Einladung in ein 2000 Jahre altes Qiang-Dorf
Von Hong Xingqiang
Geheimnisvolle Berge ragen an beiden Seiten der engen Schlucht
empor, deren klares Wasser donnernd über einen Lauf von über
Jahrhunderte lang geglätteten Steinen rennt und gegen hausgroße
Felsen schmettert. Über diesem Nebenfluss des Minjiang-Flusses
hängt eine aus Bambus gebaute Hängebrücke. Von
hier aus windet sich ein Pfad zu dem Bergdorf Taoping.
Das Dorf Taoping hat etwa 500 Einwohner in 98 Haushalten. Es
befindet sich im Kreis Lixian des autonomen Bezirks Aba der tibetischen
und der Qiang-Nationalität in der Provinz Sichuan. Bei dieser
2000 Jahre alten Qiang-Siedlung handelt es sich um die älteste
und am besten erhaltene ihrer Art in ganz China. Ihr Alter und
ihre gut erhaltene Architektur haben Forscher und Gelehrte dazu
inspiriert, ihr den Namen Antike Burg des Orients
zu geben.
Die Hängebrücke aus Bambus war früher der einzige
Zugang zum Dorf. In Kriegszeiten konnte man sie demontieren, um
Angreifer auf Abstand zu halten. Heute dagegen ist das Dorf durch
eine Zementbrücke mit der Staatsstraße 312 verbunden.
Schaut man sich das Dorf vom gegenüberliegenden Berg an,
so mutet es wie ein Haufen von gelblich-braunen Häusern an,
durchbohrt von einem gelegentlichen rauchenden Turm. Die Häuser
bestehen aus Stein und Lehm, der gelblich in der Sonne funkelt.
Taoping hat in den vergangenen Jahrhunderten unzählige Konflikte
und Kämpfe überstanden, was vor allem auf die sorgfältige
Verteidigung seitens der Dorfbewohner zurückzuführen
ist. Das Aussehen des Dorfes scheint den Acht Trigrammen von I
Ching, Buch der Wandlungen nachempfunden zu sein. Es hat in seinem
Zentrum einen Turm, von dem aus die Häuser strahlenförmig
wegführen und eine Einzäunung mit acht Toren bilden.
Alle Häuser sind durch Passagen und Durchgänge miteinander
verbunden, sie führen über Dächer und durch ein
Labyrinth von unterirdischen Tunneln zu Eingängen und Türen.
Diese Tunnel, mit denen auch Wasser zu jeder Ecke und jedem Haus
befördert wird, sind groß genug, um sich in ihnen zu
verstecken und zu bewegen. Ihre Schießlöcher befähigten
die Dorfbewohner, selbst in der Verteidigung den Kampf aktiv zu
gestalten.
Als ich durch das Dorf lief, konnte ich klar und deutlich den
Klang rauschenden Wassers vernehmen, aber es war doch kein Wasserfall
in Sicht. Das Rätsel wurde erst gelöst, nachdem Chen
Shiming, ein Bewohner, eine Steinplatte anhob und mir einen verborgenen
Tunnel zeigte, breit und tief genug, um darin zu stehen. Er erklärte
mir, dass der geschmolzene Schnee von den Gipfeln zuerst in die
unterirdischen Tunnel und dann zu verschiedenen Plätzen des
Dorfes fließt. Durch das Tunnelsystem wird das Wasser über
das ganze Dorf verteilt, weiterhin hilft es dabei, Temperatur
und Feuchtigkeit zu regulieren.
Emporragende Türme kennzeichnen die Dörfer der Qiang-Nationalität,
die in der Vergangenheit in quadratischer, sechs- oder achteckiger
Form gebaut wurden, die größten waren mehr als 30 Meter
hoch. Dabei bestehen zwei der ursprünglich sieben antiken
Türme im Dorf Taoping nach wie vor.
1933 hinterließ ein Erdbeben eine schluchtähnliche
Gletscherspalte in den oberen Gebieten des Minjiang-Flusses. Der
dem Dorf zugefügte Schaden war jedoch beschänkt auf
einen antiken Turm, der zur Hälfte zerstört wurde. Die
meisten der Häuser blieben unversehrt, einige Risse waren
allerdings hinzunehmen. Dabei weist die Tatsache, dass das Dorf
sowohl Kriege als auch Naturkatastrophen überlebt hat, auf
die hervorragende Bauweise hin, die ohne Pläne, Lotleinen
oder Baugerüste ausgekommen ist. Bei den Häusern und
Türmen wurde jeweils ein Stockwerk gebaut, Schicht auf Schicht,
wobei klebriger Lehm eingesetzt wurde, um die Steine gemäß
dem erfahrenen Auge des Baumeisters aneinander zu binden. Zwischen
dem Bau eines Stockwerks und dem nächsten lagen sechs Monate,
so dass es mindestens zwei Jahre dauerte, um ein vierstöckiges
Haus zu errichten. Für einen Turm mit seinen sieben oder
acht Stockwerken benötigte man mindestens vier Jahre. Die
unteren Mauern, in der Regel mehr als 60 Zentimeter dick, liefen
mit einer Breite zwischen 20 und 30 Zentimetern auf die Decke
zu. Außerdem wurden dicke Pfosten in die Mauern eingebaut,
um ihre Tragfähigkeit zu verbessern. Der hohe Kalium-Gehalt
in den örtlichen Steinen und im Lehm, so jedenfalls die Annahme,
erhöht ebenfalls die Stabilität der Mauern.
Chen Shiming und seine Familie wohnen in einem der eindrucksvollen
turmähnlichen Häuser. Er erzählt mir: Indem
mein Großvater ein großes Vorratslager anlegte, gewährleistete
er, dass unser Haus auch einer Belagerung widerstehen konnte.
Aber jetzt, da es keine Kriege mehr gibt, nutzen wir unser Haus
als touristische Attraktion.
Früher lebten die Dorfbewohner von ihrer Landwirtschaft,
in den letzten fünf Jahren stellte ihre Haupteinkommensquelle
hingegen der Tourismus dar. Taoping zieht jährlich 70 000
Besucher an; eine Familie mit großem Haus kann durch ihre
Unterkünfte ohne weiteres 10 000 Yuan pro Jahr verdienen.
Andere Dorfbewohner, deren Häuser dafür nicht genügend
Raum bieten, leben vom Verkauf lokaler Produkte und von Souvenirartikeln.
Eine 21-jährige Frau namens Erma Yina ist kürzlich
zu Taopings lokaler Berühmtheit und der des ganzen
Bezirks avanciert. Im August des letzten Jahres fotografierte
ein Besucher das schöne Mädchen in Taoping. Wieder zu
Hause angekommen, stellte er das Foto in sein persönliches
Blog (Internet-Tagebuch) und nannte es Schwester junge Fee.
Seitdem wurde sein Blog, zu seiner großen Überraschung,
mehr als zwei Millionen Mal angeklickt. Viele Netzbesucher haben
daraufhin selber die Reise nach Taoping angetreten, um Erma Yina
persönlich zu treffen, wodurch sich ihr Bekanntheitsgrad
noch gesteigert hat und sie mittlerweile auch im Fernsehen und
in Printmedien präsent ist. Ende letzten Jahres veranstaltete
Sohu.com einen Wettbewerb zu dem Thema modisches Vorbild. Die
Schwester junge Fee gewann mit 44% der Stimmen, weit
vor dem Olympiasieger im 110-Meter-Hürden-Lauf Liu Xiang
und dem Popstar Li Yuchun. Die lokalen Beamten des Kreises Lixian
sind erfreut über den Einfluss ihres einheimischen Stars,
auch weil der Medienrummel den Tourismus vorangetrieben und den
Kreis berühmt gemacht hat.
Dabei ist die Schwester junge Fee beileibe nicht
Taopings einzige Berühmtheit. So wurde die 30-jährige
Dorfbewohnerin Long Xiaoqiong von der lokalen Regierung für
ihre Arbeit die Gründung eines Tourismusprogramms
für Qiang-Folklore ausgezeichnet. Als Belohnung wurde
sie nach Beijing eingeladen, wo sie vom früheren Staatspräsidenten
Jiang Zemin empfangen wurde. Das burgähnliche Anwesen, das
Long Xiaoqiong gemeinsam mit ihrer achtköpfigen Familie bewohnt,
ist so groß, dass sie nicht die exakte Zahl der Räume
angeben kann. Was sie weiß, ist, dass es mehr als 100 Türen
hat und für 50 Touristen Platz bietet. Longs 90-jährige
Großmutter überschaut, immer noch mit guter Sehkraft
und Hörfähigkeit, den täglichen Ansturm auf ihr
Zuhause, Longs jüngere Geschwister helfen in den Schulferien
aus.
Qiang-Haushalte befinden sich in der Regel in großen, dreigeschössigen
Häusern mit umliegenden Höfen, in denen Gemüsegärten
kultiviert werden. Im ersten Stock werden Nahrungsmittel gelagert
und Haustiere gehalten, in den beiden oberen Geschossen findet
das Familienleben statt. Long Xiaoqiong hat den ersten Stock ihres
Hauses in eine Bar verwandelt, deren Innenausstattung durch eine
Kombination von westlichem Stil und dem Stil der Qiang-Nationalität
geprägt ist. Im zweiten Geschoss befindet sich eine Haupthalle
mit hölzernem Fußboden und Pfeilern. In die Wand, die
der Tür gegenüberliegt, ist eine Nische eingeschnitzt.
Eine hölzerne Trennwand teilt den Raum darum in Schlafzimmer
auf. Der Schwerpunkt der Haupthalle ist eine stets entzündete
Feuerstelle, die aus langen Steinplatten und einem eisernen Dreieck,
das über dem Feuer steht, gemacht ist. Das Ganze ist von
verschiedenen Gefäßen und Kupferkesseln umgeben.
Für die Bevölkerung der Qiang-Nationalität ist
die Feuerstelle ein heiliger Ort und die Quelle vieler Tabus.
Es sitzt beispielsweise niemand an der Stelle, die für den
Nachschub von Brennstoff gedacht ist, weil dieser Platz für
die Gottheit des Feuers vorgesehen ist. Auch ist es verboten,
etwas als unrein Erachtetes in die Flammen zu schmeißen.
Trotz der Verbote finden die meisten Familienaktivitäten
an der Feuerstelle statt, insbesondere feierliche Veranstaltungen.
Gelegentlich großer Ereignisse und Feste, wie beispielsweise
Hochzeiten und Geburtstagsfeiern, versammelt sich das ganze Dorf
in der Haupthalle eines betagten Bewohners, um sich rund um das
Feuer zu setzen, Alkohol zu saugen, Volkslieder zu
singen, einen Ring zu formen und den Shalang zu tanzen.
Die Bevölkerung der Qiang-Nationalität verehrt ihre
Vorfahren, gleichzeitig aber auch mehr als dreißig andere
Gottheiten. Deren Ruhmeshalle befindet sich in jedem Haushalt,
verehrt werden die Gottheiten für die Natur, Familienangelegenheiten,
landwirtschaftliche Produktion und das Dorf, an der Spitze steht
der Himmelsgott. Alle Gottheiten werden durch heilige weiße
Steine symbolisiert und befinden sich im dritten Stock, der durch
eine Holzleiter von der Haupthalle im zweiten Stock aus zugänglich
ist. Der Himmelsgott wird durch einen großen, weißen
Quartz-Stein symbolisiert, der im Zentrum der Wand, direkt über
der Nische in der Wand der Haupthalle im zweiten Stock, steht.
Dabei symbolisieren die kleineren weißen Steine, von denen
er umgeben ist, die anderen Gottheiten.
Anhang:
Die Bevölkerung der Qiang-Nationalität
Die Bevölkerung der Qiang-Nationalität
lässt sich gegenwärtig auf 150 000 beziffern, wobei
die meisten von ihnen in Maowen im Westen Sichuans, die restlichen
zerstreut in Wenchuan, Lixian, Heishui und Songpan leben. Die
Angehörigen der Qiang-Nationalität sind Nachfahren einer
alten ethnischen Gruppe Chinas. Sie bezeichnen sich selber als
Erma, was so viel wie Einheimische bedeutet.
Die Qiang-Sprache gehört zur Tibetisch-Burmesischen Sprachefamilie,
die wiederum Teil des Chinesisch-Tibetischen Sprachstamms ist.
Sie lässt sich in Dialekte des Südens und des Nordens
unterteilen, wobei es keine Schriftzeichen gibt. Die Bevölkerung
der Qiang-Nationalität lebt hauptsächlich von der Landwirtschaft,
sie hat aber auch einige Industriezweige entwickelt und produziert
vor allem Leder, Papier, Bauholz, Zement und Kunstdünger.
Ihre traditionellen handwerklichen Gewerbe sind die Stickerei
und Weberei.
Alkohol saugen
Die Männer der Qiang-Nationalität
genießen den Umtrunk, wobei sie eine ziemlich ungewöhnliche
Trinkmethode anwenden. Sie trinken selbstgebrannten Alkohol, der
aus Gerste und Korn gemacht und sieben oder acht Nächte,
manchmal auch länger, in abgedichteten Fässern gelagert
wird. Wird ein Fass geöffnet, fügt man Wasser hinzu
und lässt ein Bambusrohr, das als Strohhalm eingesetzt wird,
in den Alkohol gleiten. Die Trinker wechseln sich, der Reihenfolge
des Alters folgend, ab und schließen sich beim Trinken durch
das Rohr dem Toast an, der von einem der Dorfältesten ausgesprochen
wird. In bestimmten Intervallen wird Wasser beigemengt, bis sich
der Alkoholgehalt verringert. Wenn Freunde für einen Drink
zusammenkommen, führt jeder von ihnen einen Bambus-Strohhalm
in das Fass ein, so dass sie alle gleichzeitig trinken können.
Dieser Brauch ist bekannt geworden unter dem Namen Alkohol
saugen.
Tour Tips
Mit öffentlichen Verkehrsmitteln:
Es fahren täglich vier Busse vom Westtor-Busbahnhof in Chengdu
in den Kreis Lixian, um 7: 20, 10: 20, 13: 10 und 14: 50. Die
dreistündige Fahrt kostet pro Person 27 Yuan. Ein Ticket
für die Busse und Mini-Busse, die von der Kreisstadt Wenchuan
nach Taoping fahren, kostet 4 Yuan.
Mit dem Auto: Taoping ist 160 Kilometer
von Chengdu entfernt. Der einfachste Weg ist die Chengdu-Dujiangyan-Schnellstraße.
Ist man über die Yincheng-Brücke gefahren, muss man
auf die Chengdu-Aba-Staatsstraße wechseln, die parallel
zum Fluss Minjiang verläuft. Nach der Ankunft im Kreis Wenchuan,
muss man links abbiegen, über die Minjiang-Brücke fahren
und weitere dreißig Minuten auf der Staatsstraße 317
bleiben, bis man schließlich nach Taoping gelangt.
Unterkunft: Besucher können bei einheimischen
Familien übernachten. Der Gasthof von Long Xiaoqiong heißt
Xiaoqiong Qiang House. Ein Einzelbett kostet hier 10 Yuan pro
Nacht. Für die Verpflegung können pro Person noch einmal
5-10 Yuan hinzukommen.
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