Die traditionelle Wirtschaft Tibets (3)
Langsamer Arbeitsrythmus
In der Land- und Viehwirtschaft und beim nationalen Handwerk
lernten wir die langsame Bewegung als ein bestimmendes Moment
in der Strömung der tibetischen Kultur kennen. Auch das Alltagsleben
und die alltägliche Produktion sind davon beeinflusst.
Auf dem festgestampften Dorfplatz sieht man Einwohner bei harter
Arbeit tanzen und singen. Tibeter lieben es, ihre Arbeit mit Musik
und Tanz zu begleiten. Für manche Arbeiten gibt es sogar
dazugehörige Lieder. Beispielsweise ist in Nordtibet das
Dabpab-Arbeitslied weit verbreitet, in dem man folgendes singt:
Aus kostbarem Boden wird goldengelbe Erde gehoben,
auf unerschütterlichen Fundamenten werden
wuchtige Wände gestampft.
Die Mauer steigt schnell wie ein goldenes Ross empor,
ihre Latten zeigen wie Flügel nach oben,
ihre Enden sind solide wie Sättel.
Die gestampfte Erde strebt zum ewigen Himmel,
die Lattenseile gleichen Schmuckbannern,
die Stützlatten sind stark wie Tiger, Löwe, Phönix
und Drache.
Geschwind stößt der steinerne Stampfer auf und ab.
Gute Eigenschaften besitzen die Maurer:
Sie sind flinker als die göttlichen Handwerker
und die Halle der fünf Schätze wird rasch fertig sein.
Bei Bauarbeiten, besonders beim Bau von Klöstern, singt
man das Dabpab-Arbeitslied mit einer volkstümlichen Melodie
im Rhythmus der Arbeit, wodurch die Arbeiten koordiniert und somit
auch erleichtert werden. Dabei wird alle Müdigkeit vergessen.
Entspanntes, sorgenfreies Arbeiten spiegelt das Besondere an
Tibet wider: eine Tradition des Wirtschaftens, die aus den Bedingungen
der Umwelt geboren wurde. Die Art und Weise, wie man Viehzucht
in den Weidegebieten betreibt, zeugt von einem langen, langsamen
Rhythmus traditionellen Wirtschaftens. Es ist nichts anderes als
der Rhythmus der Natur, dem sich die Tibeter angepasst haben.
Da ist Zeit noch Bestandteil natürlicher Vorgänge und
nicht Schrittmacher der Natur. Von einem Hirtenlied begleitet
zieht langsam eine Viehherde von Weide zu Weide. Das kennzeichnet
den Rhythmus von Wirtschaft und Tradition in Tibet. Zwar beeinflussen
moderne Faktoren zunehmend die traditionelle Wirtschaft und sind
bereits in Land- und Viehwirtschaft wie ins nationale Handwerk
eingebettet, doch die traditionlle Wirtschaft hat ihre tiefer
liegenden Grundlagen im Lebens- und Produktionsrhythmus der ländlichen
und Weidegebiete, der nach wie vor von den Besonderheiten der
Naturalwirtschaft bestimmt wird.
Auch heute veranstalten die Bauern vor der Frühjahrsbestellung
noch immer nach der Tradition eine Zeremonie an einem zuvor bestimmten
Glückstag. Am Vormittag dieses Tages treiben Männer
die mit roten Troddeln und Hadas geschmückten Zugochsen zum
Acker, andere fahren mit ihren Traktoren dorthin. Die Frauen und
Kinder haben sich festlich gekleidet. Sie folgen den Männern
mit Qema und Qingke-Schnaps. Auf ihren Rücken tragen sie
wohlriechendes Gras. Die älteren Dorfbewohner verbrennen
Zypressen- und Kiefernzweige sowie Beifußblätter (Sang)
auf den Feldern und beten für eine reiche Ernte im kommenden
Jahr. Die Pflüger opfern mit Zanba-Mehl und Qingke-Schnaps
den drei Schätzen (Im Buddhismus werden der Buddha,
das Dharma und der Mönch als die drei Schätze
bezeichnet) und nehmen Glückwünsche der anderen Einwohner
entgegen. Danach treiben sie die Ochsen zum Pflügen aufs
Feld, während die Frauen um das von Weihrauch umhüllte
Sang tanzen und dabei singen. So wird der Beginn der
Frühjahrsbestellung gefeiert. Es ist eine alte Tradition,
aber der Einsatz von Traktoren verleiht ihr einen gewissen Hauch
von Modernität. Zugleich werden in dieser Zeremonie der gleichermaßen
ernsthafte wie fröhliche Charakter der Tibeter und die Lebensanschauung
dieser Nationalität kenntlich.
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