Ein Bildermacher sucht seinen Weg

Von Klaus Meyer zu Brickwedde

Die Sonne steht zwar hoch am Himmel an diesem Märzwochenende, aber die Temperaturen verheißen tiefsten Winter. Die Menschen auf dem Antikmarkt Pan Jia Yuan, im Südosten von Beijing, haben sich bis zum Hals in ihre Mäntel vergraben, einige tragen Ohrenschützer, andere Mundschutz. Aber ungeachtet der kaum erträglichen Witterung sitzen die Händler auf ihrem Posten, zeigen Schmuck, Möbel, Vasen und feilschen um jeden Yuan. Man hört ein unaufhörliches Raunen durch die Menge ziehen, nur einzelne Aufschreie von Beglückten und Betrogenen zerreißen die Monotonie des Klangs.

Als Händler, so scheint es, kommt man in China weiter, wenn man sich offensiv gibt. Die Strategie der meisten ist es nicht, seelenruhig auf das Interesse der zahlungsfähigen Passanten zu warten, sondern auf sie zuzugehen, sie in ein Gespräch zu verwickeln, ihnen ihre Waren anzupreisen und vorzuführen. Im Zentrum des Marktes steht allerdings jemand, der sich offensichtlich weigert, die Verkaufstaktik seiner „Kollegen“ nachzuahmen. Er wartet auf die Kunden, lässt sich und ihnen Zeit. Es ist gut möglich, dass sein Charakter den Ausschlag für das abweichende Verhalten gibt, vielleicht ist es aber auch sein Produkt. Er bietet nämlich etwas an, das hier auf dem Markt, wo sich die Angebote an jeder Ecke wiederholen, sehr rar ist. Dieser Mann ist Fotograf, er heißt Jack Wen.

Zuerst mag man die Situation vor seinem kleinen Stand noch etwas misstrauisch begutachten. Angesichts des Kontrasts zwischen der Schönheit der Bilder und dem desinteressierten Publikum würden vielleicht nicht wenige Beobachter mit dem Schock zu kämpfen haben. Denn wenn man sich den jung und zugleich alt wirkenden Mann anschaut, mit seiner Brille, der Schirmmütze auf dem Kopf, dem verschlissenen Militärmantel, kommen unweigerlich bestimmte Fragen auf: Ist das tatsächlich der Künstler? Aber wo sind die Kunden? Müssten hier nicht Schlangen stehen und ihr letztes Hemd für ein Bild hergeben? Müssten ihn nicht Dutzende von Agenten, Galleristen und Verlegern hofieren, mit Anfragen und Einladungen bedrängen oder ihm zumindest heimlich die Visitenkarten zustecken?

Man darf sich, was ihn betrifft, nicht täuschen lassen. Der Mann hat einiges vorzuweisen, ist trotz seiner unspektakulären Erscheinung eine heimliche Größe. Er kann auf zahlreiche Ausstellungen in China zurückblicken, die Weltbank hat bereits einige seiner Bilder gekauft und nach einer Art Ausstellungstour durch Frankreich 2004 dürfte auch dem einen oder anderen Europäer die Kunst des Asiaten ans Herz gewachsen sein.

Aber das strahlt er mit seiner zurückhaltenden Weise gar nicht aus. Er ist klein und braucht sich nicht sehr tief zu bücken, um den Kunden einen Hocker hinzustellen, woraufhin er dann behutsam die Fotografien anordnet und zur Schau stellt. An seinen Fingern kleben wie Harz die Spuren der Nacht. „Manchmal denke ich, die Dunkelkammer ist mein Zuhause“, seufzt Wen. „Für das erste Bild brauche ich eine halbe Stunde, danach geht es schneller.“

Dennoch will er weiter nach vorne, hat zu klein angefangen, um überhaupt an so etwas wie Aufhören zu denken. Bevor er zur Kunst kam, führte er Kinder in die geheime Welt des englischen „th“ ein. Als fast Dreißigjähriger setzte er sich schließlich wieder in den Hörsaal, dieses Mal aber um ein Handwerk zu erlernen, das ihm mehr als nur Brot einbringen sollte. Schon ein Jahr später fand seine erste Ausstellung statt.

Das alles genügte jedoch bis heute nicht, um den kalten Betonplatten auf dem Markt zu entkommen. Wen gibt sich zufrieden, beinahe asketisch wirkt er. Aber schnell merkt man, dass er zumindest drei Dinge des Kunstbetriebs sehr gut begriffen hat: Erstens hat Qualität Erfolg, zweitens produziert er Qualität, drittens wird er also Erfolg haben. Wen ist schon jetzt dreimal teurer als die Konkurrenz am Platz. Die Preise sind keine Verhandlungsbasis, vielmehr unumstößliche Wahrheiten. „Ich weiß, was sie wert sind“, flüstert er mit leichtem Stolz. Wenn er das sagt, weiß man nicht genau, ob man weinen oder lachen soll – im Westen könnte er mit seinen Arbeiten längst ein gemachter Mann sein. Aber hier haben die Regeln schärfere Kanten. Wen sieht beileibe nicht aus, wie ein öffentlichkeitstauglicher Künstler aussehen sollte. „Verkaufen war nie meine Sache“, sagt er, als würde er etwas eingestehen. „Es gibt Künstler, die Persönlichkeit ausstrahlen. Aber ich lege meine ganze Persönlichkeit in die Bilder, entleere mich allein in ihnen.“

In einem Buch über ihn und sein Land könnte es heißen: „China hat sich in den letzten Jahrzehnten wie kein anderes Land der Erde entwickelt. Das Tempo soll anhalten, Ökonomen prognostizieren für das nächste Vierteljahrhundert eine ähnliche Performance. Ein wichtiger kultureller Aspekt ist dabei zweifelsohne die Bewahrung inmitten der Geschwindigkeit. Das Land ist auf Chronisten angewiesen, die die Ordnung der Dinge mit ihrer Kamera für den Bruchteil einer Sekunde anhalten, die der Zeit den Atem nehmen können. Einer von ihnen ist Jack Wen, dessen Bilder Meisterwerke der Fotografie genannt werden dürfen. Sie könnten in einiger Zeit Teil eines unermesslichen Reichtums, Zeugen einer nahen, aber doch fremden Vergangenheit sein.“

So etwas würde Wen gerne lesen. Er nimmt dafür nicht selten Widrigkeiten auf sich, fährt zum Beispiel 40 Stunden und mehr im Zug, um im Süden des Landes Aufnahmen zu machen, quasi einmal durch ganz Europa und wieder zurück. Wen lebt zwar in der Hauptstadt Beijing, meint aber zu wissen, dass das echte und in noch größerem Maße ablichtungswürdige China die Welt der Tradition sei, des Landes, der Bauern und Mönche. Durchschnittlich unternimmt er alle zwei Wochen eine Reise, um sein Arsenal anzureichern, wird „getrieben“, geht nach Sichuan und Tibet, in den Norden und in die Städte. Was er dort findet, sind manchmal, so scheint es zumindest, Überbleibsel und Reste. Greise mit Turban und Pfeife, Kinder in traditioneller Tracht, zwei Mönche werfen Schatten vor einer weißen Wand.

Fakt ist allerdings, dass Wen hauptsächlich ausländische Kundschaft anzieht. „Die Chinesen meinen das ja alles schon zu kennen“, seufzt er. „Und Schwarz-Weiß-Bilder mögen die Menschen hier sowieso nicht gerne, jetzt wo sich alles verändert und modernisiert.“ Nur Farbfotos zeigen an, wohin es gehen soll und die hat Wen nunmal nicht im Repertoire.

Er hängt fest zwischen den Zeiten, versucht, sie miteinander auszusöhnen. „Dabei wird man einsam“, fügt er hinzu. Wen ist kein Herdentier. Er arbeitet niemals mit anderen Künstlern zusammen, ist zwar in einer Assoziation, deren Mitglieder er aber tunlichst meidet. Es gibt für ihn nichts Wichtigeres als Unabhängigkeit, Aufträge aus der Medienwelt lehnt er ab, folgt ausschließlich seinem eigenen Rhythmus. Dazu gehört jedoch auch das Dasein als Junggeselle, das er nicht leicht verwindet, das aber in seinen Augen nicht zu vermeiden ist, will man die nötige Konzentration aufbringen.

Wenn man sich seine Bilder anschaut, meint man, ihn zu verstehen. In seiner Sicht liegt weit mehr als Ästhetik. Als Betrachter kann man sich ausruhen und erbauen. Aber für die kulturelle Gemeinschaft wird hier eine Realität fixiert, die im Begriff ist, die Geschwindigkeit ihrer Verwandlungen zu erhöhen. Wir finden Menschen, Plätze, eine bestimmte Zeit. Die Bilder halten auf eine nachdenkliche Weise fest, sie fühlen mit, sind selbst im Pathos noch auf den Moment bezogen. Ihr Anliegen ist es nicht, einzuzwängen, sondern einzuladen. Sie wollen nichts, sind aber deswegen nicht kraftlos, sie wollen nur gesehen werden. Wenn sie mahnen, dann höchstens sehr still, in den tiefsten Untertönen.

Ob Jack Wen nun mehr und mehr Reputation anhäuft und beispielsweise, wie sein Kollege und Landsmann Yang Yankang, mit dem deutschen Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet wird, oder ob er seine teils schwer gerahmten Bilder solange zum Markt trägt, bis sein Körper es ihm untersagt – was er geschaffen hat, ist in seiner Art herausragend zu nennen und bereits heute von größtem ideellen Wert. Düster sieht die Zukunft für ihn daher auch nicht wirklich aus. Gerade verhandelt er mit einer Gallerie in Fürth bei Nürnberg über eine Ausstellung im nächsten Jahr. Und wenn die Olympischen Spiele 2008 nach Beijing kommen, sollen die Gäste fleißig seinen Bildband kaufen, auch wenn der erst noch geplant, gedruckt und veröffentlicht werden muss – auf eigene Kosten, versteht sich.

Davon ist aber im kalten März auf dem Markt der Hauptstadt nicht viel zu spüren. Nur wenige Besucher nehmen sich die Zeit, seine Bilder ernsthaft anzuschauen. Wenn sie es tun, hält Wen immer erst ein wenig Distanz. „Bei meiner Ware brauchen die Leute keine Beratung. Die steht für sich“, betont er, ohne das junge Mädchen, das gerade in seinen Aufnahmen versinkt, aus den Augen zu lassen. Wenn man ihn verlässt und sich noch einmal nach ihm umsieht, erscheint er nicht wie der Fremdkörper, den man gesprochen zu haben glaubt. Aber das hat man, wenn man aus seinen Bildern wieder auftaucht, vielleicht auch gelernt: Das Wesen der Wirklichkeit ist meist etwas anderes als ihre Erscheinung.

Kontaktadresse des Studios: Photowen@sina.com

Der Autor ist Praktikant bei der deutschen Ausgabe von „China Today“ in Beijing. Er studiert im neunten Semester Soziologie, Philosophie und Politikwissenschaft an der Universität Münster.

 
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