Wo Tränen die Mauer zerbrachen
Von Wen Tianshen
Die Große Mauer war immer eine Baustelle. Unter dem Qin-Kaiser
Shi Huang Di (221207 v. Chr.) war mit dem Bau begonnen worden,
doch Erweiterungen, Reparaturen und Restaurierungen zogen sich
über mehr als 2000 Jahre hin. Auch die Herrscher der Ming-Dynastie
(13681644) trugen ihren Teil zum längsten Bauwerk der
Welt bei. Der Ming-General Xu Da baute das Ostende der Mauer aus,
das unmittelbar am Golf von Bohai liegt, einem Ausläufer
des Gelben Meers. Es findet sich nur ein wenig außerhalb
der Stadt Qinhuangdao, heißt Shanhaiguan, Berg-Meer-Pass.
Das Ostende der Großen Mauer war strategisch wichtig. Die
offene See machte den Wall hier verwundbar, der Weg in die Hauptstadt
Beijing musste gesichert werden. Shanhaiguan war deshalb nicht
nur ein simples Tor, hier stand ein Fort, verstärkt durch
Doppelmauern mit Wassergräben und sieben Wachtürme;
die Nord- und Südflügel waren befestigte Unterkünfte
für die Garnisionssoldaten. Gegen einen Feind war Shanhaiguan
jedoch nicht geschützt: gegen Verräter. Ein korrupter
Ming-General ließ im 17. Jahrhundert eine Mandschu-Armee
passieren, die China eroberte und die Qing-Dynastie gründete.
Das Fort, das die Feinde nicht stoppen konnte, ist heute ein
Museum. An seinem Osttor hänge eine gewaltige Erinnerungstafel
mit einen Meter hohen Schriftzeichen. Schriftzeichen, die der
Ming-Gelehrte Xiao Xian dereinst für eine Kalligraphie geschrieben
hatte: Tian Xia Di Yi Guan, Der erste Pass unter dem Himmel.
Daneben eine Ausstellung mit Waffen und Rüstungen, die Krieger
vor 350 Jahren trugen.
Als Xu Da diesen Teil der Großen Mauer baute, der sich
wie ein Drache über die Berge windet, errichtete er am Strand
auch das Fort Ninghai. Es machte Geschichte, als es im Jahre 1900
von alliierten Truppen erobert wurde, die nach Beijing vorstießen,
um das eingeschlossene Diplomatenviertel während des Boxeraufstandes
zu entsetzen. Mit Regierungszuschüssen und Spenden von Einheimischen
und Überseechinesen wird das Fort demnächst restauriert.
Touristen gehen immer an den Fuß des Jiaoshan-Berges. Hier
windet sich die Große Mauer in die Höhe, in regelmäßigen
Abständen von Türmen und Befestigungen unterbrochen.
Von der Bergspitze aus kann man der Drachenmauer mit dem Auge
folgen, bis sie scheinbar ins Meer stürzt.
Dreimal wird die Große Mauer nordöstlich von Shanhaiguan
durchschnitten: durch einen Fluss, einen Pass in einem Tal und
einmal auf halber Höhe eines Berges. Oberhalb der drei Pässe
liegt die Xuanyang-Höhle, die bekannt ist durch 18 Achat-Statuen
und Felsen, die gehenden Menschen ähneln. Ihr Eingang ist
eng und schummrig, doch je tiefer man in die Höhle eindringt,
desto heller wird sie durch einen natürlichen Schacht
fällt Licht in die unterirdischen Hallen.
Einer der schönsten Flecken bei Shanhaiguan ist der Yansai-See.
Eingerahmt von Granitbergen mit phantastischen Silhouetten ist
er berühmt für seine Schluchten und eine Szenerie, die
an Guilin in Südchina erinnert. An seinem Rand liegen gute
Strände und eine halbmondförmige Halbinsel, die sich
in die Mitte des Sees vorschiebt.
Wenn die Große Mauer heute gebaut würde, wäre
es trotz modernster Technik immer noch ein extrem schwieriges
und teures Unterfangen. Allein die Steine und Ziegel, die in der
Mauer verbaut wurden, reichen aus, um einen fast drei Meter hohen
Wall rund um den Erdball zu errichten. Umso erstaunlicher, dass
diese Leistung vor Jahrhunderten erbracht wurde. Doch unter welchen
Opfern. Allein Kaiser Shi Huang Di trieb eine Million Arbeiter
auf die Mammuth-Baustelle, Tausende wurden zu Tode geschunden.
Geschichten über ihr Elend sind in der chinesischen Literatur
Legion. Die bekannteste ist die Legende über Meng Jiangnü,
deren Gatte zur Arbeit an der Mauer befohlen wurde. Als er nicht
mehr nach Hause kam, machte sie sich auf die Suche. Monatelang
wanderte sie umher, und als sie schließlich nach Shanhaiguan
kam, erfuhr sie von seinem Tod. Die Leiche war in das Fundament
der Mauer geworfen worden. Tage und Nächte lang saß
sie neben dem Bauwerk, bis, so die Sage, die Mauer schließlich
aufbrach und des Gatten Leichnam freigab. Noch heute erinnert
ein Tempel an Meng Jiangnü. Über ihrer Statue heißt
es auf einer Inschrift: Möge ihr Name bis in die hundertste
Generation bekannt bleiben. Und hinter ihrem Tempel liegt
ein Felsbrocken, in den drei Schriftzeichen eingemeißelt
sind. Wang Fu Shi lauten sie, Warten auf den Gatten-Felsen.
Jahrtausende lang ist an der Großen Mauer gebaut worden,
und es wird auch heute noch gebaut. Ein 24 Kilometer langes Stück
bei Shanhaiguan wird restauriert, das Fort am Alter-Drachen-Kopf
ist fertig gestellt, das Fort Ninghai wird bald folgen. Neue Straßen
werden den Yansai-See, Jiaoshan, die Xuanyang-Höhle und den
Tempel der Meng Jiangnü verbinden. Bis 1995, so die Planungen,
wird das Mauerstück bei Shanhaiguan eine der interessantesten
Touristen-Attraktionen Chinas sein.
Aus China im Aufbau, Nr. 3, 1987
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