Ming,
Mao und Money
Erste Einblicke ins Reich der Mitte
Von
Klaus Meyer zu Brickwedde
Natürlich wird man oft gefragt, aber man muss sich die Frage
auch selbst stellen: Warum Beijing? Und egal wie oft
man die Frage hört und wie lange man auch darüber nachdenkt,
die Antwort bleibt schwer. Vielleicht liegt es ganz einfach an
der europäischen Presse und den Fernsehübertragungen,
vielleicht aber auch an den Bestsellerlisten oder an den Vorlesungsverzeichnissen
der Hochschulen. Überall ist es das eine, überall begegnet
einem dieses große Reich, das mit scheinbar neuer Kraft
strahlt und dessen Anziehungskraft sich durch tägliche Präsenz
mehr und mehr steigert. Man erfährt, dass China wächst
und dass seine Rolle im weltpolitischen Verkehr zunimmt. Man hört
diese Worte Wachstum und Entwicklung oder
Dynamik, und man hört sehr genau hin. Die einen
vielleicht mit nicht geringer Sorge, sehen sie doch dort einen
Konkurrenten heranwachsen, der noch vor 25 Jahren für sie
kaum von Bedeutung war. Aber die anderen entdecken in diesen abstrakten
Begriffen vielleicht eine ganz praktische Möglichkeit der
Teil- und Anteilnahme. Natürlich dauert es bei ihnen eine
Weile, aber irgendwann, nach stets gesteigerter Aufmerksamkeit,
nach ersten interessierten, dann langsam begeisterten Annäherungen
und schließlich nach vielen Terminen, Telefonaten und Briefköpfen
begegnet man der Hauptstadt des großen Reiches und nimmt
seine Taschen vom Fließband und ist also in Beijing angekommen.
Schnell spürt man das. Wachstum im wahrsten
Sinne des Wortes. Die Wolkenkratzer stehen links und rechts, hinten
und vorne, der eine im Abschluss begriffen, der andere noch als
kahles Gerüst, steinern und doch sprießend, sie wachsen
hinauf. Man könnte diese Bauten jeden Tag fotografieren,
jede Stunde, sie bewegen sich andauernd. Aber wo sollen die Menschen
auch sonst wohnen, die wieviele? 15 Millionen? Wo
sollen sie arbeiten, wo leben?
Und wo sollen sie sich das ist in diesen Tagen eine wichtige
Frage treffen und ihre Raketen gemeinsam betrachten, bis
das neue Jahr empfangen und das Frühlingsfest mit viel, viel
Donner eingeläutet wird? Es kann wahrscheinlich keine bessere
Zeit für einen Besuch der Metropole geben als die Zeit des
chinesischen Jahreswechsels, wenn die Chinesen eine alte Tradition
für viele Tage wieder aufleben lassen. Dann ist es einen
Moment lang so, als könnte man ihnen direkt in ihr Innerstes
sehen und ein kleines Stück ihrer Schönheit erkennen
und vielleicht erwidern.
Schönheit. Das ist, um China und Beijing zu verstehen, ein
ebenso wichtiger Begriff wie Wachstum oder Dynamik.
Was den Besucher in seinen ersten Eindrücken hier erwartet,
stammt vor allem, aber nicht nur, aus den kulinarischen und architektonischen
Feldern. Man lernt ziemlich schnell, dass der chinesischen Küche
oft Unrecht getan wird. Zum einen sind die Speisen nach
europäischen Gesichtspunkten nicht so extravagant,
wie gerne kolportiert wird, was heißen soll, dass die Verköstigung
eines Hundes auch in China Seltenheitswert hat und vermutlich
eher den Süd-Koreanern zuzuordnen ist. Und zum anderen ist
es eben so, dass jeder, der sich in Europa gerne die Zeit für
den Besuch eines chinesischen Restaurants nimmt, in China mit
Überraschungen zu rechnen hat schlicht und ergreifend
weil man es mit zwei völlig verschiedenen Gegenständen
zu tun zu haben meint. Man lernt also, dass die Chinesen den Gaumen
zu umschmeicheln verstehen. Zwar wird dem Interessierten versichert,
dass in erster Linie die Kochkunst aus Sichuan auf Schärfe
ausgerichtet ist, aber der Hitze im Hals wird auch in Beijing
niemand entgehen können. Dabei hat das Essen nicht nur diese
enorm belebende Wirkung, es geht von ihm gleichsam ein ästhetischer
Reiz aus. Und angesichts diesen Reizes versteht man plötzlich
auch, warum sich selbst gute Freunde lauthals darüber streiten,
wer denn nun bezahlen darf. Wer will es sich schon nehmen lassen,
vor anderen für diese Art von Schönheit aufzukommen?
Bei der anderen Seite der Schönheit, die einem in Beijing
nicht nur in die Nase, sondern auch vor die Augen steigt, handelt
es sich um die alte Architektur. So sehr diese Weltstadt auch
in die Höhe wächst und so sehr ihr Antlitz auch mittlerweile
von blinkenden Glastürmen gezeichnet wird, so wichtig ist
doch der Erhalt ihrer traditionellen Wohnräume, der Hutongs.
Man läuft die langen, breiten und stark befahrenen Straßen
hinab und hinauf, man schaut in die unzähligen Schaufenster,
hinter denen die facettenreichsten Waren feilgeboten werden, man
hört den unablässig brummenden und täglich zunehmenden
Verkehr neben, vor und hinter sich. Aber dann biegt man vielleicht
rechts ab, ganz unbewusst, und wird scheinbar von einer
Sekunde auf die andere von einer Art innerstädtischem
Paradies aufgenommen und ist plötzlich in den Hutongs. Natürlich
fragt man sich, wie die Lebensumstände hier zu beurteilen
sind, zumal es beispielsweise nur öffentliche Toiletten gibt.
Aber das ist ein Punkt, der den traditionell und ästhetisch
ausgerichteten Blick nicht beeinträchtigen kann. Wie ist
es in den Hutongs? Jedenfalls anders. In den Hutongs hört
man die Stadt, als würde man sich gar nicht mehr richtig
in ihr befinden, Stille macht sich breit. In den Hutongs versiegt
der unendliche Menschenstrom und nur einzelne und einzeln wahrnehmbare
Bewohner ziehen ihres Weges. Die Hutongs sind klassische Wohnviertel,
kaum ein Geschäft lässt sich ausfindig machen, überall
nur die schmalen Straßen und Zugangswege zu den Behausungen.
Fahrräder stehen hier und da, auch Handkarren. Und der Wind
spielt mit den Stromkabeln wie eine Katze mit dem Wollknäuel.
Dabei bilden die Hutongs für den schönheitsliebenden
Ausländer nur den Auftakt zu einer langen Beobachtungs- und
Fotografietour. Im Endeffekt ist es vermutlich gar nicht so wichtig,
wo man diese Art von Tour beginnt oder beendet. Wichtig ist nur,
dass man sie in Beijing unternimmt. Es scheint nämlich wirklich
so zu sein, wie es ein Franzose kurz nach meiner Ankunft ausdrückte:
Die Stadt ist ein einziges Fotomotiv. Natürlich
sind etwa der Kaiserpalast oder der Tiananmen-Platz wichtige
Ziele für den Fremden. Aber die Schönheit der Stadt
liegt an jeder Straßenecke, man muss sich praktisch nur
noch bücken.
Schöne, aber auch interessante, seltsame und lustige Dinge
lassen sich in Beijing jeden Tag beobachten. Ein kleines seltsames
Detail ist zum Beispiel, dass man viel mehr Sorten von Verkehrsmitteln
entdecken kann als auf europäischen Straßen. Es gibt
natürlich Autos, Busse, Motor- und Fahrräder, letztere
versteht sich in ungeheuren Mengen (kennen Sie das
Lied There are nine million bycicles in Beijing?).
Aber es lassen sich in dem, übrigens nur scheinbaren, Verkehrschaos
auch solche besonderen Vehikel entdecken wie etwa die Rikschas,
die elektrisch betriebenen Fahrräder oder die dreirädigen
Motorroller für behinderte Menschen.
Ein anderes merkwürdiges Detail lässt sich beobachten
und auch benutzen, wenn man im Winter den Qianhai unmittelbar
im Herzen der Stadt aufsucht. Dort amüsieren sich die Leute
auf dem Eis nicht nur mit einfachen Schlittschuhen. Gegen ein
geringes Entgelt lassen sich auch Fahrräder mit Kufen oder
Schlitten mit Kufen ausleihen, wobei letztere durch eine Art von
Skistöcken vorwärts zu bewegen sind.
Aber auch das chinesische Fernsehprogramm enthält so manche
Seltsamkeit, die dem Europäer vielleicht bemerkenswert anmutet,
die aber gleichzeitig Auskunft gibt über die Entwicklung
des Landes und die damit verbundenen Erfordernisse. So lässt
sich auf dem einzigen englischsprachigen Sender Chinas, CCTV-9,
eine interessante Fernsehshow anschauen: The English Speaking
Contest. Das Prinzip der Show ist einfach: Wer die englische
Sprache am besten beherrscht, gewinnt.
So sind die Chinesen. Aber sie sind auch anders. Es gibt Begegnungen
und Geschichten. Manche Geschichte handelt von der Gutgläubigkeit,
manche von der Höflichkeit oder der Zuvorkommenheit, die
andere von der Verschlossenheit oder ganz einfach von der Sparsamkeit.
Die eine Geschichte da ist das Wort wieder ist sehr
schön, die andere ernüchternd.
Manchmal geht man abends auf der Straße an einer Box vorbei,
aus der Melodien verströmt werden. Man sieht dann in die
Jahre gekommene chinesische Frauen und Männer, die sich umarmen
und ihre Tanzkünste wohlgemerkt neben einer sechsspurigen
Ringstraße gemeinsam auffrischen. Oder man fährt
zur Arbeit und sieht, wie die Menschen ihre Körper mit bunt
bemalten Turngeräten in Schwung halten. Wenn man sich allerdings
im Park zu nah an den Kampfsportler heransetzt, der schon seit
einer halben Stunde seine Bewegungen wie in Zeitlupe vollführt,
läuft man Gefahr, ihn zu verscheuchen. Dagegen die Kinder
mit ihrem süßen Lockruf, den sie aus dem Englisch-Unterricht
mitgebracht haben: Nice to meet you. Und nicht zu
vergessen der liebe Mann im Fahrstuhl, der sich über das
Ni hao so gefreut hat und jetzt auch noch lächelt,
obwohl man ihn weder versteht noch ihm etwas zu entgegen vermag.
Ein erster allgemeiner Eindruck, was die Beziehung zwischen Einheimischen
und Einwanderern betrifft, zu denen ich mich keineswegs zählen
kann, ist hingegen, dass sie zwar kommunizieren, beruflich und
persönlich, dass sie aber den kürzesten Weg zueinander
noch nicht gefunden haben. Wenn sich, wie beispielsweise im Banana-Club
unter der Führung eines niederländischen Techno-DJs,
ihre Körper ständig berühren und sich ihr Schweiß
praktisch vermengt, gibt es physisch keine Distanz mehr. Und dennoch
liegt den ganzen Abend über eine kaum spürbare Grenze
zwischen ihnen. Aber worin diese wirklich besteht und was eigentlich
ihr Inhalt ist, das weiß ich auch nicht.
Aber warum nun eigentlich China? Die Antwort ist in diesem Fall
tatsächlich Programm: Ming, Mao und Money. Erst mag es so
scheinen, als würde damit auf eine historische Folge, auf
drei unterschiedliche und voneinander unabhängige Epochen
hingewiesen was aber nicht richtig ist. Obwohl das Geld
im modernen China eine völlig neue Funktion erhalten hat,
ist der Urheber der mächtigen Volksrepublik, nicht zuletzt
am Tiananmen-Platz, stets gegenwärtig. Und obwohl die
Ming-Dynastie und vor und nach ihr viele Perioden der nationalen
Geschichte im modernen China nur in geringem Maße präsent
zu sein scheinen, wird beispielsweise jeder Besuch der Ming-Gräber
nördlich der Hauptstadt einen mehr als bleibenden Eindruck
hinterlassen.
China tradiert sich selbst, setzt sich aber auch selbst fort.
Dabei ist es möglich, sowohl die Vergangenheit als auch die
Gegenwart anzuschauen und zu beurteilen. Aber es ist unmöglich,
etwas über das Morgen zu sagen. Und vielleicht ist das noch
die beste Antwort auf die eingangs gestellte Frage: Vielleicht
geht es bloß darum, dass kein Ort auf der Welt dem Morgen
soviel abgewinnen kann wie China im Allgemeinen und Beijing im
Besonderen.
Der Autor ist Praktikant bei
der deutschen Ausgabe von China Today in Beijing.
Er studiert im neunten Semester Soziologie, Philosophie und Politikwissenschaft
an der Universität Münster.
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