12/2005
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Zehn Jahre Armutsbekämpfung in Ningxia - ein Fotoreporter berichtet

Es ist Mai 1995. In einem Restaurant für handgemachte Nudeln frühstücken drei Mitarbeiter der landwirtschaftlichen Abteilung der Planungskommission von Ningxia (heute: Kommission für Entwicklung und Reform) und planen ihre Route nach Xihaigu. Plötzlich taucht ein pummeliger Junge auf und stellt sich vor: "Ich bin Fotoreporter der Zeitschrift Ningxia im Bild. Darf ich mit Ihnen zusammen nach Xihaigu fahren, um einige Aufnahmen zu machen?" "Kein Problem", antworten die drei Männer. "In zehn Minuten fahren wir los." Der Junge verschwindet wie der Wind, und kommt einige Minuten später Schweiß durchnässt wieder zurück. Nun, samt Kamera, machen sich die vier Männer auf den Weg. In den darauf folgenden zehn Jahren widmet dieser Fotoreporter seine ganze Aufmerksamkeit der Armutsfrage und ihrer Bekämpfung. Es folgen unzählige Fotos, von denen mehr als 1000 den Weg in die Medien finden. Ma Ming, stellvertretender Leiter der Kommission für Entwicklung und Reform von Ningxia, war damals dabei. Er hat tiefe Freundschaft mit dem Jungen geschlossen und bestätigt, dass der Junge die Geschichte mit seiner Kamera aufgezeichnet habe.

Der Junge von damals ist kein Junge. Es handelt sich hierbei um den 42-jährigen Fotoreporter namens Tao Ketu, Chef der Fotoabteilung von Ningxia im Bild. Er ist stämmig und hat lange, schmale Augen - man erkennt auf den ersten Blick seine mongolische Abstammung. Tao Ketu erzählt die Gründe für sein großes Interesse an der Armutsfrage.

Herr Tao entstammt einer wohlhabenden Familie aus Beijing. Seine Eltern kamen nach dem Hochschulabschluss nach Ningxia, um den Aufbau dieses unterentwickelten Gebietes zu unterstützen, weil die damalige Staatsregierung gebildeten jungen Leuten Ansporn gab, in den Armutsgebieten zu arbeiten. Aus diesem Grund lebte er von klein auf mit seinen Großeltern zusammen. Als er die erste Klasse der Grundschule besuchte, kam er zum ersten Mal nach Ningxia, um seine Eltern zu besuchen. Er übernachtete auf einem mit Weizenstroh ausgelegten Kang (aus Ziegeln gemauerte, heizbare Schlafbank) in der Dorfschule, wo seine Mutter arbeitete. Tief in der Nacht klopfte jemand an die Tür. Die Mutter stand auf, ging aus dem Zimmer und flüsterte dem Besucher etwas zu. Große Angst ergriff den Jungen, doch die Mutter beruhigte ihren Sohn. Es war lediglich ein Schüler von ihr, der ein Kind getroffen hatte, welches wegen der Hungersnot die Heimat verlassen hatte. Er sei nun hier, um um Hilfe zu bitten - ein Schlüsselerlebnis für Tao, den die Ereignisse tief berührten. Seither ging ihm eine Frage nicht mehr aus dem Kopf: "Warum gibt es arme Menschen in der Welt?" Jedes Mal, wenn er arme Menschen trifft, die unterhalb Existenzgrenze leben, bricht er in Tränen aus.

Das erste Armutsgebiet, das Herr Tao mit den Mitarbeitern der landwirtschaftlichen Abteilung besuchte, war das Dorf Miaoping in West-Xihaigu. Seine dortigen Erlebnisse hat er in dem Bericht Dreimaliger Besuch des Dorfs Miaoping zusammengefasst: "Das Dorf ist außergewöhnlich ruhig. Als wir ein Privathaus betreten, zittert ein kleiner Hund, ohne zu bellen, wie das bei einer Begegnung mit fremden Menschen üblich wäre. Den Mitarbeitern der landwirtschaftlichen Abteilung ist sofort bewusst, dass die Dorfbewohner nichts mehr zu essen haben. Sie befragen ein kleines Mädchen am Straßenrand, ob es schon gegessen habe. Das Mädchen antwortet: ,Seit zwei Tagen habe ich nichts gegessen.' Frauen und Kinder beginnen zu weinen. Spontan sammeln die Mitarbeiter ihr Geld zusammen und überreichen es den Dorfbewohnern zum Einkauf von Getreide. Außerdem stellen sie sofort Verbindungen mit der Ortsregierung her, um die dringend notwendige Hilfe für das Dorf zu organisieren. Ma Ming weiß: ,Wir alle sind Menschen...'" Diese Worte schwingen Tao seit über zehn Jahren in den Ohren, er wird sie wohl nie vergessen. Als er von dieser Reise nach Hause zurückkehrte, ärgerte sich sein Sohn gerade darüber, dass die Wassermelone nicht gut schmeckte. All die Erinnerungen an die Armutsbevölkerung im Dorf Miaoping kamen in Tao hoch. Er setzte sich auf sein Sofa und begann bitter zu weinen.

Doch auch den anderen Mitarbeitern kommen von Zeit zu Zeit die Tränen, so auch dem Leiter der Farm Changshantou, der für die Arbeit zur Armutsbekämpfung zuständig ist: Die Farm Changshantou ist für die Unterbringung der Einwanderer aus dem Dorf Binggou in der Mitte von Xihaigu verantwortlich. Das Dorf Binggou liegt in der Gebirgsgegend von Liupanshan und hat 46 Haushalte mit 161 Angehörigen, die isoliert von der Außenwelt leben. Das ganze Dorf verfügt über knapp 1000 Mu (1 ha = 15 Mu) Ackerland, das zum größten Teil durch Fällen von Bäumen gewonnen wurde. Im Dorf gibt es eine Grundschule, doch von Schule kann kaum die Rede sein: Der Lehrer legt einen kleinen Tisch auf das Kang zu Hause, und um den Tisch sitzen drei bis fünf Schüler und Schülerinnen. Angesichts solcher Zustände können die Kinder aus Binggou außer einigen chinesischen Schriftzeichen nicht einmal die Lautumschrift der chinesischen Sprache. Wer eine gute Ausbildung erfahren möchte, muss in die Grundschule außerhalb des Dorfs gehen. Doch diese liegt 12 bis 13 Kilometer vom Dorf entfernt. Eines Tages trifft Tao einen 7-jährigen Schüler auf seinem Weg zur Schule. Dieser muss, um die Schule besuchen zu können, jeden Tag über drei Berge und vier Gruben wandern und gibt offen zu: "Ich bin zu müde und will nicht in die Schule gehen."

2002 siedelten die Dorfbewohner in die Farm Changshantou über. Als Herr Tao die Grundschule der Farm besuchte, fielen ihm sofort die neuen Klassenzimmer ins Auge. Für Tao waren die Wände so weiß, dass er es nicht übers Herz brachte, sie zu berühren. Er hörte die wohlklingende Lesestimme der Kinder und war so aufgeregt, dass er in Tränen ausbrach. Er ging aus dem Klassenzimmer und schluchzte in einer Ecke. Der Leiter der Farm folgte ihm und sagte: "Allein für Sie müssen wir die Arbeit zur Armutsbekämpfung gut machen."

Aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit mit seiner Kamera und seinem großen Engagement hat Tao mit vielen Menschen tiefe Freundschaften geknüpft. Viele bitten ihn um die Hilfe, damit sie ihren Wohnsitz früher als geplant wechseln können. Doch Tao besteht darauf, er sei nur ein einfacher Fotoreporter. Heute bezeugen Taos Bilder nicht nur die Arbeit zur Armutsbekämpfung in Ningxia. Mittlerweile arbeitet er auch mit TV-Stationen zusammen, um Fernsehfilme zu drehen. Dabei kann er auf unzählige Erlebnisse zurückgeifen: "Seit meinem ersten Besuch im Jahr 1995 bis zum heutigen Tag habe ich das Gebiet Xihaigu unzählige Male besucht. Jede kleine Veränderung habe ich im Gedächtnis behalten."

Noch heute reist Tao immer wieder in das Gebiet Xihaigu zurück, um menschenlose Täler, massenhafte Fasane und Vögel, Höfe voller Gräser und kahle Pfade zu fotografieren. Viele dieser Häuser sind bereits Ruinen, doch Tao kann sich noch an die Namen jedes ihres Hausherrn erinnern.

 
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