Kinder lernen ihre Rechte kennen
Von Rong Jiaojiao
Sie erklimmt einen großen Stein, streckt beide Hände
nach einem Halt in der zerbröckelten Zementmauer aus und
zieht sich hinauf, wobei sie darauf achtet, dass ihre Schultasche
nicht an den vorstehenden Ziegeln hängen bleibt. Sie setzt
sich auf die Mauer und springt dann vorsichtig auf einen Schotterweg
neben den Eisenbahnschienen.
Sie lehnt sich in Richtung der Kurve, die die Schienen bilden,
schirmt mit ihrer rechten Hand ihre Augen gegen die Sonne ab und
starrt angestrengt durch die Zweige und Blätter der überhängenden
Bäume. Nachdem sie völlig sicher ist, dass kein Zug
kommt, sprintet sie über die Schienen.
Ungefähr 60 Kinder werden denselben Weg nehmen, manche kichernd,
schubsend und stoßend, andere von ihren Lehrern begleitet,
sind sie alle auf dem Weg zur Grundschule Xinhua im autonomen
Kreis Tianzhu der tibetischen Nationalität in der Provinz
Gansu.
Vier Mal pro Tag in den letzten 30 Jahren war das der Schulweg
für die meisten Kinder in Xinhua und noch nie wurde eines
bis heute vom Zug erwischt. Pei Suping ist eine elfjährige
Schülerin der 5. Klasse, die diese Szenen auf Film gebannt
hat. Auf ein Foto der Schienen zeigend sagt sie: Ein Tunnel,
der uns vor den gefährlichen Schienen bewahren soll, sollte
gebaut werden. Kinder haben das Recht, beschützt zu werden.
Sie knippste auch die Stände von Händlern, die den
Schuleingang blockieren, was ebenso darauf hindeutet, dass
die Rechte der Kinder nicht völlig gewahrt werden.
Suping sagt: Meine Fotos haben mir meine Lebensumgebung
bewusster gemacht und mich dazu angeregt, Schülern und Lehrern
Vorschläge zu unterbreiten.
Suping kannte den Begriff Kinderrechte vor einem
Monat noch nicht. Sie wusste auch nicht, wie man eine Kamera benutzt.
Meine Eltern behielten die Kamera immer bei sich, da sie
Angst hatten, dass ich sie kaputt mache. Ohne den Workshop letzten
Monats, hätte ich wahrscheinlich nie ein Foto gemacht.
Pei lernte das Fotografieren bei einem unter Federführung
der UNICEF abgehaltenen Workshop mit teilnehmendem Training über
Kinderrechte in Tianzhu letzten Oktober. 40 Lehrer und 32 Schüler
im Alter von 1113 aus fünf Schulen des Kreises kamen
für den dreitägigen Kurs über Bewusstseinsbildung
zum Thema Kinderrechte und die Fähigkeiten, die man braucht,
um diese Rechte durchzusetzen, zusammen. Am Ende des Workshops
erhielt jede Schule eine Kodak-Kamera mit 72 Bildern, die die
Kinder dafür verwenden können, Kinderrechte aus ihrem
eigenen Blickwinkel interpretieren zu können.
Der Workshop ist ein kleiner aber wichtiger Teil des Mädchenbildungsprogramms
der UNICEF, das 2005 in zwölf Projektkreisen in fünf
westlichen Provinzen Chinas begann. Diese Programme konzentrieren
sich auf geschlechtersensibles und kindorientiertes Lernen in
einer sicheren Schulumgebung, die frei von Diskriminierung ist.
Der Workshop stellt das erstmalige Projekt in der 26-jährigen
Kooperationsarbeit der UNICEF mit chinesischen Bildungsprogrammen
dar, in dem Schüler und Lehrer gemeinsam Kinderrechte besprachen,
laut der Projektbeauftragten für Bildung der UNICEF in China
Guo Xiaoping. Kinder sollten ihre eigenen Rechte verfechten
und die Wächter über deren Einhaltung werden,
sagte sie bei der Eröffnung des Workshops. Vier Experten
aus Beijing reisten an, um den Kindern zu helfen, sich mit den
theoretischen Prinzipien vertraut zu machen. Die Schüler
machten Spiele, hielten Gruppendiskussionen ab und malten Bilder
und Grafiken: völlig neue Übungen für Dorfschulkinder.
Liu Wenbo, ein zehnjähriger Schüler der Grundschule
Chengguan illustrierte die Rechte der Kinder mit Äpfeln.
Jeder Apfel repräsentierte ein Recht: Das Recht auf Schutz,
das Recht auf Beteiligung, das Recht auf Leben und das Recht auf
Grundversorgung und Entwicklung. Früher schlief ich
oft während des Unterrichts, sagt er. Doch dieser
Workshop gibt mir viel zu tun und motiviert mich. Es ist viel
lustiger.
Ba Tingting, 10, dachte ursprünglich, dass dieser Workshop
für die Verbesserung ihrer Englischkenntnisse wäre,
weil er von den Vereinten Nationen unterstützt wird.
Doch die Schülerin der Grundschule Tianzhu, die dem Pädagogischen
Institut Tianzhu untergeordnet ist, fand es interessanter
als unseren Englischunterricht. Während einer Gruppendiskussion
über die vier Grundrechte der Kinder argumentierte
Tingting, dass das Recht auf elterliche Fürsoge nicht so
wichtig sei. Wir sollten lernen, auf uns selbst aufzupassen
und später für unsere Eltern zu sorgen, sagt sie.
Währenddessen bestand ihre elfjährige Schulkollegin
Qi Xiaoyun darauf, dass das Recht auf Privatsphäre wichtiger
sei, als das auf Essen und Kleidung. Jeder hat Geheimnisse
und wir Kinder sind keine Ausnahme. Es macht mir nichts aus, einfach
zu essen und alte Kleidung zu tragen, aber ich brauche etwas,
das nur mir gehört, sagt der Fünftklässler.
Zhu Yue aus der Grundschule Chengguan versteht das Recht auf
Schutz auf ihre Weise. Wir dürfen nicht immer darauf
warten, dass jemand anderer uns beschützt. Wir sollten lernen,
uns selbst zu beschützen, sagt die Elfjährige
während der Diskussion.
Durch Äußerung ihrer eigenen Gedanken können
die Kinder die wörtliche Bedeutung der Rechte mit ihrem täglichen
Leben verknüpfen. Wichtiger ist noch, dass Beteiligung an
sich ein Recht der Kinder ist, sagt Chen Ying, eine der Ausbildnerinnen
vom Chinesischen Nationalen Kinderzentrum, einer Organisation,
die dem Chinesischen Frauenverband untergeordnet ist.
Jiao Jian, eine andere Ausbildnerin und Professorin an der Chinesischen
Frauenuniversität, stimmt Chens Meinung zu: Beteiligung
steigert das gesellschaftliche Bewusstsein und das Verantwortungsgefühl.
Die demokratischen Werte wie der Respekt für die Rechte und
die Würde aller anderen Menschen und für deren Unterschiedlichkeit,
und ihr Recht auf Beteiligung werden zuerst in der Kindheit und
in der Jugend erlernt, sagt sie. Sie schließt mit
den Worten: Kinder wissen, was am besten ist für sie.
Wenn sie beteiligt sind, können sie etwas bewegen
für sich selbst und für die Gemeinschaft.
Die Mutter der zehnjährigen Wang Ling bemerkte einen Wandel
in ihrer Tochter, setidem sie am Workshop teilgenommen hat. Als
sie zurückkam, nahm mein ehemals schüchternes kleines
Mädchen kein Blatt mehr vor den Mund, sagt Wang Shuxian.
Sie bat mich, nicht mehr ihr Tagebuch zu lesen, weil sie
ein Recht auf Privatsphäre habe. Sie sagte mir, dass ich
nicht mehr ihren Bruder vorziehen sollte, da sie gleichberechtigt
seien. Die 33-jährige Bäuerin steht vor ihrem
aus drei Zimmern bestehenden Ziegelflachbau im Marktflecken Shimen
in der nordwestlichen Provinz und sieht Wang Ling im Garten spielen.
Sie sagt: Zwar verstehe ich nicht wirklich, was Kinderrechte
bedeuten, aber die Worte meiner Tochter klingen so richtig. Es
ist jedenfalls gut, ihr lächelndes Gesicht zu sehen.
Aber nicht alle Erwachsenen heißen den Rat einer Zehnjährigen
willkommen. Manche Erwachsene hatten nicht die Geduld für
uns und unsere Ratschläge, sagt Ren Chengyu, 10, von
der Grundschule Shuiquan, als sie ihre Ergebnisse bei einem Treffen
zur Nachbereitung Ende November vorstellte. Sogar mein Vater
sagte zu mir ,Du bist nicht meine Lehrerin. Wenn du erwachsen
bist, kannst du so mit mir reden, und nur dann!
Trotzdem versetzt die Beteiligung die Kinder in die Lage, zu
ihrer eigenen Grundversorgung, ihrem Schutz und ihrer Entwicklung
etwas beizutragen, sagt Guo Xiaoping. Die zivilen und politischen
Rechte der Kinder beinhalten das Recht auf Information, auf Ausdruck
der Meinung, auf Entscheidung und auf Interessensvertretung.
Obwohl die Schüler noch jung sind, werden sie einen
Satz oder sogar ein Wort, das ein Erwachsener gesagt hat, ein
Leben lang behalten, sagt sie. Lehrer und Eltern müssen
deshalb eine Umgebung schaffen, in der Kinder zur Beteiligung
angeregt werden, und in der ihnen ihre Rechte gewahrt werden.
Interaktion mit Kindern ist für Erwachsene ein Lernprozess
und ziemlich anders als die traditionelle Beziehung zu ihnen.
Deshalb, sagt Guo, waren Lehrer auch am Ausbildungsworkshop beteiligt.
Ihnen wurden grundlegende Informationen über die Rechte der
Kinder vermittelt und es wurde ihnen gezeigt, wie sie den Kindern
helfen können, sie zu verwirklichen. Sie erkannten auch positive
Veränderungen im Verhalten ihrer Schüler. Es fiel
mir auf, dass die Kinder gewillter waren, ihre Hand zu heben,
um Fragen zu beantworten, als in meiner Klasse, sagt die
Lehrerin Wei Rong.
Als sie einen Plan zur Verbesserung der Lernerfolge der Schüler
diskutierten, erkannte Wei, dass ihre Schüler oft bessere
Ideen hatten als sie selbst. Ich wollte eine Spezialklasse
am Wochenende einrichten und Lehrer von anderen Schulen einladen,
den armen Schülern Zeichenunterricht außerhalb des
Stundenplans zu geben. Aber die Schüler dachten, dass es
genügen würde, einen Leseraum einzurichten, weil alle
Schüler, ob arm oder reich, dort gemeinsam interessante Geschichten
lesen und sie miteinander besprechen könnten.
Wei hat eine zehnjährige Erfahrung als Chinesischlehrerin
an der Grundschule Tianzhu. Sie gibt zu, dass es heute schwieriger
ist, Lehrerin zu sein als früher, weil Schüler
so viel Zugang zu Information haben, dass sie oft Fragen stellen,
die ich nicht beantworten kann, und das stellt meine Autorität
in Frage.
Chen Yufeng von der Grundschule Xinhua brachte die Fotos von
vier Schülern, inklusive der von Pei Suping zum Nachbereitungstreffen,
an dem auch Beamte des lokalen Bildungsamts und der UNICEF teilnahmen.
Wir haben viele Male beim Bildungsamt des Kreises angesucht,
etwas zur Sicherheit der Kinder zu unternehmen, aber nichts wurde
getan, sagt Chen, eine Chinesischlehrerin mit dreizehn Jahren
Lehrerfahrung. Dieses Mal mit den Fotos und den Bitten der
Schüler hoffe ich, dass sie Notiz von uns nehmen.
Die Beteiligung der Kinder ist ein Prozess, sagt Guo. Auf
der einen Seite entwickelt sich das Vermögen der Kinder,
an Familienangelegenheiten und Angelegenheiten der Gemeinschaft
teilzunehmen über längere Zeit hinweg, auf der anderen
Seite brauchen das Verständnis und die Anerkennung der potentiellen
Kräfte der Kinder durch die Erwachsenen Zeit, um zur Entfaltung
zu kommen.
An einem Ort wie dem autonomen Kreis Tianzhu der tibetischen
Nationalität, der eine Bevölkerung von 217 400 hat,
die sich aus sechzehn ethnischen Gruppen zusammensetzt, mit einem
Durchschnittsjahreseinkommen von 1523 Yuan (190 US-Dollar), können
einige Workshops traditionelle Vorstellungen nicht über Nacht
auslöschen. Die Gesellschaft hier ist noch immer männerdominiert,
sagt Li Shengdi, Vizedirektor des Bildungsamts in Tianzhu. Für
mich sind diese Ausbildungskurse ein Samen, der in die Herzen
der Kinder verpflanzt wird und in Zukunft blühen kann durch
vereinte Anstrengungen der Regierung, der Lehrer, der Eltern und
der Schüler.
Pei Suping ist glücklich, dass der Leiter des lokalen Bildungsamts
ihre Fotos gesehen hat und versprochen hat, etwas zu tun. Ich
hätte mir nie gedacht, dass meine Fotos Auswirkungen haben
könnten. Wenn sie aber tatsächlich einen Tunnel bauen
für uns, werde ich wirklich dankbar sein.
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