Altbaugeschichten
Von Hou Ruili
Schon seit der Yuan-Dynastie (12711368) leben die Chinesen
in so genannten siheyuan, einem Verbund von Häusern rund
um einen quadratischen Hof. Allerdings mussten im Zuge der groß
angelegten städtischen Bebauung und anderen Veränderungen
im Stadtbild viele von ihnen weichen, um für Hochhäuser
Platz zu schaffen. Lücken sind dennoch geblieben, die früheren
Bewohner vermissen das Ethos ihrer früheren Wohnhäuser.
Wertvolle Erinnerungen an das alte Zuhause
Die 40-jährige Liu Jie verließ ihr altes Hofhaus vor
zehn Jahren.
Sie und ihre Familie, einschließlich ihrer Eltern, ihres
Ehemanns und des Neugeborenen, gehörten zu den Haushalten,
die als erste umgesiedelt wurden. Sie tauschten ihr 80 Jahre altes,
im Stadtzentrum gelegenes Haus gegen ein neues Appartment ein,
das 20 Kilometer vom Zentrum entfernt in einem Vorort liegt. Zu
dieser Zeit wurden mehr als 100 Hofhäuser dem Erdboden gleichgemacht.
Seitdem lebt Liu Jie mit ihrer Familie in einem Appartment mit
drei Schlafzimmern, jede Generation hat ihr eigenes. Das Wohnzimmer
ist der gemeinsame Treffpunkt. Dabei hat es nicht lange gedauert,
bis Liu Jie angefangen hat, ihr altes Leben zu vermissen. Als
sie mit ihrer Familie noch Teil der Hofgemeinschaft war, verbrachten
sie die meiste Zeit im Freien und genossen die heiße Mittagssonne,
lauschten dem Prasseln des Regens an feuchten Tagen und bestaunten
den Sternenhimmel in der Nacht. Seitdem wir in das Appartment
gezogen sind, sitzen wir oft beieinander und sprechen über
unser altes Leben im Hof. Wir vermissen unsere alten Nachbarn.
Einige waren natürlich viel mehr als flüchtige Bekanntschaften,
weil wir sie jeden Tag gesehen haben, kamen sie uns wie Verwandte
vor, erinnert sich Liu Jie.
Ihr altes Zuhause war vom Standardgrundriss, etwa 50 qm groß
und in einen inneren und einen äußeren Hof unterteilt.
Dabei lebten jeweils zwei Familien, die beide drei sich gegenüberliegende
Räume bewohnten, im inneren Hof. Ein Giebeldach sorgte im
Sommer für Kühle, im Winter für Wärme. In
der Mitte des Hofs war ein drei Meter großes Blumenbeet
angelegt, aus dem pinke Blüten sprossen.
Die erste Arbeit des Tages bestand im Fegen des Hofs,
bemerkt Liu Jie. Am späten Nachmittag trugen die Kinder ihre
Schreibtische in den Hof und erledigten ihre Hausaufgaben unter
freiem Himmel. Später würden sie spielen gehen oder
ruhig in einer Ecke hocken und Insekten fangen. Insbesondere vermisst
Liu aber die Sommernächte, wenn ... jeder in der verhältnismäßigen
Kühle des Hofs saß und die Kinder in die Geschichten
versanken, die ihnen von ihrer Mutter oder anderen Bewohnern erzählt
wurden und die von Generation zu Generation weiterlebten.
Andererseits waren mit dem Leben in siheyuan, vor allem in einem
Mehrfamilien-Hof, viele Unannehmlichkeiten verknüpft. Eine
davon war beispielsweise die schlechte Lärmisolation, die
bewirkte, dass man jedes Wort des Nachbarn hören konnte und
noch spät in der Nacht durch das Fernsehen wach gehalten
wurde. Außerdem gab es keine Zentralheizung, so dass man
im Winter gewöhnlich einen Kohleofen nutzen musste und sich
folglich der ständigen Gefahr einer Kohlenmonoxidvergiftung
aussetzte. Gekocht wurde mit Gas aus der Kartusche anstatt aus
der Leitung. Hinzu kam, dass sich mehrere Haushalte nicht selten
eine Küche teilen und ihre Speisen dementsprechend von dort
über den Hof in die Wohnzimmer tragen mussten. Darüber
hinaus gab es für alle im Hof ansässigen Familien nur
ein WC. Insgesamt war ein beträchtlicher Teil der Häuser
in einem so schlechten Zustand, dass die Bewohner gesundheitlich
bedroht waren. Aber ungeachtet der materiellen Nachteile des Lebens
im Hof zeigten sich die Bewohner, was die Aufgabe der kameradschaftlichen
Verbindung betraf, doch sehr zurückhaltend.
Volkskunst in den Altbauten
Das erste Mal, dass Beijing als chinesische Hauptstadt bestimmt
wurde, liegt bereits 800 Jahre zurück, wobei es zudem, historisch
und kulturell gesehen, die am besten erhaltene Stadt des Landes
ist. Dabei war das Wohnen in der Hauptstadt während des feudalen
Zeitalters hierarchisch geordnet. Während der Kaiser in der
Verbotenen Stadt und die Adligen in den Fürstenhäusern
ihre Quartiere bezogen, lebten die wohlhabenden Bürger in
siheyuan und die Armen in Mehrfamilien-Höfen. Nachdem die
Volksrepublik China 1949 gegründet worden war, institutionalisierte
die chinesische Regierung schließlich ein einheitliches
Wohnungszuweisungssystem. Infolgedessen fungierten bestimmte siheyuan
als Mehrfamilien-Höfe, die nun von Mitgliedern aller Gesellschaftsschichten
bewohnt wurden. Die ursprünglichen Mehrfamilien-Höfe
verwandelten sich wiederum zum Teil in kleinere Wohnhöfe.
Bei einem siheyuan handelt es sich um einen Hof, der ringsum
von Häusern eingefasst wird. Kein Fenster führt nach
draußen, so dass, wenn das Tor geschlossen wird, gänzlich
Ruhe einkehrt. Das Holzgerüst der Häuser unterscheidet
sich je nach Größe und Form des Fundaments, der Vorliebe
und dem Vermögen der Bewohner, der technischen Kompetenz
des Architekten und der Beratung des geomantischen Wahrsagers.
Häufige Eigenschaften sind dabei eine Bilderwand, ein gewundener
Korridor, Ziegelschnitzereien, horizontal beschriebende Bretter,
Paarreime an Säulen und ein Steinsockel zum Besteigen des
Pferdes.
Ein siheyuan verfügt über mindestens einen vorderen
und einen hinteren Hof. Sein Tor liegt gegenüber der Bilderwand,
um die man eine Drehung machen muss, um in den Hof zu gehen. Will
man das Schlafzimmer des Hausherrn aufsuchen, sind weitere Drehungen
erforderlich. Alles in allem unterscheidet sich diese Art des
Bauens stark von der westlichen Hof-Architektur, bei der eine
Treppe direkt in das Schlafzimmer des Hausherrn führt und
Gäste ohne große Wendungen das Haus durchqueren können,
nachdem sie es betreten haben.
Geschickt angelegte Höfe, die sich entlang Gassen bewegen
und deren Mauerfarbe sich dabei stets fortsetzt, sind eine Eigentümlichkeit
des heutigen Beijing. Vielleicht umgeben die Mauern ein siheyuan
im traditionellen Stil, vielleicht aber auch einen überfüllten
Mehrfamilien-Hof. Welche Sorte von Hof es auch sein mag, die Bewohner
kommen gut miteinander aus und teilen, was sie haben, insbesondere
ihre Gesellschaft. Obwohl die Bewohner eines Hofs den unterschiedlichsten
Gesellschaftsschichten angehören der eine ist ein
hoher Regierungsbeamter, der andere ein Gelehrter, der nächste
vielleicht ein einfacher Arbeiter , begegnen sie sich doch
auf derselben Grundlage.
Aber auch in anderen chinesischen Städten befinden sich
unzählige alte Gebäude. Die städtische Regierung
von Hangzhou bezeichnet mindestens 50 Jahre alte Häuser aus
Holz und Ziegelsteinen, von denen es dort einige tausend gibt,
als alt. Die alten Häuser in Shanghai, die durch
shikumen verkörpert und in denen chinesische und westliche
architektonische Stile kombiniert werden, wurden in der Mitte
des 19. Jahrhunderts gebaut.
Der Hof ist eine gebräuchliche Eigenart von alten Häusern
in vielen chinesischen Orten und einige Gelehrte nehmen an, dass
die städtische Volkskunst Chinas von dieser Art des Lebens
und Wohnens abstammt. Auch Arbeitseinheiten und Wohnheime der
Belegschaft haben in der Regel ihren eigenen Hof und selbst die
modernsten Eigentumswohnungen sind auf diese Weise angeordnet.
Die Bewahrung der alten Häuser
Viele alte Häuser sind vom Abriss bedroht. Hinzu kommt,
dass die Anzahl der Gassen in Beijing, glaubt man den Statistiken,
jährlich um 600 Stück abnimmt. Die Lokalregierung Beijing
hat mittlerweile 25 Konservierungsbereiche für alte Häuser
bestimmt, mit denen 37% der alten Innenstadt abgedeckt werden.
Hauptsächlich handelt es sich dabei um siheyuan aus der Ming-
und der Qing-Dynastie. Die übrigen 60% der alten Häuser,
die nicht weniger historischen Wert besitzen, bleiben dagegen
ungeschützt.
Diese Entwicklung hat viele Versuche zur Konservierung der chinesischen
Wohnarchitektur seitens verschiedener Stadtviertel veranlasst.
Im Dorf Zhangwan, das zur Gemeinde Zhangjiawan im Bezirk Tongzhou
von Beijing gehört, wurde beispielsweise ein Bereich, der
aus vielen verschiedenen siheyuan besteht, in ein siheyuan-Museum
verwandelt.
In diesem Sinne hat die Lokalregierung von Hangzhou kürzlich
einen Erlass hinsichtlich der Erhaltung von Altbauten gefasst.
Durchgeführt wurde die Bestimmung auch von Freiwilligen,
die mit dem Grund und Boden eng verbunden sind. Ihnen wurde die
Verantwortung für die Suche nach und Empfehlung von Altbauten,
für die eine Konservierung nach ihrem historischen,
kulturellen und wissenschaftlichen Wert in Frage kommt,
übertragen.
Die Lokalregierung von Suzhou erprobt unterdessen eine neue Konservierungsmethode.
Während sie die Erneuerung infrastruktureller Einrichtungen
finanziell fördert, spenden die Bewohner mit der Vereinbarung,
dass es um den Erhalt des ursprünglichen Rahmenwerks geht
ihrerseits Geld, um die Innenausstattung zu renovieren.
Angesichts der chinesischen Vorliebe für Höfe zeigen
sich Bauunternehmer im ganzen Land optimistisch, was die zukünftige
Entwicklung von Wohnhäusern mit einem Hof anbelangt. Die
zeitgenössischen Hofhäuser sind mittlerweile mit allem
modernen Komfort versehen und auch gegen Lärm ausreichend
geschützt.
Aufgrund von Platzmangel befinden sich die meisten der neu erbauten
Hofhäuser in abgeschiedenen Gebieten. Es gibt noch nicht
sehr viele von ihnen, für viele Chinesen sind sie finanziell
nicht tragbar. Dennoch verkaufen sie sich wie warme Semmeln.
|