12/2005
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Das Mosuo-Matriarchat

Von Yuan Peide

Ich hörte vor einigen Jahren zum ersten Mal von der matrilinearen Gesellschaft der Mosuo, die mich seitdem in ihren Bann gezogen hat. Die ethnische Gruppe der Mosuo, ein Zweig der Naxi-Nationalität, lebt am Lugu-See, an der Grenze zwischen den Provinzen Sichuan und Yunnan. In der Mosuo-Kultur ist die Heirat unkonventionell, in welchem Sinn auch immer, da Frauen dominierend sind.

Dieses Jahr im März reiste ich endlich in die Stadt Lugu-See, im Herzen von Yunnans bewaldeten Bergen. Ich verbrachte meine erste Nacht in einer Mosuo- Familienherberge, wohin mich ein junger Mann begleitete, den ich auf dem Weg getroffen hatte. Die Wände traditioneller Mosuo-Unterkünfte, die Mulengzi genannt werden, sind aus quadratischen Holzblöcken, das Dach ist aus chinesischen Tannenholzplanken. Ein Mulengzi ist der traditionellen Gliederung eines Siheyuans, bei dem ein Innenhof von zweistöckigen Gebäuden umrahmt ist, ähnlich. Er besteht aus einem nach Süden gerichteten Hauptgebäude, in dem die Familie isst, Familienangelegenheiten bespricht und Rituale abgehalten und Gäste empfangen werden, westlich davon ist ein Gebäude, das einen buddhistischen Schrein beherbergt, in dem gebetet wird. Nördlich des Hauptgebäudes ist das so genannte "Blumenhaus", wo die weiblichen Erwachsenen der Familie schlafen, und dessen unteres Stockwerk als Lagerraum und Stall genutzt wird. Mein Zimmer war im "Blumenhaus".

Ich stand am nächsten Morgen noch in der Dämmerung auf und machte mich auf den Weg zum 30 Minuten entfernten Lugu-See. Meine Anwesenheit wurde von ein paar bellenden Hunden und krähenden Hähnen in den Dörfern, die ich passierte, zur Kenntnis genommen. Der See war ein unglaublicher Anblick: ein Becken voll tiefblauen Wassers, von schneebedeckten Bergen umrahmt.

Ein süßer, melodischer Gesang wurde vom Wind herangetragen, und schon tauchte ein Caique - ein langes schmales Ruderboot - aus dem Nebel auf, das von einer jungen Frau gerudert wurde. Sie fragte mich, ob ich mit ihr auf den See fahren wollte, und ich stimmte freudig zu.

Wir unterhielten uns, während das Boot gemächlich durch den leichten Nebel glitt. Das Mädchen hieß Gaozuoma. Sie fragte mich, bei welcher Familie ich wohnte, und als ich ihr sagte, dass ich noch keine Unterkunft gefunden hätte, schlug sie sofort vor, zu ihr nach Hause zu gehen, nahe am See. Ich stimmte wieder glücklich zu.

Gaozuomas Familie lebt in einem Mulengzi. Sie führte mich durch das nur schwach beleuchtete Hauptgebäude zu einer Feuerstelle, wo die Matriarchin mich ihrer Familie, die aus 15 Familienmitgliedern besteht, was bei den Mosuo eine bescheidene Anzahl ist, vorstellte. Mir wurden Sonnenblumenkerne, Birnen und eine äußerst gut schmeckende selbst gemachte Süßigkeit namens Huahua angeboten. Auf meine Frage, wie man diese Süßigkeit herstellte, erklärte Gaozuoma, dass es eine Mischung aus Reis, Mais, Haferflocken, Sojabohnen und wilden Suma-Kernen sei, die mit Malzzuckersirup (aus Mais und Gerste) kombiniert, in einer Eisenpfanne unter Rühren gebraten und ausgekühlt in Würfel geschnitten und serviert wird.

Nachdem mir Gaozuomas Mutter mit einer Tasse milden Sulima-Likörs aufwartete, bereitete sie für uns eine Kanne Salztee, ein alltägliches Getränk der Mosuo, zu. Sie brach ein Stück eines harten Teeblocks ab, röstete es am Feuer und legte es in eine kleine tönerne Kanne mit ein wenig Salz und Wasser. Als das Wasser kochte, goss sie mir ein wenig davon in meine Tasse, füllte die Kanne wieder mit Wasser und wiederholte den Vorgang. Es war ein ungewohntes, aber erfrischendes Getränk.

Gaozuoma erzählte mir, dass das Dorf ein Guozhuang - ein Musik- und Tanzfest - abhalten werde, um mich zu begrüßen. Als der Schein des Sonnenuntergangs den Himmel erleuchtete, wurde am See ein Lagerfeuer angezündet und Gruppen junger Mosuo versammelten sich. Auf das Trillern einer Pfeife hin erfüllte der Klang von Trommeln die Luft und alle reihten sich auf, fassten einander an den Händen und begannen zu tanzen.

Guozhuang-Feierlichkeiten bieten eine gute Gelegenheit für die lokale Jugend, einen A-Zhu, ein Wort aus der Sprache der Pumi-Nationalität aus Yunnan, das Partner/in bedeutet, zu finden, obwohl sich die Mosuo-Liebenden in ihrer eigenen Sprache als A-Xia bezeichnen. Wenn ein junger Mosuo und eine junge Mosuo einander als Liebende erwählen, gehen sie eine spezifisch matrilineare Form der Verbindung ein, die als "gehende Ehe" bekannt ist.

Beide Partner der gehenden Ehe leben weiterhin bei ihren Eltern. Am Abend schläft der Mann mit seiner Frau im Haus ihrer Eltern und kehrt am nächsten Morgen ins Haus seiner Eltern zurück. Kinder dieser Ehe leben mit ihrer Mutter und tragen deren Nachnamen. Der Vater ist nicht verpflichtet, Verantwortung für das Aufziehen der Kinder zu übernehmen, es steht ihm aber offen, sie jederzeit zu besuchen und sich an ihrer Erziehung zu beteiligen. Die Kinder besuchen die Familie ihres Vaters zu Neujahr. Wenn der Haushalt der Frau Hilfe benötigt, zieht ihr Gefährte ein und lebt mit ihr solange er gebraucht wird. Er wird aber nicht als Familienmitglied erachtet.

Ein Mann und seine Frau können während ihres Lebens viele Liebhaber haben, aber nie mehr als einen oder eine gleichzeitig. Sie können wählen, ob sie zusammen oder getrennt leben wollen. Wenn ein Mann und seine Frau beschließen, ihre Beziehung zu beenden, gibt es keine Verbitterung, Groll oder Skandale. Mosuo-Verbindungen basieren rein auf der Liebe und nicht auf dem Gesetz, der Religion, der Politik oder Sippentraditionen. Männer und Frauen respektieren die Gefühle und Eigenheiten des anderen und würden nie daran denken, den eigenen Willen dem oder der anderen aufzuzwingen. Ihre Beziehung dauert solange wie ihre Leidenschaft. Die Verweigerung einer Frau, ihren Mann ins Blumenhaus einzulassen, zeigt, dass ihre Verbindung zu Ende ist, wie auch das Aufhören der Besuche des Mannes bei der Frau. Jeder der beiden Partner kann offen einen neuen Liebhaber oder eine neue Liebhaberin wählen, wenn er oder sie will. Eine "gehende Ehe" kann von einigen Monaten bis zu einem ganzen Leben dauern.

Mit den größer werdenden Flammen im Lagerfeuer begannen die Gesichter im Widerschein zu glühen. Der Klang der Tänze und Lieder drang durch die Nacht und zog Gruppen Jugendlicher von den Nachbardörfern an. Gaozuoma tauchte aus der wirbelnden Menge auf, zog mich hinein und machte mich dadurch zu einem Mitglied dieser fröhlichen Versammlung.

Während meines zweiwöchigen Aufenthalts im Dorf wurde ich von der Mosuo-Gemeinschaft aufgenommen. Ich begleitete Gaozuoma beim Feuermachen, beim Kühehüten in den Bergen, beim Bestellen des Landes und beim Bootfahren auf dem See. Am Tag meiner Abreise war Gaozuomas Haus voll mit Dorfbewohnern, die sich von mir verabschieden wollten. Nachdem sie mich beim Dorfeingang verabschiedet hatten, begleitete mich Gaozuoma zu Pferd auf dem Bergpfad, der zur Stadt führte. Als sie davonritt, nahm ich meinen Hut ab und wünschte diesem süßen Mosuo-Mädchen Friede, Glück und Liebe für ihr ganzes Leben, Ziele, die sie sicher erreichen wird, solange sie weiterhin in der idyllischen Mosuo-Gesellschaft lebt.

 
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