China baut ein Präventionsnetzwerk gegen Selbstmord auf
Von Liu Jun und Wen Chihua
Es
ist ein grauer Samstagmorgen, die Sonne geht gerade auf. Staubige
Lastwagen und hupende Busse hetzen über die belebte Nanjing-Brücke.
Ein einsamer Schwimmbagger tuckert 100 Meter weiter unten im Wasser
des Yangtses. Ein beleibter Mann mit Igelschnitt, über dreißig,
steht an einer Ecke und beobachtet die Fußgänger.
Er durchsucht das plötzlich auftauchende Mosaik der Gesichter,
sucht die ganze Zeit nach einem bestimmten Ausdruck, einer Gangart,
einer markanten Körpersprache, die er am besten beschreiben
kann als Mensch ohne Seele.
Man muss schnell sein, sagt Chen Si, 37. Der
Absprung ist eine Sache von Sekunden.
Indem Chen die meisten Wochenenden in den letzten zwei Jahren
hier gestanden und aufgepasst hat, konnte er 82 Selbstmordwillige
von ihrem Vorhaben abbringen.
Ich will verzweifelten Menschen Hoffnung geben, sagt
Chen, der in der Woche Verkäufer in einem kleinen Laden ist,
am Wochenende aber zu einer Ein-Mann-Hilfsorganisation wird.
Einige haben sich meinem Griff entwunden und in den Fluss
gestürzt... Ich war nicht schnell genug..., seufzt
er.
Eine Person alleine reicht dafür nicht aus.
Seit ihrer Eröffnung 1968 hat diese Brücke aus Stahl
und Beton in der Provinz Jiangsu mehr als 1000 Selbstmörder
angezogen.
Nicht dass jemand zählt China verfügt über
kein staatliches Selbstmord-Meldesystem. Die Untersuchung des
Tabu-Themas hat erst vor einigen Jahren begonnen, wobei viele
Fragen unbeantwortet bleiben, sagt Dr. Michael Phillips, verantwortlicher
Direktor des Forschungs- und Präventionszentrums für
Suizid in Beijing, das erste seiner Art in China.
Nach offiziellen Angaben ereignen sich jährlich 250 000
Selbstmorde in China, das sind 685 pro Tag. Dr. Phillips gibt
für den Zeitraum zwischen 1995 und 1999 jährlich 287
000 Suizide an. Obwohl nur jeder achte Versuch glückt, ist
Selbstmord nach Krebs, Herzkrankheiten, Hirnblutungen und
Atemwegserkrankungen die fünfhäufigste Todesursache
im Reich der Mitte.
Statistisch gesehen bringen sich in China 23 von 100 000
Menschen um, bemerkt Dr. Phillips.
Dabei wird durch einen Selbstmord nicht nur die engste Familie
erschüttert, sondern durchschnittlich sind auch mindestens
30 weitere Verwandte und Freunde von dem Vorfall betroffen, was
sich in ihrem psychischen Zustand, aber auch in ihrer Arbeitsleistung
äußert, erklärt Professor Zhai Shutao von der
Neurologischen Klinik von Nanjing, der ersten Klinik, die eine
Handlungsinitiative hinsichtlich des Themas bereits 1985 entwickelt
hat.
Bei mehr als 90% der selbstmordgefährdeten Personen lassen
sich die Anzeichen bereits früh erkennen, sagt Zhai, der
20 Jahre an vorderster Front gekämpft hat. Ein Selbstmordversuch
geht immer einher mit Anzeichen von Verzweiflung und entsprechenden
Äußerungen. Dabei gibt es situationsbezogene Indikatoren,
wie beispielsweise wirtschaftliche Not oder familiäre Schwierigkeiten,
aber auch emotionale Hinweise, die sich an Veränderungen
im Verhalten und im Arbeitsvermögen ablesen lassen.
Nach Angaben von China Youth Daily sprang Meng Yi ein
Doktorand am Shanghaier Institut für Organische Chemie, das
zur Chinesischen Akademie der Wissenschaften gehört
am 20. August 2005 aus dem siebten Stock eines Hochhauses. An
jenem Morgen, so das Blatt, hinterließ Meng eine Nachricht
in seinem Schlafzimmer, die beschreibt, wie lebensmüde
und depressiv er war. Ein Freund fand die Nachricht und
begann, ihn gemeinsam mit dem Mentor von Meng zu suchen. Zwar
entdeckten sie Meng, 26, und konnten ihn von seiner Idee abbringen,
aber gerade als sich die Situation zu entschärfen schien,
entwand sich Meng aus dem Griff seines Freundes, rannte den Flur
hinunter und stürtze sich aus einem Fenster.
Sollte der Zustand frühstmöglich erkannt und
mit Hilfe professioneller psychologischer Unterstützung unter
Kontrolle gebracht werden, dann ist es möglich, ein Leben
zu retten, sagt Prof. Zhai.
Zhai gründete 1991 Chinas erstes Vorbeugungszentrum für
Selbstmord und eine Selbstmord-Hotline. Nachdem der Anruf eines
Selbstmordgefährdeten eingeht, wird die Telefonnummer von
einer oder zwei Personen registriert und sie versuchen, die Adresse
des Anrufers ausfindig zu machen, um möglicherweise Kontakt
zu Familienangehörigen oder Freunden herzustellen. Das Zentrum
offeriert allerdings auch Briefwechsel oder Beratung von Angesicht
zu Angesicht, wobei sich die um Vorbeugung Bemühten mittlerweile
nicht mehr allein um Selbstmordgefährdete, sondern um alle
Menschen kümmern, die sich in einer psychischen Notlage befinden.
Derartige Kriseninterventionszentren, die vor nicht allzu langer
Zeit noch eine Rarität in China darstellten, operieren heute
in allen Teilen des Landes. Lin Xiongbiao, Direktor des Shenzhener
Krisenpräventions-Zentrums in der südchinesischen Provinz
Guangdong, erklärt allerdings: Die zunehmende Anzahl
von Interventionszentren steht nicht in Zusammenhang mit einer
wachsenden Zahl von Suiziden, sie weist nur darauf hin, dass die
psychische Gesundheit ein Thema ist, das mehr und mehr ins öffentliche
Bewusstsein rückt.
Durchschnittlich reden 8,6 von 100 Anrufern über Selbstmord,
nur einer oder zwei machen tatsächlich Ernst
mit ihren Plänen. Die meisten anderen suchen bloß nach
einem gewöhnlichen Ratschlag, sagt Lin. Wir hoffen,
dass psychisch beeinträchtigte Menschen durch frühe
Intervention von ihrem Vorhaben abgebracht werden können.
Suizid wird endlich als eine außerordentliche Herausforderung
für die öffentliche Gesundheit wahrgenommen, sagt Fu
Sufen, Direktorin des Hangzhouer Krisenpräventions-Zentrum
in der Provinz Zhejiang.
Die Menschen rufen an, um sich in einer hochbelastenden
Situation Hilfe zu holen. Es geht beispielsweise um den Tod von
Familienangehörigen oder um Beziehungsprobleme, also um die
Tabu-Themen, die man in der Regel nicht mit anderen besprechen
kann, sagt sie.
Es ist ermutigend, dass immer mehr Menschen die psychische
Gesundheit auf eine Ebene mit der physischen stellen und verstehen,
dass psychische Erkrankungen genauso ernst zu nehmen sind wie
beispielsweise SARS oder AIDS.
Dabei gibt es keine umfassende nationale Studie, die die Gründe
für Selbstmord auseinandersetzt, erklärt Professor Yu
Xin, Direktor des Instituts für Psychische Gesundheit an
der Peking-Universität. Zwischen 50 und 60% der Selbstmorde
in China sind auf psychische Erkrankungen zurückzuführen,
im Ausland sind es 90%. Aber es wurde bislang keine detaillierte
Untersuchung vorgenommen, die erklären könnte, wodurch
die verbleibenden 40% verursacht werden.
Das wenige Wissen über Suizid in China wirft nur noch mehr
Fragen auf: Bei 1534-jährigen ist Selbstmord der Haupttodesgrund.
In ländlichen Gebieten ist die Selbstmordrate dreimal höher
als in städtischen. Und bei der Mehrheit der Selbstmörder
handelt es sich um Frauen. Das ist ein einzigartiges Verhaltensmuster,
sagt Prof. Yu. Es gibt nur sehr wenige Länder, in denen
sich mehr Frauen als Männer selbst umbringen.
Die Selbstmorde in ländlichen Gebieten werden entweder durch
finanzielle Notlagen oder durch chronische Probleme des Lebens,
wie beispielsweise durch unheilbare Krankheiten, verursacht, sagt
Wang Jianping, ein Psychologie-Professor an der Beijinger Pädagogischen
Universität. Sie verstehen Selbstmord als eine passable
Möglichkeit, sich von ihrem Elend zu befreien oder eine finanzielle
und emotionale Last abzuschütteln.
Familienkonflikte sind ein weiterer Grund, bemerkt eine Bauersfrau,
die anonym bleiben möchte. Nach einem heftigen Streit mit
ihrem Mann schluckte sie giftiges Pestizid, konnte aber gerettet
werden.
Junge Bauersfrauen, die von ihren elterlichen Familien getrennt
leben, sind oft auf die psychische Unterstützung ihrer Ehemänner
angewiesen. Vor diesem Hintergrund kann sich selbst ein geringfügiger
Streit in einen ernsten Konflikt verwandeln. Nach der Studie von
Prof. Wang trinken einige von den Frauen Pestizide und rennen
daraufhin sofort zu ihren Männern und sagen: Komm und
rette mich, ich habe mich vergiftet.
Sofort danach bereuen sie ihre Entscheidung, sagt sie. Die
meisten wollen nicht sterben. Sie sind nur sehr verwirrt.
Auf der einen Seite denken sie, dass der Tod ihnen hilft,
den alltäglichen Schwierigkeiten endlich zu entkommen. Aber
auf der anderen Seite spüren sie eine große Lebenslust,
sie wollen ihre Kinder großziehen und teilhaben an deren
vielleicht besserer Zukunft. Selbstmord ist ihre Reaktion auf
ernste seelische Anspannung.
Gesellschaftliche Unterstützung könnte dabei eine große
Veränderung bewirken, glaubt sie. Falls wir ihnen rechtzeitig
psychologische Unterstützung zukommen lassen könnten,
würde die Situation eine ganz andere sein.
Die Verbesserung der Notbehandlung in ländlichen Gebieten
und die Einschränkung der Verfügbarkeit über Pestizide
sind zwei Maßnahmen, die umgehend Wirkung zeitigen würden,
sagt Dr. Phillips. 62% aller Suizide im Land werden durch
Pestizide oder Rattengift herbeigeführt, gibt er an.
Mehr als die Hälfte dieser Lebensmüden wird medizinisch
behandelt, ohne aber wieder zu gesunden. Sollten wir also die
Behandlungsmöglichkeiten verbessern können, würden
wir jährlich 50 000 Leben retten.
Die Experten stimmen darin überein, dass es nun Zeit ist,
zu handeln. Aber das Handeln beginnt mit einer fundamentalen Veränderung
der gesellschaftlichen Perspektive gegenüber der seelischen
Gesundheit. Polizeistationen für Notfälle 110 und lokale
Gemeinschaften sollten mobilisiert werden, da sie die einzigen
sind, die rechtzeitige Hilfe gegen Selbstmord anbieten können,
sagt Prof. Yu Xin.
Die Leute sollten dazu ermutigt werden, ihr gesellschaftliches
Hilfs-Netzwerk auszubauen.
Jeder kann mit psychischen Problemen konfrontiert werden,
bemerkt Prof. Wang Jianping. Aber niemand sollte Selbstmord
als angemessenen Ausweg erachten. Die eigene Idee, wie mit Druck
jeglicher Art umzugehen ist, muss den Ausschlag geben.
Wir hoffen, dass wir allen Beteiligten dabei helfen können,
mit sich ins Reine zu kommen. Wir ermutigen sie dazu, Psychiater
aufzusuchen, bevor sich ihre Probleme zuspitzen.
Für Chen Si, der vor wenigen Monaten von den chinesischen
Medien entdeckt wurde, ist das Gerede wertlos. Es gibt für
diese Arbeit keine finanzielle Unterstützung. Die meisten
gewöhnlichen Leute sind finanziell nicht in der Lage, psychologische
Hilfe zu beanspruchen. Was in erster Linie benötigt wird,
glaubt er, ist eine solide finanzielle Grundlage, mit der ein
landesweites Präventionsnetzwerk für Selbstmordgefährdete
eingerichtet werden kann.
Vielleicht weiß Chen besser als jeder andere, dass es noch
ein weiter Weg ist, der dem Land bevorsteht. Er erzählt die
bekannte Geschichte von den Schaulustigen, die einen Wanderarbeiter
mit Zurufen dazu bewegen wollten, sich von einer hohen Plakatwand
zu stürzen.
Neben der psychologischen Hilfe müssen wir den Menschen
beibringen, das Leben zu lieben und zu schätzen. Jeder zeichnet
für die Verhinderung von Selbstmorden verantwortlich. Auch
wenn man nur ein einziges Leben rettet das ist schon viel.
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