-Mehl auf die linke Schulter streuen. Wer es vergisst
oder nicht richtig macht, muss mehrere Strafbecher leeren. Bei
der Einweihung ist es sehr wichtig, Wein zu trinken. Um die Trinkfreudigkeit
zu steigern, werden unentwegt Lieder gesungen und einen Toast
nach dem anderen ausgebracht.
Die tibetische Baukunst ist stilistisch vielfältig und belegt
einen hervorragenden Platz in der Geschichte der Weltarchitektur.
Die althergebrachte Wohnkultur Tibets ist deutlich regional und
religiös geprägt, was in der Architektur und in den
von Generation zu Generation überlieferten Sitten und Gebräuchen
zum Ausdruck kommt.
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