Der Militärstratege Sun Wu und sein Nachfolger Sun Bin

Von Hou Jueliang

Helden sind die Kinder ihrer Zeit.

Die Frühlings- und Herbstperiode (770–476 vor Chr.) und die Zeit der Streitenden Reiche (475–221 vor Chr.) waren voll von Kriegswirren. Es war auch eine Ära, die es zahlreichen Militärstrategen ermöglichte, sich einen großen Auftritt zu verschaffen. Die bekanntesten von ihnen waren Sun Wu und Sun Bin. Ihre Werke sind heute in China und in einigen anderen Ländern hauptsächliche oder wenigstens teilweise Lektüre der Militärschulen.

Sun Wu

Sun Wu lebte im fünften Jahrhundert vor Chr. und war ein Zeitgenosse von Konfuzius. Von seinem Großvater, einem Offizier des Fürstentums Qi (heute am Unterlauf des Gelben Flusses in der Provinz Shandong), beeinflusst, verschrieb er sich dem Studium der Militärwissenschaft. Er schrieb sehr viel über die Kriegführung. Seine Schriften wurden zu einem Buch unter dem Titel Der Kriegskunst von Sun Zi zusammengestellt. Es war das erste militärische Werk Chinas.

Dieses Buch, insgesamt dreizehn Kapitel, ist eine Zusammenfassung der Kriegserfahrungen. Darin werden die Gesetzmäßigkeiten des Krieges dargelegt. In der Geschichte versahen viele Militärwissenschaftler dieses Buch mit Anmerkungen, weil es in einer uralten Schrift geschrieben wurde, die sehr schwer zu verstehen ist. Es gibt verschiedene Ausgaben. Eine davon wurde sogar mit Anmerkungen von zehn Fachleuten versehen.

Seit mehr als zweitausend Jahren orientierten sich die Militärstrategen Chinas nach diesem militärischen Werk. Die militärische Theorie von Sun Wu kann wie folgt zusammengefasst werden:

1) Die Truppen können erst dann den Sieg erkämpfen, wenn sie in einem Verzweiflungskampf stehen. In der Geschichte gab es viele überzeugende Beispiele dafür, dass diese Worte von Sun Wu richtig sind. Han Xin, ein bedeutender General einer Armee der aufständischen Bauern und später ein Mitbegründer der Han-Dynastie (206 vor Chr.–220 nach Chr.), wandte zum Beispiel die militärische Theorie Sun Wus an. Eines Tages kam er an der Spitze seiner Truppe an einen Fluss. Er befahl den Soldaten, am Ufer entlang eine einreihige Kampfformation gegen die ihnen auf den Fersen folgende Truppe zu bilden. Seine Unterführer waren der Meinung, dieser Befehl sei sehr riskant. Sie fürchteten, der Weg für den Rückzug könnte dadurch abgeschnitten werden. Doch brauchten sie sich keine Sorgen zu machen. Unter dem Kommando von General Han Xin kämpften die Offiziere und Soldaten heldenhaft gegen die Feinde und schlugen sie entscheidend. Nach dieser Schlacht wurde Han Xin gefragt, warum er das Wagnis auf sich nahm, eine Schlacht mit dem Rücken zum Ufer zu schlagen. Er antwortete, dass eine zahlenmäßig kleine Truppe diese Taktik im Notfall gegen die zahlenmäßig größere Truppe anwenden musste. Denn wenn die Soldaten mit dem Rücken zum Fluss kämpften, wussten sie, dass sie sich nicht zurückziehen konnten und siegen mussten, da sie andernfalls vernichtet würden.

2) In der Armee muss eiserne Disziplin herrschen. Geschichtliche Aufzeichnungen berichten, dass Sun Wu vom Fürstentum Qi zum Fürstentum Wu (am Unterlauf des Yangtse) kam und dem Wu-König sein Buch Die Kriegskunst von Sun Zi brachte. Nachdem der Wu-König das Buch gelesen hatte, bat er Sun Wu voller Begeisterung, nach seinen militärischen Ideen Kampfformationen zu bilden und die Truppen des Fürstentums Wu auszubilden. Sun Wu verteilte 180 Hofdamen auf zwei Kolonnen, die von zwei Lieblingskonkubinen des Wu-Königs angeführt wurden.

Sun Wu verlangte von ihnen, Disziplin zu halten. Niemand durfte lachen. Er betonte, dass jeder Verstoß gegen die Disziplin bestraft würde. Doch gehorchten ihm die Hofdamen nicht. Sie lachten und waren nicht zu bewegen, eine ordentliche Formation zu bilden. Nun ermahnte Sun Wu sie, seinen Befehl zu befolgen. Sie beachteten seine Aufforderung jedoch nicht. Aus Wut darüber beschloss Sun Wu, die zwei Konkubinen enthaupten zu lassen. Der Wu-König geriet in Panik und bat Sun Wu, die beiden Konkubinen zu verschonen. Doch Sun Wu setzte seinen Willen durch, die beiden Kolonnenanführerinnen hinzurichten. Danach lachten die anderen Frauen nicht mehr und exerzierten so gewissenhaft, wie Sun Wu es verlangte. Der Wu-König hegte keinen Hass gegen Sun Wu, sondern bezeugte ihm Respekt. Seitdem war er davon überzeugt, dass Sun Wu seine Erwartungen rechtfertigen konnte. Später half Sun Wu dem General Wu Yuan des Fürstentums Wu, die Hauptstadt Ying des Fürstentums Chu zu erobern. Die 30 000 Mann starke Wu-Armee besiegte die 200 000 Mann starke Chu-Armee. Sun Wu gab ein weiteres Beispiel dafür, das eine kleinere Armee eine größere besiegen kann.

3) Wer den Feind und sich selber kennt, wird in hundert Schlachten siegreich bleiben. Der Grund dafür, warum Sun Wu siegt, ist darin zu suchen, dass er die eigene Situation und die des Gegners genau kannte und entsprechende Maßnahmen traf. Er sagte, der weise Kaiser müsse die Entwicklungstendenz des Krieges erforschen, wenn er siegen wolle. Man solle sich weder auf Himmel und Sterne, noch auf Gott und Geister stützen, sondern man müsse sich bemühen, Informationen über die Lage des Feindes zu sammeln und zu analysieren. Daraus ergibt sich der richtige Gefechtsplan, der den Sieg garantiert.

„Es gibt drei Kategorien von Kommandeuren“, sagte Sun Wu, „Einige von ihnen werden unbesiegbar bleiben, wenn sie mit der eigenen Lage und der des Gegners vertraut sind; andere können nur halbweise siegreich werden, wenn sie nur sich selbst, aber ihren Feind nicht kennen. Wieder andere werden die Niederlage erleiden, wenn sie weder den Feind noch sich selbst kennen. Sie sind dumme Leute. Sie legen keinen Wert darauf, Informationen über den Feind und sich selbst zu sammeln und zu analysieren. Sie kommandieren blindlings herum, was zur Folge hat, dass sie völlig zusammenbrechen.“ Diese Worte Sun Wus stellen nicht nur für die Militärstrategen, sondern auch für alle anderen Berufe ein Leitprinzip dar. Daraus zieht man eine Lehre: Jede planlose Tätigkeit führt zum Verderben. Das vollständige Verständnis für die Gegebenheiten ermöglichte es, den Sieg zu erringen.

4) List ist im Krieg die Regel. Bei der Kriegführung versuchte Sun Wu, den Feind in jeder Hinsicht hinters Licht zu führen. Man müsse, so Sun Wu, auf alle Eventualitäten vorbereitet sein und es gut verstehen, den Feind hinterrücks zu überfallen, ohne ihn zur Besinnung kommen zu lassen. Um den Feind irrezuführen, seien Scheinmanöver notwendig. Dadurch könne man die Lage herbeiführen, die für die eigene Seite günstig, aber für den Feind ungünstig sei. „Der weise Kommandeur versteht es gut, den Feind an der Nase herumzuführen, ohne von ihm gebunden zu werden“, hieß es.

5) Den starken Kräften des Gegners aus dem Weg gehen und seine schwachen angreifen. Sun Wu war gegen das Abenteurertum. Er sagte, man dürfe nicht draufgängerisch gegen diejenigen Feinde, die viel stärker als die eigene Seite seien, kämpfen. Es müsse vermieden werden, einen Frontalangriff gegen die viel stärkeren Kräfte des Gegners zu unternehmen, sondern seiner schwachen Seite zu Leibe zu rücken, um einen Teil des Gegners außer Gefecht zu setzen. Wenn man an diesem Prinzip festhielte, könne eine relativ schwache Truppe eine relativ starke besiegen, war seine Meinung.

Die militärischen Gedanken von Sun Wu sind sehr dialektisch. Er sah ein, dass die beiden entgegengesetzten Seiten des Widerspruchs sich unter bestimmten Bedingungen ineinander verkehren. Das Falsche und das Wahre, die Mehrzahl und die Minderzahl, die Stärke und die Schwäche, die Arbeit und die Erholung, die Ordnung und das Chaos, der Mut und die Feigheit, der Angriff und die Verteidigung, der Vormarsch und der Rückzug, das Sein und das Nichtsein, der Frontalangriff und der Überfall – das alles ist nicht unveränderlich. Mit der Veränderung der Gegebenheiten werden die beiden entgegengesetzten Seiten des Widerspruchs umgewandelt. Sun Wu erkannte nicht nur das Gesetzmäßige dieser Umwandlung, sondern bemühte sich auch, die notwendigen Bedingungen zu schaffen, um diese Umwandlung zu beschleunigen. Er wartete nicht untätig, sondern entwickelte die Initiative seiner Truppen, um den Sieg zu erringen.

Sun Bin, der Nachfolger von Sun Wu

Die Militärstrategen-Schule von Sun Wu gehört zu den „hundert Schulen“, die während der Frühlings- und Herbstperiode und zur Zeit der Streitenden Reiche existierten. Es entstanden damals verschiedene militärische Werke, aber das obenerwähnte von Sun Wu hatte den stärksten Einfluss. „Jede Familie liest seine Schriften“, hieß es. Nach seinem Tode übernahm Sun Bin das Gedankengut von Sun Wu und verfasste das Werk Die Kriegskunst von Sun Bin, insgesamt 89 Schriften. Leider wurde dieses Buch der Nachwelt nicht überliefert. Er war ein talentierter Militärstratege. Sein Kommilitone Pang Juan, der damals einen höheren Posten als Sun Bin bekleidete, war auf ihn so eifersüchtig, dass er ihm die Kniescheiben entfernen ließ, damit er arbeitsunfähig war. Trotzdem verlor er seine Willensstärke nicht. Er tat so, als ob er irrsinnig geworden wäre, um seine Aufmerksamkeit abzulenken. Endlich ging er ins Exil. Er schrieb fleißig über die Kriegführung und wurde Armeebefehlshaber. In einer Schlacht wurde Pang Juan von der von Sun Bin angeführten Truppe gefangengenommen, berichtet ein Geschichtsbuch. (Nach anderen Aufzeichnungen soll er sich nach einer völligen Niederlage an einem großen Baum aufgehängt haben.) Sun Bin verstand es sehr gut, Listen anzuwenden. Zum Beispiel unternahm das Fürstentum Wei einen großen Feldzug gegen das Fürstentum Zhao. Dieses befand sich dadurch in großer Gefahr und bat das Fürstentum Qi um Hilfe und Asyl für Sun Bin, das dieses auch gewährte. Der Qi-König nahm den Vorschlag von Sun Bin an und befahl seinen Truppen, ins Innere des Fürstentums Wei vorzudringen, dessen Hinterland verteidigungslos war. Deswegen war das Fürstentum Wei gezwungen, seine Truppen aus dem Fürstentum Zhao zurückzuziehen, um sich selbst zu verteidigen. Das Fürstentum Zhao wurde gerettet, ohne dass das Fürstentum Qi einen einzigen Soldaten ins Fürstentum Zhao schickte. Die späteren Militärstrategen nahmen sich diese Taktik zum Beispiel. Sun Bins Weisheit war damals in aller Munde. Viele Legenden umranken ihn. Eines Tages zum Beispiel wetteiferte Tian Ji mit einem Mann im Pferderennen. Sein erstbestes, zweitbestes und drittbestes Pferd waren schwächer als die seines Gegners. Er fürchtete, das Wettspiel zu verlieren. Sun Bin gab ihm einen Rat: Bei den drei Runden des Wettspiels setzte er nicht ein Pferd gegen ein gleich gutes ein, sondern sein drittbestes gegen das erstbestes seines Gegners. Er musste bereit sein, die erste Runde zu verlieren und seinem Gegner eine Freude zu bereiten. Dann setzte er sein erstbestes Pferd gegen das zweitbeste und sein zweitbestes gegen das drittbeste seines Gegners ein. Tian Ji gewann nach dem Rat von Sun Bin das Spiel: Zwei zu eins. Dieses Beispiel lehrt, wie eine relativ schwache Truppe eine relativ starke besiegen kann.

Aus China im Aufbau, Nr. 12, 1986

 
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