Mit meinen eigenen Augen

Die Dorfwahlen in China aus dem Blickwinkel der Betroffenen

Von Katharina Schneider-Roos

Caochangdi Workstation, das Produktionsstudio von Wu Wenguang, Chinas Dokumentarfilmpionier und seiner Partnerin Wen Hui, der Gründerin von Living Dance Studio, ist schwer zu finden. Doch hat man einmal die richtige Abzweigung gefunden, sticht die Anlage aus roten Ziegeln, die von dem Stardesigner und Künstler Ai Weiwei entworfen wurde, einem ins Auge.

In der Halle, die auch für die Tanzproben benutzt wird, sind die Fotos des Wettbewerbs über die Dorfwahlen aufgehängt, die Jury debattiert gerade über die Preisvergabe. Der Wettbewerb, der vom EU–China Training Programme on Village Governance, einem gemeinsamen Projekt der Europäischen Union und der chinesischen Regierung ausgeschrieben wurde, beinhaltet drei Teile: kurze Dokumentarfilme von Studierenden, kurze Dokumentarfilme von Dorfbewohnern und Fotos, alle zum Thema Dorfwahlen in China. Außerdem wird ein Dokumentarfilm namens Seen and Heard von Jian Yi den Entstehungsprozess der Kurzfilme der Bauern festhalten.

Das Projekt

Jian Yi, Verantwortlicher für PR und audiovisuelle Materialien des EU China Training Programme on Village Governance, fragte Wu Wenguang 2004, ob er einen Dokumentarfilm über die Dorfwahlen machen könnte. Dieser lehnte jedoch ab, da er meinte, dass diese Form der Darstellung nicht die gewinnbringendste sei. Im Mai bat Jian Yi Wu Wenguang zu einem neuen Gespräch, in dem Wu ihm seine Idee, mit jungen Leuten und Bauern zusammenzuarbeiten, darlegte. Das Thema des Projektes soll junge Leute unter 30 und Dorfbewohner zusammenbringen, die diese große Umwälzung und die damit einhergehenden Probleme aus ihren Augen darstellen sollen. Ihnen sollten Kameras zur Verfügung gestellt weden, mit denen sie aus ihrem eigenen Blickwinkel Ereignisse rund um die Wahlen darstellen könnten. Wu sagt: „Das Ziel des Projektes ist, das Thema Dorfwahlen in die Medien zu bringen und es vor allem den Städtern näherzubringen. Viele Städter wissen nicht, dass die Dorfbewohner so viel Macht haben. Die Kommunikation zwischen Stadt und Land muss sich verbessern. Die Wahlen in der Stadt sind nicht so effektiv und haben nicht so große Auswirkungen. In den Dörfern gibt es klare Themen wie Wasser- und Stromversorgung. Dinge, die dringend benötigt werden. In den Städten sind die Themen unklarer.“ Das Projekt wurde im September 2005 im Internet und in den Zeitungen Nanfang Zhoumo und Nanfang Dushibao ausgeschrieben und eine von der EU bestimmte Jury wählte aus den vielen Einsendungen von Treatments jeweils zehn Teilnehmer für jede Filmkategorie und 100 Fotografen aus 17 Provinzen Chinas aus.

Eine Frage der Technik

Bis auf zwei Teilnehmer hatten die zukünftigen Regisseure aus den Dörfern noch nie eine Digitalkamera in der Hand gehabt. Sie hatten aber alle den Drang verspürt, sich auszudrücken und ihre Umgebung durch die Kameralinse darzustellen. Die zehn Auserwählten sind eine fassettenreiche Gruppe im Alter von 24 bis 59 Jahren, in der zwei Frauen und zwei Vertreter von nationalen Minderheiten vertreten sind.

Im November 2005 wurden die Teilnehmer zur Caochangdi Workstation eingeladen, um dort den Umgang mit der Kamera zu lernen. Während des Workshops hatten die Teilnehmer auch die Chance, einander kennen zu lernen und ihre Filmideen miteinander zu besprechen und weiterzuentwickeln. Danach gingen sie ans Werk. Wu Wenguang und Jian Yi halfen bei technischen Problemen aus.

Zur Postproduktion kamen die Teilnehmer wieder in der Caochangdi Workstation zusammen. Dabei wurden sie, was die Technik betrifft, von Cuttern unterstützt.

Die Filme

Die vorliegenden Filme halten sich unterschiedlich eng an das Thema Dorfwahlen. In Nong Kes (59 Jahre, Vertreter der Zhuang-Nationalität aus Guangxi) Beitrag A Welfare Council wird der Entscheidungsfindungsprozess eines Dorfes nachvollzogen. Die Dorfbewohner versammeln sich auf dem Dorfplatz und sollen über die Vergabe der Wohlfahrtsgelder entscheiden. Unterstützungswürdige, wie Familien mit Kranken oder Schulkindern, sollen nun vortreten, doch sie sind peinlich berührt. Ein Mann sagt: „Wir haben doch alle kein Geld. Teilen wir es doch gleichmäßig auf alle Dorfbewohner auf.“ Doch letzendlich wird über die genannten Fälle abgestimmt. Die Namen der Bedürftigen werden auf eine Tafel geschrieben und Schalen unter jeden Namen gestellt. In die Schalen werfen die Dorfbewohner einer nach dem anderen Bohnen. Geheim ist die Wahl zwar nicht, aber immerhin wird gewählt.

Weitere Filme handeln von einer Wahl, die annulliert wird wegen Verfahrensfehlern, von Meinungsverschiedenheiten über das touristische Angebot von Reitpferden für das Erklimmen eines heiligen Berges, von der Landzuteilung, usw. Ein Film, der auch den ersten Preis erhielt, sondert sich ein wenig von den anderen ab. Die 55-jährige Regisseurin Zhao Yuzhen zeigt in ihrem Kurzfilm I film my Village ihr Dorf in der Umgebung Beijings und seine Bewohner. Sie hält ihren Bekannten einfach die Kamera vor die Nase, bis diese fragen: „Was filmst du denn da?“ Ihre Antwort ist: „Dich!“ Meistens vertrollen sich die Gefilmten daraufhin. Als ein Gefilmter aber wissen will, aus welchem Grund sie das tut und dabei ein wenig unwirsch wird, sagt sie: „Ich mache das nicht für irgend jemanden. Ich mache das nur für mich.“ (Mei you bie ren de yisi. Zhi you wode yisi.)

Der letzte Film in der Reihe ist von Yi Chujian, (männlich, 26 Jahre, ein Dorfbewohner aus Zhejiang, der als Kameramann für ein Hochzeitsstudio in der angrenzenden Stadt arbeitet) mit dem Titel Did You Vote in Our Village’s Last Election? Er handelt von jungen Leuten aus einem Dorf, die in der Stadt arbeiten. Der Regisseur, der offensichtlich mit allen befreundet ist, befragt sie zum Thema Dorfwahlen. Wurden sie von ihren Eltern über die Wahl verständigt? Gingen sie wählen? Die Antworten sind überraschend gleich. „Nein, wir wurden nicht verständigt. Wir sind noch jung und unsere Eltern wissen, was das Beste ist. Hätten sie mich verständigt, wäre ich wahrscheinlich auch nicht extra hingefahren, um zu wählen, ich habe zu viel zu tun.“ Ein pessimistischer Abklang der Reihe.

Die Jury hat ihre Wahl getroffen. Die Debatte, an der eine Auswahl städtischer Intellektueller und Filmwissenschaftler teilnahm, ging ein wenig über die Köpfe der drei teilnehmenden Bauern vorbei. Es ist ein löblicher Versuch, die Dorfbewohner auch in die Jury aufzunehmen, aber es war eindeutig, dass der Raum in zwei geteilt war. Die Städter schwelgten in intellektuellen Analysen über „sie“, die Bauern. „Sie“ sagten nicht viel dazu.

Ein Jurymiglied meinte, dass die Werke der Bauern einander gleichen. Es wäre, als ob sie Klassenkameraden aus einer Schulklasse wären. Man müsse die Werke zusammen als Gesamtwerk betrachten. Zhang Yaxuan, Filmkritikerin für Dokumentarfilme und ebenfalls Jurymitglied, meinte: „Wir können lernen, aus ihrem Blickwinkel ihr Dorf und ihr Leben zu betrachten. Die Filme haben manchmal direkt und manchmal indirekt mit den Wahlen zu tun. Leider sind die Kurzfilme wirklich kurz und bieten nicht genug Zeit und Platz für genauere Darstellung der Themen. Ich hoffe, es gibt eine Möglichkeit für sie, in dieser Richtung weiterzumachen.“

Die Zukunft

Die Filme werden in Beijing im April 2006 bei Cherry Lane einem ausländischen Publikum gezeigt. Im Ausland werden die Filme vorerst an Universitäten, wie der Yale University im März 2006 gezeigt. Außerdem sollen die Filme an Film Festivals in Hong Kong und Singapur teilnehmen. Wu Wenguang sagt: „Die Demokratisierung ist ein langsamer Prozess. Dies ist ein kleiner Anfang.“



 
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