Buchbesprechung:
Das irdische Dasein
Von Klaus Meyer zu Brickwedde
"China
ist ein Drache, der Kopf reicht schon in die Postmoderne, der
Schwanz steckt noch im Zeitalter des Ackerbaus", heißt
es in der Geschichte Mit den Augen eines Geldscheins des chinesischen
Schriftstellers Zhang Shoushan.
Es ist unschwer zu erkennen, dass der Literat mit dieser Metapher
zeigen möchte, wie vielseitig sich das moderne China darstellt,
in welchen Widersprüchen es befangen ist und welche Entwicklung
noch vor ihm liegt, aber auch welche es bereits vollzogen hat.
Gleichzeitig lässt sich mit diesem Bild aber nicht nur ein
Daseinsausschnitt der Menschen des Landes erkennen, es ist auch
der Schlüssel zum Verständnis des Buches, in dem dieses
literarische Werk neben anderen abgedruckt ist, der Anthologie
Das irdische Dasein.
Die Welle um den Preis
Bei Das irdische Dasein handelt es sich um eine Sammlung von
Kurzgeschichten, denen zwei Dinge gemeinsam sind: Erstens wurden
sie in China geschrieben und zweitens wurde in ihnen chinesisches
Leben festgehalten. Der Hintergrund der Anthologie ist folgender:
Unter der Schirmherrschaft des ehemaligen deutschen Außenministers
Hans-Dietrich Genscher initiierte der öffentlich-rechtliche
Rundfunksender Deutsche Welle einen Literaturpreis für das
Reich der Mitte. Nachdem die Deutsche Welle, die sich als Träger
auswärtiger Kulturpolitik versteht, bereits 1985 mit einem
Literaturpreis in Schwarzafrika begonnen und sich seitdem in vielen
verschiedenen Ländern um eine Annäherung bemüht
hat, konzentrierte sie sich zur Jahrtausendwende auf die über
eine Milliarde chinesischen Schicksale und die damit verbundenen
Geschichten.
Die Reaktionen waren erstaunlich, zwischen mehr als 1150 Einsendungen
musste sich die Jury entscheiden. In Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut
Inter Nationes und dem Buchinformationszentrum Beijing konnte
die Deutsche Welle infolgedessen die bemerkenswerte Anthologie
erstmals 2001 beim Foreign Language Teaching and Research Press
veröffentlichen und damit, wie es das Programm des Senders
vorsieht, einen Beitrag zur "Verständigung zwischen
den Völkern" leisten.
Mit Backenbart auf dem Balkon
Der Gewinner des Wettbewerbs ist dabei Wang Jianping mit seiner
Geschichte Altmüll, einer Geschichte, in der mehr als nur
eine Facette des menschlichen Lebens in China berührt und
verarbeitet wird. Der Leser erfährt nicht viel über
die Identität des Protagonisten, "Backenbart" wird
er schlicht genannt. Und dennoch gelingt es dem Autor, auf wenigen
Seiten ein eindrucksvolles Porträt der Figur und der Zeit
zu zeichnen. Als Leser wartet man mit Backenbart auf das Alter
und das mit der drohenden Arbeitslosigkeit einhergehende Elend.
Man begleitet ihn in die Fabrik, in der er früher mal jemand
war, in der er heute dagegen als Dieb verhört wird. Man erinnert
sich mit ihm an den Vater, der nach einer Operation seine Seele
verloren und mit dem Backenbart seit Jahren nicht gesprochen hat.
Man betrachtet mit ihm seine Frau, die er manchmal schlägt,
der er aber doch so viel mehr Zärtlichkeit geben möchte.
Man schämt sich mit ihm vor dem Sohn, dem Backenbart Fleisch
versprochen hat, das er aber nicht bezahlen kann. Man steht mit
ihm auf dem Balkon und sucht nach irgendetwas, irgendeinem Grund,
irgendeinem Detail, das für den weiteren Verlauf seines Schicksals
spricht. Der offene Schluss regt den Leser zum Nachdenken an.
Altmüll ist eine faszinierende Geschichte. Nicht obwohl,
sondern gerade weil ihr ein konkretes dramaturgisches Konzept
fehlt, kann sie eine Atmosphäre höchster Intimität
zwischen Leser, Autor und Protagonisten vermitteln. Der Leser
weiß nicht, wer dieser Backenbart ist, wird aber in seine
Welt eingeführt, erfährt seine Ängste und Nöte,
seine Vergehen und Missetaten und muss sich vielleicht letzten
Endes eingestehen, dass hier nicht einfach nur ein besonderer
Charakter des Landes, sondern in gewissem Sinne ein menschliches
Urbild verdichtet wird.
Von Traktorfahrern und Hundehäufchen
Allerdings ist unter den Preisträgern nicht nur Wang Jianping
hervorzuheben. Sie alle haben mit ihrem Beitrag ein Stück
spezifisch chinesischen und menschlichen Daseins offengelegt und,
wie man es auch sagen könnte, dem Rest der Welt zur Anschauung
gebracht. So schreibt Cui Zi'en in Das irdische Dasein meines
Onkels über einen Mann, der die Eigenschaften einer Frau
besitzt und aufgrunddessen enorme Konflikte in der Familie und
der Umgebung durchstehen muss. Auffällig ist bei dieser Geschichte
die poetische und sinnliche, teils aber auch sehr direkte Sprache.
In unser Dorf kommt ein Traktor von Shui Tu steht dagegen für
die wirre Zeit in der Landwirtschaft während der Kulturrevolution
(1966-1976) und die damit einhergehenden Veränderungen in
der dörflichen Gemeinschaft. Illustriert wird das Thema an
einem Jungen, der seine Geliebte an den von allen bewunderten
Traktorfahrer zu verlieren droht, das Gefährt infolgedessen
sabotiert und beinahe wegen feindlicher Spionage angeprangert
wird. Der pointierte Ausgang signalisiert die Schicksalswende
des Helden nach der Kulturrevolution.
Nicht ganz so dramatisch ist die schon erwähnte Geschichte
Mit den Augen eines Geldscheins von Zhang Shoushan, die dem Leser
vorführt, welche unterschiedlichen Verwendungen die Chinesen
heutzutage für einen 100-Yuan-Schein finden: Die einen heben
damit die Kothäufchen ihrer Schoßhündchen auf,
die anderen kaufen sich damit drei Töchter, um beim Eintritt
in den Himmel nicht zum Gespött der Jenseitigen zu werden.
Die landschaftliche Wildnis Chinas und die örtliche, aber
auch psychische Nähe zwischen Menschen und wilden Tieren
sind das Thema von Muttermilch, geschrieben von Guo Xuebo. Nachdem
ihre Jungen von Menschen erschossen worden sind, raubt eine Wölfin
ein Bauernkind und verwundet dessen Mutter im Kampf schwer. Sie
nährt das Kind an ihrer Brust und flieht mit ihm vor dessen
Vater in die Wüste. Aber als das Kind wie ein Wolf trinken
will, fällt es in einen See und kommt - wie die Wölfin,
die das Kind zu retten versucht - zu Tode.
Bei der Geschichte Die Gene des Lao Ma von Peng Liqi geht es
um die Manipulation der Genforschung durch die Verführung
von korrupten Beamten. Am Beispiel von Niu Zixu wird gezeigt,
wie ein Forscher Korruption und Vetternwirtschaft zum Opfer fällt.
Die Völker unterhalten
Die Anthologie Das irdische Dasein ist beides, eine Sammlung
lesenswerter Shortstorys auf der einen Seite und ein Brückenschlag
zwischen zwei einander noch relativ fremden Völkern und Kulturen
auf der anderen Seite. Einerseits werden in dem Buch sowohl ganz
unterschiedliche Seiten in jüngerer oder jüngster Vergangenheit
Chinas als auch ganz unterschiedliche Züge des menschlichen
Lebens und Wesens vorgeführt von Autoren, die verschiedenen
Generationen angehören, verschiedene Biografien aufweisen
und folglich eine große Varianz an Erfahrungen in ihre Geschichten
einbringen können. Das trägt andererseits zur Anreicherung
des Bildes bei, das sich der Fremde vom heutigen, aber auch vom
jüngst vergangenen China macht. In dieser Hinsicht ist der
Gebrauch des Begriffs "Völkerverständigung"
zutreffend und sinnvoll. Denn wer verstehen will, was das chinesische
Volk in diesen Zeiten bewegt, was es sich in diesen Zeiten in
Erinnerung ruft, um zu rekapitulieren und vielleicht zu bewältigen,
kann seinen Wissensdurst durch die Lektüre zumindest ein
wenig stillen. Zu erwähnen ist zudem, dass sich parallel
zum chinesischen Original eine gelungene deutsche Übersetzung
bietet, bei der die Literarität der Werke bemerkenswerterweise
gut bewahrt wird. Insofern ist das Buch nicht nur für Deutschlernende,
sondern auch für deutschsprachige Leser sehr empfehlenswert.
Das irdische Dasein - Deutsche Welle Literaturpreis China, herausgegeben
von Sabine Peschel, Zhang Xiaoying, Foreign Language Teaching
and Research Press, Beijing 2001. ISBN 7-5600-2436-X/H·1269
Der Autor ist Praktikant bei der deutschen
Ausgabe von "China Today" in Beijing. Er studiert im
neunten Semester Soziologie, Philosophie und Politikwissenschaft
an der Universität Münster.
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