Chunjie in Hong Kong

Von Michael Müller

Als Austauschstudent in China möchte man natürlich auch etwas vom Reich der Mitte sehen, und was bietet sich da Besseres an, als die Ferien zur Zeit des Frühlingsfestes (chinesisch: „Chunjie“) zu nutzen, um mehr von diesem interessanten Land zu erfahren. Denn eines ist schon aufgrund der geographischen Ausmaße klar: China ist nicht gleich China – Land und Leute sind so wechselhaft wie die Geschichte des Landes. Osten und Westen, Süden und Norden; das sind in China Unterschiede von unvorstellbarer Tragweite. Sitten und Gebräuche, die Eigenarten und Vorlieben der Menschen, das Essen – nichts ist einander ähnlich. Ein Beispiel: Während die Menschen im Süden Chinas Reis als Speise bevorzugen, fällt es Nordchinesen schwer, dies nachzuvollziehen. Ihrer Ansicht nach ist Reis lediglich eine Beilage, die ihren Nutzen hauptsächlich aus der Tatsache bezieht, vorzüglich den Hunger zu stillen. Selbst die Sprache mit vielen Dialekten ist von Region zu Region derart unterschiedlich, dass eine mündliche Verständigung nur schwer möglich ist.

So zog es mich kurz vor Beginn des traditionellen Frühlingsfestes mit ein paar Freunden hinaus aus Beijing. Unser Bestreben war es, zumindest einen kleinen Einblick in die Mannigfaltigkeit Chinas zu erhaschen. Mit Beijing – wörtlich: die nördliche Hauptstadt – als Ausgangspunkt ergab sich unsere Reiserichtung quasi von selbst: Wir befanden uns im Norden, also ab in den Süden. Unser erstes Ziel war Hong Kong.

Den Zug als Fortbewegungsmittel konnten wir leider nicht wählen, da zur Zeit des Frühlingsfestes halb China auf Reisen zu sein scheint. Schon seit Jahrzehnten wird das Fest im engen Kreis der Familie gefeiert und so pilgern mehrere Millionen Menschen Jahr für Jahr um diese Zeit zurück zu ihrem Heimatort, zurück zur Familie. Kaum verwunderlich, dass es sich als unmöglich herausstellte, zur dieser Zeit einige der begehrten Bahntickets zu erhaschen. So blieb uns nur das Flugzeug, um nach Hong Kong zu reisen.

Hong Kong, wörtlich übersetzt der duftende Hafen, empfing uns mit offenen Armen. Die Temperaturen waren bereits sommerlich warm und stellten eine willkommene Abwechslung zur Beijinger Kälte dar. „Das ist also Hong Kong…“, dachten wir. Ehemals britische Kronkolonie, nun wieder mit dem Vaterland vereint. Doch Hong Kong ist bei weitem nicht assimiliert, vielmehr hat es sein Flair und seinen Charme über die Jahre hinweg nicht verloren. Noch immer ist das britische Erbe allgegenwärtig. Ein kurzer Blick auf den Straßenasphalt verdeutlicht dies. „Watch right“ steht dort in großen gelben Lettern geschrieben. „Watch right“ – wieso das denn? Ach ja, der gute alte britische Linksverkehr, hier in Hong Kong lebt er fort und bereitet so manchem Neuankömmling Schwierigkeiten.

Ein weiterer großer und zugleich erfreulicher Unterschied zu den in Beijing gemachten Erfahrungen besteht in der Tatsache, dass die Hong Konger scheinbar keine Schwierigkeiten haben, sich gesittet in einer Reihe anzustellen. Sei es vor dem Kino, einem Essensstand oder auch nur vor dem Bus, überall gilt das Prinzip: wer zuerst kommt, der ist auch als Erster an der Reihe.

Zu unserer Überraschung präsentierte sich Hong Kong jedoch keineswegs so hektisch und schnelllebig wie es die Lektüre zahlreicher Reiseführer hätte vermuten lassen. Die Straßen waren im Vergleich zu Beijinger Verhältnissen geradezu leer gefegt. Traf man Menschen auf der Straße, so schlenderten diese genüsslich in der Nachmittagsonne umher, meist mit einem Eis in der Hand, wie um den Eindruck völliger Entspanntheit zusätzlich zu unterstreichen. Eine freundliche Hong Konger Dame klärt uns auf: „Hong Kong zur Zeit des Frühlingsfestes ist kaum wieder zu erkennen. Das ist nicht das wahre Hong Kong. Leer und langsam, nein, so geht es hier sonst nicht zu. Das Chunjie bringt die Familien Chinas zusammen und so reist die Großzahl der Hong Konger nach Hause zu ihren Familien ins Festland.“ So unterschiedlich Hong Kong auch sein mag, chinesisch ist es eben auch.

Unser erster Tag in Hong Kong neigte sich langsam dem Ende entgegen, als uns ein Mann auf der Straße einen Hinweiszettel auf die zahlreichen Veranstaltungen rund um das chinesische Frühlingsfest gab. Auf diese Weise erfuhren wir, dass auf der anderen Seite der Bucht von Hong Kong, auf Hong Kong Island am selben Abend ein großer Umzug stattfinden sollte. Die Rede war von prachtvollen chinesischen Kostümen, Drachentänzen, bunt geschmückten Umzugswagen und und und. Als kleiner Vorgeschmack befand sich vor einem Einkaufszentrum bereits ein chinesischer Drache auf seiner Jagd nach der Kugel. „Wahnsinn“, dachten wir. Die Vorfreude war riesengroß, und wir konnten es kaum erwarten, mit der Fähre auf die Hong Kong Island überzusetzen.

Dort angekommen war kaum an ein Durchkommen zu denken. Tausende von Menschen säumten bereits die abgeriegelten Straßen. Wie in aller Welt sollten wir da auch nur einen kurzen Blick auf das lustige Treiben des eigentlichen Umzuges erhaschen? Doch gemäß dem Sprichwort „Unverhofft kommt oft“ gelang es uns schließlich doch noch. Offensichtlich waren einige westliche Touristen des langen Wartens überdrüssig und zogen noch vor Beginn der Feierlichkeiten von dannen. Was wir zu diesem Zeitpunkt nicht wissen konnten: Sie trafen eine weise Entscheidung. Denn was uns nach weiteren 50 Minuten Wartezeit geboten wurde, entzieht sich jeglicher Beschreibung. Im Abstand von drei Minuten zogen kleine Gruppen zu cirka 10 Mann durch die Gassen, mal verkleidet als Micky Maus und Donald Duck, mal als Werbeträger für die lokale Hunderennbahn oder gar als amerikanische Cheerleader. Dementsprechend groß war unsere Enttäuschung. Von bunten Kostümen, Drachentänzen oder anderen traditionellen chinesischen Elementen war weit und breit keine Spur. So zogen wir es zur Mitte des Umzuges vor, den Heimweg in unsere Jugendherberge anzutreten. Alle Hoffnungen lagen auf dem nächsten Tag, dem Tag des großen Feuerwerks.

Der begann denn auch mit gewohnt schönem Wetter. Blauer Himmel und strahlender Sonnenschein lockten uns auf den Victoria Peak hinauf. Leider waren wir nicht die einzigen, die das schöne Wetter für einen solchen Ausflug nutzen wollten, und bereits in den frühen Morgenstunden bildete sich eine lange Schlange von der Bahn hinauf auf den berühmten Aussichtspunkt. So machten wir uns per pedes auf den Weg. Was wir zu dem Zeitpunkt noch nicht wussten: 90 Minuten beschwerlicher Aufstieg lagen vor uns. So mühsam der Aufstieg zu Fuß auch war, der wunderschöne Ausblick entlang des Weges entschädigte für jeden vergossenen Schweißtropfen. Strahlender Sonnenschein gepaart mit einem azurblauen Himmel boten die Kulisse für beeindruckende Photoaufnahmen. Hong Kong von oben – einfach schön.

Oben angekommen schien es, als wäre überhaupt kein Platz mehr, so viele Menschen drängten sich auf der Spitze des Berges. Schöner Ausblick? Weit gefehlt. Zahlreiche Absperrungen und Maschinen der lokalen Baustelle verwehrten den Besuchern jeglichen Ausblick auf die Stadt. Grund: Um den enormen Andrang an Besuchern besser verarbeiten zu können, wird oben auf dem Victoria Peak nun eine eigens angefertigte Aussichtsplattform errichtet. Dumm nur, dass bis zur Fertigstellung dem Besucher die Aussicht vorenthalten wird. So waren wir letztlich froh, zu Fuß den Berg erklommen zu haben und wenigstens beim Aufstieg in den Genuss der herrlichen Aussicht gekommen zu sein. Abwärts bevorzugten wir – und vor allem unsere Füße – den Bus.

Dann war es endlich soweit. Der Abend rückte näher, es dämmerte bereits. 18 Uhr, noch zwei Stunden bis zum großen Feuerwerk also. Doch bereits jetzt machten sich in den Straßen spürbar Unruhe und Spannung breit. Jeder wollte es sehen, und wenn möglich von der ersten Reihe aus. Wir ließen uns davon jedoch nicht anstecken und schlenderten weiter gemütlich durch die Straßen Hong Kongs. Ein kurzer Abstecher zu den hinlänglich gepriesenen Märkten war zeitlich noch machbar. Ein Marktstand drängte sich an den nächsten. Das Auge wurde Mal um Mal von funkelnden, blitzenden, farbenprächtigen Dingen angezogen, und so kam es, dass wir völlig die Zeit vergaßen. Plötzlich ein Aufschrei: „19.40 Uhr, nur noch zwanzig Minuten und wir müssen noch zum Hafen,“ bemerkte meine Freundin richtig. Also, nichts wie los! Im Eilschritt machten wir uns auf den Weg – doch waren wir nicht die einzigen. Wahre Menschenmassen drängten in Richtung Hafen. Je mehr man sich dem Ziel näherte, desto dichter drängten sich die Massen. 100 Meter vor der Bucht – kaum noch ein Durchkommen. Es war wie in einem Dominospiel, würde nun einer umfallen, würde er zwangsläufig alle anderen um ihn herum mit sich in die Tiefe ziehen. Doch von Panik keine Spur. Die Blicke der Menschen richteten sich geschlossen gen Himmel. Bald musste es losgehen – Spannung und freudige Erwartung allenthalben.

Dann, pünktlich um 20 Uhr verwandelte sich der dunkle Abendhimmel in ein rauschendes Meer von Farben. Feuerwerksraketen tauchten den Horizont abwechselnd in tiefes Rot, giftiges Grün oder strahlendes Gelb. Vom ersten Schuss an kam das Auge des Betrachters nicht mehr zur Ruhe, in solch einem enormen Tempo zischten die Raketen gen Himmel. Alleine die Quantität war beeindruckend. Nicht selten traten vier, fünf, wenn nicht gar sechs Knaller gleichzeitig ihren Weg in den Abendhimmel an und explodierten unter krachendem Getöse, zerbarsten in allerlei Farben und sorgten somit für ein Spektakel der besonderen Art.

Doch nicht nur die enorme Bandbreite der unterschiedlichen Raketen war beeindruckend. Auch die Qualität war herausragend. Selten folgten zwei Geschosse derselben Art aufeinander. Immer wieder gelang es den Veranstaltern, durch geschicktes Auswählen der einzelnen Feuerwerkskörper die Menschenmasse in lautes Staunen zu versetzten. Ob „Ohhh!“ oder „Ahhh!“-Rufe, die Begeisterung der Menschen manifestierte sich lautstark bei den staunenden Menschen – ohne Zweifel ein unvergessliches Erlebnis für jeden Anwesenden.

Zwanzig Minuten waren mittlerweile vergangen, und ein Ende noch nicht in Sicht. Noch immer folgte ein Farbenblitz dem nächsten. Dennoch beschlich mich das Gefühl, dass hinter dem scheinbar wahllosen Abschießen der Raketen eine Choreographie verborgen lag. Unterschwellig führte diese die Zuschauer auf den nahenden Höhepunkt hin. Dieser musste auch dringend kommen, denn die zahlreichen, durch das Feuerwerk verursachten Rauchschwaden verdunkelten zusehends die Sicht über die Bucht.

So folgte das „große Finale“ – eine pausenlose Verkettung von unzähligen Böllern, Raketen und anderen Neujahrsgeschossen, die noch in weiter Entfernung wahrzunehmen sein musste. Was die Nebelschwaden an Farbenpracht verschluckten, schien der Lärmpegel wettmachen zu wollen. Nicht wenige mussten sich die Ohren zuhalten, dermaßen hoch war der Geräuschpegel. Dann - schlagartig - war Schluss. Eine letzte Rakete fand ihren Weg Richtung Himmel. Stille. Erst langsam begriffen die Zuschauer, was sich gerade vor ihren Augen abgespielt hatte. Derart unglaublich, dass sich mir unweigerlich die chinesische Redewendung ???? (wu hua ba men) aufdrängte.

Langsam machten sich die Menschen auf ihren Nachhauseweg, tief beeindruckt von dem Spektakel, welches ihnen soeben in den vergangenen 30 Minuten dargeboten worden war. Auch wir ließen uns vom Menschenmeer Richtung Jugendherberge treiben. Vom Fenster aus beobachteten wir, dass es noch einige Stunden dauerte, bis sich der Menschenauflauf wieder aufgelöst hatte und auch die Letzten den gewünschten Heimweg antreten konnten.

Der Autor studiert mit dem DAAD-Stipendium Sinologie an der Peking-Universität.

 
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