Das Wirtschaftsleben der Familien
Alltagsleben
Die harten Umweltbedingungen haben die tibetischen Familien gelehrt,
ihre eigene Wirtschaft schnell den wechselnden Verhältnissen
anzupassen. Die Bauern in den osttibetischen Gebirgstälern
und die Hirten in den weiten nordtibetischen Weidegebieten einen
die gleiche ruhige Handlungsweise und das gleiche zufriedene Verhältnis
zum Dasein. Bauern wie Hirten mussten sich immer geschmeidig an
ihre Umwelt anpassen. Das heißt nicht, dass die wirtschaftlichen
Strukturen und die Produktionsweisen überall gleich sind.
In einigen relativ entlegenen Dörfern ist die familiäre
Wirtschaft stark autark. Durch interne Arbeitsteilung innerhalb
einer Familie wird im Kleinen die Wirkung der gesellschaftlichen
Arbeitsteilung in einer größeren Wirtschaft erreicht.
Typisch für die familiäre Wirtschaftsstruktur in diesen
Dörfern ist, dass man sich zu fast gleichen Teilen mit Vieh-
und Landwirtschaft befasst. Viele Familien haben neben ihren Häusern
einen Gemüsegarten und sie halten einige Rinder, Schweine,
Schafe und Hühner. Das ist die normale Bauernhofwirtschaft
in Tibet.
Die familiäre Zusammenarbeit in dieser Bauernhofwirtschaft
ist auch ein Ausdruck der Anpassung an die Umwelt. In den weiträumigen
Weidegebieten lassen miteinander vertraute Familien ihre Herden
gemeinsam weiden und helfen sich gegenseitig. Obwohl die Eigentumsverhältnisse
zwischen diesen Familien ganz klar voneinander abgegrenzt sind,
teilen sie doch im wirtschaftlichen Leben Erfolg und Misserfolg
miteinander.
Als viele Menschen, besonders die Großstädter, so
ungeduldig und manchmal auch beunruhigt dem neuen Jahrhundert
entgegengingen, behielten die Bauern und Hirten in Tibet ihre
ruhige und gelassene Lebenseinstellung bei. Obwohl das Lebensniveau
der Tibeter unter wirtschaftlichem Gesichtspunkt im Vergleich
zu entwickelten Gebieten noch relativ niedrig ist, hat sich die
reale Lebensqualität im Vergleich zur eigenen Geschichte
doch beachtlich erhöht. Wenn man die Lebensverhältnisse
vor den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts erwähnt, dann sind
ältere Leute oft traurig, da denken sie an die Leiden und
Entbehrungen ihrer Jugend zürück. Damals lebten die
Bauern und Hirten meist unter menschenunwürdigen Bedingungen,
sie waren die verachtete, unterste Schicht der Gesellschaft. In
Nordtibet waren die Hirten nur Weideknechte des Herdenbesitzers.
Sie schufteten das ganze Jahr hindurch für das tägliche
Essen und wenn es nicht anders ging, erhielten sie vielleicht
noch eine Schaffelljacke, einen Hut und ein Paar Schuhe. Die Familie
Dobje aus der Gemeinde Bomtoi des Kreises Dagze hatte damals pro
Familienmitglied und Jahr knapp 100 kg Getreide, um zu überleben.
Das reichte aber kaum für sechs Monate. An Fleisch, Qingke-Schnaps
und Buttertee war nicht zu denken. Heute besteht die Familie aus
zehn Personen. Sie bestellt 2,67 ha Boden und erntet darauf jährlich
ca. 15 000 kg Getreide. 1/3 davon verkaufen sie dem Staat. Der
Erlös daraus macht zusammen mit einigen Nebeneinkünften
den jährlichen Familienetat von über 10 000 Yuan aus.
Das ist nicht sehr viel für zehn Personen, aber die Familie
Dobje ist zufrieden, wenn sie das Heute mit dem Gestern vergleicht.
Wer so genügsam ist, ist stets froh gestimmt. Die Tage vergehen
so wie die sich in den Händen der Alten langsam drehenden
Mani-Mühlen. Ein Tag folgt dem anderen, aber jeder Tag ist
voller Hoffnung.
Konsum
Im heutigen Tibet haben sich aus Tradition manche Konsumgewohnheiten
erhalten, andere sind erst in letzter Zeit entstanden. Tatsächlich
aber haben sich die Qualität des Lebens und die Art und Weise,
wie man lebt sowohl bei den Bauern und Hirten wie auch bei den
Städtern stark verändert. So isst man heute in der Familie
Dobje täglich Fleisch und trinkt täglich Buttertee.
Seit 1990 haben sie sich einen Traktor, eine Worfelmaschine, eine
Dreschmaschine, einen Farbfernseher und einen Kassettenrekorder
angeschafft. Karaoke ist für jüngere Leute kein Fremdwort
mehr. Die jungen Leute in der Stadt sind modisch orientierte Konsumenten.
Mobiltelefone und Computer zählen für sie zu den unverzichtbaren
Konsumgütern des modernen Lebens. Heutzutage kann man vielerorts
in Tibet Online-Fernmeldeeinrichtungen benutzen. In den städtischen
Straßen findet man überall IC-Kartentelefone; in den
Straßen der Städte in Gyangze und Nyingchi gibt es
alle 50 bis 100 m ein Telefon. Auch die meisten Bauernfamilien
in den Vorstädten besitzen schon Telefone. Tibeter, die viele
Jahre fern der Heimat lebten und nun zurückkehren, sind von
den großen Veränderungen in Tibet sehr beeindruckt.
Selbst wer oft nach Tibet reist, hat das Gefühl, dort ändere
sich täglich etwas. Der nachhaltige Eindruck aller aber ist,
dass in Tibet die Tradition mit der modernen Zivilisation verschmilzt.
Qingke-Schnaps spielt eine wichtige Rolle im Familienleben. Auch
dies muss zu den ethnischen Besonderheiten gerechnet werden. In
den ländlichen Gebieten brennt fast jede Familie ihren Qingke-Schnaps.
Zuerst wird die Qingke-Gerste gewaschen und gekocht, dann mit
Hefe vergoren und schließlich setzt man nach Geschmack etwas
Wasser hinzu. Der Qingke-Schnaps ist klar und schmeckt süßlich.
In vielen Bauernfamilien verbraucht man zum Schnapsbrennen fast
so viel Getreide wie zum Essen. Im Dorf Banjorlhunbo in Mitteltibet
werden pro Haushalt täglich im Durchschnitt 2 kg Qingke-Gerste
in Schnaps umgewandelt. Die reichen Getreideernten der vergangenen
Jahre haben auch den Schnapskonsum stimuliert.
Das Fernsehgerät ist für die Familie das neue Fenster
zur fernen Außenwelt. Bauern und Hirten in den Berg- und
Weidegebieten haben durch das Gerät von vielen anderen Lebensweisen
erfahren. Die TV-Programme stellen modische Konsumgüter vor,
nach denen sich die jungen Leute richten. Die Jugendlichen in
den ländlichen und Weidegebieten haben nun andere Idole als
die Generation vor ihnen. Bilder von Stars und Sternchen sind
in den meisten Wohnstätten zu finden. Das Fernsehen ist ja
nicht nur ein Weg der Informationsvermittlung, sondern immer auch
ein Weg der unauffälligen Beinflussung des alltäglichen
Lebens und Arbeitens. 1990 besassen 34 von 100 Haushalten ein
Fernsehgerät, 1997 kamen auf 100 städtische Haushalte
bereits 107 Farbfernseher. Auf dem Land gab es in allen Gemeinden
Fernsehgeräte: auf 100 Bauernhaushalte kamen 10,6 Geräte.
Bei langlebigen Konsumgütern sah es so aus: auf je 100 städtische
Haushalte kamen 96 Waschmaschinen, 68 Kühlschränke,
8 Motorräder und 38 Kameras. Alle Waren, die es im Landesinneren
gibt, gibt es auch in Tibet. Telefon, Farbfernsehgerät, Waschmaschine,
Mobiltelefon, Motorrad und sogar das Auto sind nicht länger
den Städtern vorbehalten; die reichen Bauern und Hirten haben
da längst gleichgezogen.
In den letzten Jahren hat sich die Wirtschaft in Nyingchi rasch
entwickelt. Viele Dörfer sind reich geworden; da gibt es
das Auto-Dorf, das Telefon-Dorf, das Mobiltelefon-Dorf
und das Fernseher-Dorf. Im Dorf Bangne des Kreises
Nyingchi liegen viele zweistöckige Wohngebäude im Grünen.
Eine asphaltierte Ringstraße führt durch das Dorf.
In allen Haushalten sind Haushaltsgeräte wie Fernseher, Waschmaschinen
und Telefone zu finden. Leitungswasser ist heute ganz selbstverständlich.
Früher galt das Dorf als bekanntes Bettlerdorf
in Tibet. Zu jener Zeit hatte keiner der Dorfbewohner feste Einkünfte
oder eine garantierte Getreideversorgung. Die meisten Dorfbewohner
mussten betteln, wenn sie nicht verhungern wollten. Heute sind
alle 300 Dorfbewohner glücklich und zufrieden. 2001 wurden
im Dorf 240 000 kg Getreide geerntet. Das Pro-Kopf-Einkommen lag
im Durchschnitt bei 3290 Yuan. Damit war Bangne das reichste Dorf
Tibets geworden. Das Dorf Gomzhong liegt nicht weit vom Dorf Bangne;
es ist das erste Telefon-Dorf in Tibet. Das Dorf hat
nur 18 Haushalte, 17 davon haben ein Festnetz installiert, 8 besitzen
Mobiltelefone. Die Bauern und Hirten kämpfen längst
nicht mehr um die nackte Existenzsicherung; sie stellen nun höhere
Ansprüche ans Leben.
2001 betrug die Produktion von Fleisch in Tibet 150 000 Tonnen
und die Milcherzeugung lag bei 200 000 Tonnen. Jeder Tibeter verbraucht
im Durchschnitt 57 kg Fleisch und 78 kg Milch; das liegt über
dem chinesischen Durchschnitt. Die Pro-Kopf verbrauchte Fleischmenge
war sogar höher als der Weltdurchschnitt. Die Tibeter, die
gern Fleisch essen, achten aber sehr genau auf die Zusammensetzung
ihrer Nahrung. Früher, als es in der Masse der Tibeter nur
sehr wenig Fleisch gab, hörte man oft den Ausruf: Ich
bin doch kein Vegetarier!. Das bedeutete, man hätte
gern statt Gemüse auch einmal Fleisch gegessen. Heute ist
es anders. Nun verlangen viele Tibeter lieber Gemüse. Nach
statistischen Angaben hatte die Stadt Lhasa im Jahr 2001 nur 130
000 sesshafte Einwohner, aber die Anbaufläche für Gemüse
zur Versorgung der Städter betrug 2000 ha, auf denen 66 Mio.
kg Gemüse aller Sorten produziert wurden. Außerdem
wurden noch große Mengen solcher Gemüsearten, die in
Tibet nicht angebaut werden können, aus Chengdu nach Lhasa
gebracht.
Die Bewohner Tibets, unter ihnen insbesondere die Hirten, lieben
seit eh und je Edelsteine und Schmuck aus Gold oder Silber. Lieber
sparen sie etwas in anderen Bereichen, als auf ein begehrtes Schmuckstück
zu verzichten. Edelsteine und Schmuck sind zugleich wichtige Bestandteile
des Familienvermögens. An Fest- und Feiertagen gehören
sie zur festlichen Tracht. Man zeigt gern seinen Schmuck in der
Öffentlichkeit; das ist zugleich eine Demonstration des Wohlstandes.
Die Vorliebe für Edelsteine und Schmuck rührt von der
traditionellen Produktionsweise her. Das nomadische Leben, das
die meisten Tibeter führten, machte es erforderlich, die
wenigen Reichtümer, die eine Familie im Laufe vieler Jahre
sammeln konnte, sicher aufzubewahren und leicht zu transportieren.
Edelsteine und kostbarer Schmuck eigneten sich ganz vorzüglich
dazu.
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