Auf
die Arche Noah flüchten
Bewusstseinsbildung
zum Thema Sicherer Sex unter den Homosexuellen in
Shenyang durch die Peergruppe
Von
Bai Xu
Von weitem sieht der Marktstand wie jeder andere im Wirtschaftszentrum
von Shenyang, der Provinzhauptstadt der nordöstlichen Provinz
Liaoning in China, aus. Die Waren Modeaccessoires, wie
Handtaschen, Sonnenbrillen, Krawatten, Parfüm und Schmuck
sind für jugendliche Kunden gedacht. Aber nach genauerem
Hinsehen, bemerke ich auf einem Regal Plastikkondome für
die Auslage und die Regenbogenflagge, das Symbol der Homosexuellen.
Junge Männer kommen zu zweit und zu dritt herein, um sich
umzusehen, und probieren verschiedene Artikel an, während
sie sich mit dem 24-jährigen Besitzer des Standes, Xiao Zhe,
unterhalten. Auf dem Weg hinaus nehmen sich manche Gratiskondome,
die freundlicherweise von der Arche Fürsorgegruppe für
Tongzhi Shenyang zur Verfügung gestellt wurden, aus einem
großen schwarzen Plastiksack, der unter einem Brett steht.
Ich bin schwul, sagt mir Xiao Zhe offen. Eine Aufgabe
von ihm als Freiwilliger der Arche Fürsorgegruppe für
Tongzhi Shenyang einer Organisation, die von Schwulen geleitet
wird und Hilfe und Unterstützung für homosexuelle Frauen
und Männer bietet ist, 300 Kondome an lokale Schwule
pro Monat zu verteilen und Bewusstseinsbildung zum Thema Sicherer
Sex durch die eigene Peergruppe zu betreiben. Tongzhi
Genosse auf Chinesisch ist die Anrede, mit der die
120 000 homosexuellen Männer in der 6,67 Millionenstadt Shenyang
und die männlichen Homosexuellen in ganz China angesprochen
werden wollen. Xiao Zhe sagt, da sein Stand ein bekannter Treffpunkt
für Schwule ist, ist es praktisch, hier Kondome zu verteilen
und Informationen über die Wichtigkeit von sicherem Sex zu
bieten. Es ist einfach, hier Gespräche anzuregen.
Eine Studie, die von Dr. Zhang Beichuan, einem Spezialisten für
AIDS und Geschlechtskrankheiten, durchgeführt wurde, zeigt,
dass die AIDS-Ansteckungsrate in China unter Homosexuellen stetig
steigt. Sie stieg von 2,5% (eine Zahl, die mit der Hilfe von 480
Interviewpartnern ermittelt wurde) im Jahre 1998 auf 4,2% (800
Interviews) 2000 und 5,4% (1109 Interviews) 2001. In China leben
zur Zeit fünf bis zehn Millionen Homosexuelle, laut einer
Statistik des Gesundheitsministeriums aus dem Jahre 2004. Neben
Drogenabhängigen, die Nadeln benutzen, sind die Homosexuellen
die zweite Risikogruppe für HIV/AIDS in China, sagt
Dr. Zhang. Die einzige Möglichkeit, wie sich ein Mann, der
Sex mit einem anderen Mann hat, davor schützen kann, mit
AIDS oder anderen verbreiteten Geschlechtskrankheiten wie Syphilis
und Gonorrhö angesteckt zu werden, ist der Gebrauch von Kondomen.
Der Gründer der Arche ist 32 Jahre alt und als Tie Cheng
bekannt. Er erzählt mir: Wir haben zur Zeit ca. 100
Freiwillige in unserer Fürsorgegruppe. Xiao Zhe ist einer
unserer neun Kernmitglieder. Gemeinsam können wir ca. 10
000 Homosexuelle in ganz Shenyang beeinflussen, ungefähr
8,3% der Gesamtzahl. Die Gruppe, die im April 2002 gegründet
wurde, hat ihren Namen von Noah aus dem Alten Testament, der auf
Gottes Anweisung hin eine Arche baute, damit er, seine Familie
und eine Auswahl der damaligen Fauna und Flora der Sintflut entkommen
könnten. Tie Cheng erklärt die Analogie: Wir benötigen
einen ähnlichen Zufluchtsort aus dem Meer der Ignoranz und
Vorurteile, mit denen wir jeden Tag konfrontiert werden.
Tie Cheng erkannte die wahre Bedrohung durch die HIV/AIDS-Infektion
unter Homosexuellen 2002 bei einem Schulungsworkshop in Beijing.
Er erinnert sich: Ich fühlte mich verpflichtet, zu
handeln, um mich und andere Homosexuelle vor dieser Todesdrohung
zu beschützen. Die beste Methode schien, Bewusstseinsbildung
zum Thema Sicherer Sex durch die Peergruppe zu betreiben durch
Zuhilfenahme des eng geknüpften nationalen und internationalen
Netzwerkes Homosexueller. Nach Tie Chengs Rückkehr
nach Shenyang wurde die Arche Fürsorgegruppe für Tongzhi
Shenyang gegründet. Die Aktivitäten beschränkten
sich anfangs auf die Verteilung von Gratiskondomen in Schwulenbars.
Doch es stellte sich rasch heraus, dass ein anderer Verteilerort
gefunden werden musste. Tie Cheng erklärt: In Shenyang
verdienen nur wenige Homosexuelle mehr als 1000 Yuan pro Monat.
Wie sollen die es sich leisten können, eine Bar zu besuchen,
in der ein Bier 20 Yuan kostet? Er und seine Arche-Kollegen
zogen verschiedene Treffpunkte von Schwulen in Betracht und wählten
davon neun öffentliche Orte aus, die sich für die Verteilung
von Kondomen und die Bewusstseinsbildung zum Thema Sicherer
Sex durch die Peergruppe eigneten, darunter waren Parks,
Schwimmbäder und Xiao Zhes Stand.
Xiao Zhes Auftrag, durch die Peergruppe erzieherisch zu wirken,
war nicht ohne Anfangsschwierigkeiten. Mein Angebot von
Gratiskondomen und Merkzetteln über sicheren Sex wurde zum
Großteil abgelehnt. Manche sagten, dass der Gebrauch von
Kondomen den Genuss beim Sex mindere, andere sagten, dass es Misstrauen
dem Partner gegenüber ausdrücke, erinnert er sich.
Doch trotz vieler Frustrationen machte Xiao Zhe mit der Unterstützung
von Leuten wie Tie Cheng weiter. Man kann von den Leuten
nicht erwarten, dass sie sofort die Prinzipien von sicherem Sex
verstehen und bereitwillig annehmen, sagt Tie Cheng. Die
einzige Möglichkeit ist, so lange weiter zu machen, bis sie
einsehen, wie wichtig es ist.
Eine Person, der die Arche Fürsorgegruppe für Tongzhi
Shenyang geholfen hat, ist der 35-jährige Xiao Fei. Er steckte
sich mit Gonorrhö an, als er gerade in die Stadt gekommen
war mit nur 100 Yuan in der Tasche und ohne Job. Tie Cheng borgte
ihm das Geld, das er für die medizinische Behandlung brauchte,
und, da es Xiao Fei zu peinlich war, alleine ins Krankenhaus zu
gehen, suchte er einen Freiwilligen, der ihn zu den Untersuchungen
begleitete. Das trug beträchtlich zur Linderung von Xiao
Feis Ängsten bei. Die Besorgnis der Arche rührte
mich sehr, sagt Xiao Fei, der zugibt, dass er, bevor ihn
die Arche unterstützte, große Angst hatte, als Homosexueller
geoutet und als Ausgestoßener behandelt zu werden. Er sagt:
Als Schwuler fühlte ich mich völlig isoliert und
hatte niemanden, an den ich mich wenden konnte, bis ich die Arche-Gruppe
kennen lernte. Xiao Fei ist nun aktives Mitglied und hilft,
Kondome in einem Shenyanger Park zu verteilen.
Das Programm zur Bewusstseinsbildung zum Thema Sicherer
Sex durch die Peergruppe der Arche Fürsorgegruppe wird
durch das Krankheitsvorsorge- und Kontrollzentrum der Provinz
Liaoning unterstützt. Es arrangiert Trainingskurse für
Freiwillige und bietet einen formellen Rahmen für ihre Arbeit.
Als Gegenleistung hilft die Arche dem Zentrum mit Primärerhebungen
ein großer Gefallen, da die weitverbreiteten Vorurteile
gegen Homosexuelle in China dazu führten, dass diese extrem
ungern hervortreten und ihre Homosexualität zugeben, egal
wie würdig der Anlass ist. Lu Chunming, Vorsitzender des
Instituts für AIDS und verbreitete Geschlechtskrankheiten
am Krankheitsvorsorge- und Kontrollzentrum der Provinz Liaoning,
erinnert sich: Unsere Arbeit mit dieser Gruppe war anfangs
völlig erfolglos, da wir keinen Zugang zu dieser Gemeinschaft
finden konnten. Wir wissen nicht einmal genau, wie viele Homosexuelle
es in der Provinz gibt. Er fügte hinzu, dass die Unterstützung
der Arche-Gruppe durch das Zentrum gewinnbringend für
beide Seiten ist. Die Ärzte wirken auch unterstützend,
besonders Dr. Jin Guihe von der dermatologischen Abteilung des
Krankenhauses Fengtian, der über 20 Patienten behandelte,
die von Tie Cheng begleitet wurden. Diese Patienten stehen
unter starkem psychischem Druck und haben große Angst davor,
offenzulegen, dass sie schwul sind, deshalb sprechen sie weder
ich, noch die Krankenschwestern auf ihre Sexualität hin an
und wir versuchen, ihre Kosten niedrig zu halten, sagt Dr.
Jin, dessen verständnisvolle, nicht beurteilende Einstellung
die Arche-Gruppe dazu brachte, ihn als einen Hausarzt zu empfehlen
für all jene, die ihre sexuelle Orientierung nicht gerne
preisgeben.
Geld, oder besser Geldmangel bereitet Tie Cheng großes
Kopfzerbrechen. Die Gruppe bestand ohne jegliche Unterstützung
bis Januar 2004, als Dr. Zhang Beichuan 6000 Yuan spendete für
ein Kooperationsprogramm. Die Arche verwendete diese Summe, um
ein 30 qm großes Büro zu mieten, das sie als Hauptbüro
für die Schwulen- und Lesben-Hotline verwendeten. Heute erhält
die Gruppe jährlich eine Summe von 12 000 Yuan von der britischen
Barry & Martins Foundation, die es ihnen ermöglichte,
weitere Aktivitäten zu entwerfen für die Bewusstseinsbildung
zum Thema Sicherer Sex. Doch Tie Cheng sagt, dass
die Gruppe noch mehr Gelder benötigt für die Ausbildung
von Freiwilligen, das Anwerben professionellen Personals und,
was am wichtigsten ist, um das Bewusstsein für sicheren Sex
der Eltern von Schwulen zu bilden.
Das ist ein wesentliches und herausforderndes Problem, weil,
wie Tie Cheng bestätigt, Schwule meistens ihren Eltern ihre
sexuelle Neigung verheimlichen. Viele Chinesen lehnen das Konzept
der Homosexualität ab, da es sich mit den ehrwürdigen
Taditionen der Ehe und des männlichen Erbens, der die Familienlinie
fortsetzt, nicht vereinbaren lässt. Die Homosexualität
eines Nachkommens wäre deshalb der Skandal schlechthin für
die meisten Eltern. Diese vorherrschende Einstellung ist eine
Quelle für Seelenqualen und daraus resultierende psychische
Probleme von Schwulen und Lesben. Von Mai bis September 2000 führte
Dr. Zhang eine Umfrage unter 950 Homosexuellen durch. Seine Ergebnisse
zeigten, dass 67,3% sich einsam fühlen, 63,3% depressiv waren,
34,5% Selbstmord in Erwägung gezogen und 10,6% einen Selbstmordversuch
hinter sich hatten. Weitere 38% fühlten sich durch ihre sexuelle
Orientierung erniedrigt oder wurden von anderen körperlich
verletzt.
Dr. Zhang hält viel von der Arche-Gruppe. Alle Menschen
sind soziale Wesen und die Arche bietet eine Umgebung, in der
sich Homosexuelle sicher genug fühlen können, ihre wahren
Gefühle herauszulassen und ihre Probleme gemeinsam mit Gesinnungsgenossen
zu lösen. Obwohl die Gesellschaft zunehmend toleranter
wird, sind Homosexuelle noch immer eine gefährdete Gruppe,
sagt Zhang. Er erwähnte eine lokale Universität in Liaoning,
deren Schulregeln besagen, dass all diejenigen, die bei homosexuellen
Handlungen erwischt werden, von der Universität ausgeschlossen
werden.
Währenddessen haben weder Tie Chengs noch Xiao Zhes Eltern
eine Ahnung von der Art der freiwilligen Arbeit, die ihre Söhne
leisten, geschweige denn von ihrer sexuellen Orientierung. Xiao
Zhes Vater starb vor einigen Jahren und seine Mutter hat hohe
Erwartungen an ihren Sohn. Er kann sich nicht vorstellen, sich
vor seinen Freunden und Verwandten zu outen. Ich werde meinen
Geliebten nicht verlassen und ich kann meine Mutter nicht enttäuschen:
Ich lebe wie ein Dieb, deshalb ist der letzte Rettungsort der
Arche Noah noch in weiter Ferne, sagt er ironisch. An Tie
Cheng gewandt scherzt er: Falls du einmal Experimente durchführen
willst, über Bewusstseinsbildung für Eltern zum Thema
,Sicherer Sex und HIV/AIDS, fang bitte bei mir an.
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