Chinesische Kalligraphie im Computerzeitalter
Von Zhang Hong
Chinesische Arbeitgeber bitten Jobsuchende oft um einen handgeschriebenen
Lebenslauf. Der Grund dafür? Man kann den Charakter
und die Einstellung einer Person durch ihre Handschrift erkennen.
Seit jeher haben Chinesen daran geglaubt, dass die Handschrift
die Persönlichkeit des Schreibers widerspiegelt. Während
der Tang-Dynastie war Kalligraphie ein Hauptkriterium für
die Beurteilung der Intelligenz, Fähigkeit und Finesse von
potentiellen Beamten für den Regierungsdienst. Aber welchen
Platz nimmt Kalligraphie in der heutigen modernen Welt ein, in
der unsere Maus bedienenden Hände und an die Tastatur gewöhnten
Finger sich zunehmend den horizontalen und vertikalen Linienzügen
der komplizierten chinesischen Zeichen entfremden?
Die bezaubernde chinesische Kalligraphie
Roland Buraud ist ein zeitgenössischer Künstler aus
Frankreich. Chinesische Kalligraphie und die dabei verwendeten
Geräte faszinieren ihn. Er sammelt Schreibpinsel und arrangiert
sie auf Wänden als Kunstwerke. Auf einer kürzlichen
Chinareise gab er zu: Ich liebe chinesische Kalligraphie
genauso wie chinesische Kunst, obwohl ich nicht weiß, was
die Schriftzeichen bedeuten.
Viele Ausländer teilen Roland Burauds Liebe für chinesische
Kalligraphie. Ji Xianlin, ein bekannter Gelehrter für Chinastudien
und Professor an der Peking-Universität, zitierte einen deutschen
Kollegen, der so in die Betrachtung eines Kalligraphieschreibers
vertieft war, dass er beinahe seinen Unterricht versäumte.
Ji Xianlin ist stolz darauf, dass chinesische Schriftzeichen eine
Kunst an sich sind.
Han Tianheng, ein bekannter Künstler und der ehemalige Vize-Rektor
der Shanghaier Akademie für chinesische Malerei, schreibt
den Reiz der chinesischen Kalligraphie der Tatsache zu, dass die
chinesische Sprache eine piktographische und keine alphabetische
Struktur hat. Die meisten alten Zeichen sind selbst skizzierte
Bilder. Zum Beispiel gleicht die ursprüngliche Form des chinesischen
Schriftzeichens für Person dem Profil einer gehenden
menschlichen Gestalt und das Zeichen für Auge
ist offensichtlich die Darstellung eines Auges. Das Zeichen für
Person unter dem Zeichen Auge heißt
sehen.
Der berühmte Kalligraph Wang Xizhi (321379) der Jin-Dynastie
verglich Techniken der Kalligraphie mit der Kriegskunst der antiken
Militärstrategen Sun Zi und Sun Bin. Er sagte, dass ein weißes
Blatt Papier einem Schlachtfeld gleiche, auf dem der Kalligraph
seine Zeichen anordne und anleite wie ein Militärstratege
seine Truppen in der Schlacht.
Echte chinesische Kalligraphen betonen, dass die Hand beim Schreiben
dem Geist folgen soll. Sie behaupten, dass Kalligraphen ihre Gedanken
und ihre Lebensenergie (Qi) auf die Spitze des Pinsels konzentrieren
müssen, um den perfekten Geisteszustand für das Schreiben
erreichen zu können. Nur dann wird ihre Hand frei sein, den
Pinsel zu schwingen, wie die Schlange sich schlängelt
und der Drache fliegt.
Das ist der Prozess der Ansammlung, des Loslassens und der Übermittlung
einer künstlerischen Leidenschaft durch die Pinselspitze.
Als Ji Xianlin zum ersten Mal die Stelenschnitzereien der Huangshan-Schlucht
im Berg Shizhong in Jiangxi sah, fühlte er, wie sich sein
Puls beschleunigte und seine Seele erhob. Bei einer anderen Gelegenheit,
als er die Werke des berühmten Kalligraphen der Qing-Dynastie
Deng Shiru sah, sagt er: Es war wirklich eine körperliche
wie auch eine spirituelle Bewegtheit, die ich verspürte.
Die Flaute der Kalligraphie im Computerzeitalter?
Doch heute erliegen viele Chinesen der Schreibamnesie,
einer Gesellschaftskrankheit des modernen Computerzeitalters.
Handgeschriebene Briefe, Papiere und Berichte verschwinden immer
mehr aus dem modernen Leben und werden durch E-Mails, SMS, MSN
und Telephonate ersetzt. Es ist noch nicht so lange her, dass
Leute täglich Kalligraphie bei der Erledigung ihrer Schreibarbeiten
übten. Eine kürzliche Überprüfung der Lehrer
an den Grund- und Mittelschulen Beijings förderte zu Tage,
dass die Mehrheit zweitklassige Fähigkeiten in den drei
Handschriften, nämlich Kreide, Tinte und Pinsel, hatten.
Seit dem späten 20. Jhdt. haben Computer und Drucker die
Füllfeder- und Pinselindustrie beinahe ausgelöscht,
da die Leute weniger motiviert sind, Kalligraphie zu üben,
wenn alles ausgedruckt oder auf einem Display angezeigt wird.
Der Besitzer eines Pinselladens auf der antiken Straße Liulichang
in Beijing sagt, dass seine Verkäufe stark zurückgegangen
sind und die alte Kunst auszusterben scheint. Kalligraphie
ist für die chinesische Nation, was für eine Person
die Augenbrauen sind, sagt Li Jing, Vorstandsmitglied des
Shanghaier Kalligraphenvereins. Obwohl ihr Verschwinden
keine Auswirkungen auf die Entwicklung eines starken Chinas haben
wird, wird das Land ohne sie nicht mehr so schön aussehen.
Und aus einer persönlichen Perspektive hilft Kalligraphie,
den Geist zu kultivieren und die persönliche Kultiviertheit
zu steigern.
In diesem Sinne hat das kalligraphische chinesische Siegel für
die Olympiade 2008 in Beijing eine besondere Bedeutung. Diejenigen,
die das reizende Emblem ausgewählt haben, hoffen, dass es
zur Wiederbelebung der chinesischen Kalligraphie führen kann.
Die antike Kunstform hat über 5000 Jahre existiert
hoffen wir, dass die Technologie sie nicht auslöscht.
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