11/2005
Ihre Position: Homepage >

Die Schweigsamen Seelen

Von Zhang Lili*

Ist 0,023% eine hohe Rate? Wie ist es nach 0,023% 1,3 Milliarden multipliziert? Nach dem berühmten Medizinmagazin Lancet ist bis zum Jahr 2002 die Selbstmordrate in China schon auf 0,023% gestiegen, etwa zweifach so viel wie die in den USA. China wird übernacht einer der Staaten, die die höchste Selbstmordrate in der Welt haben.

Aber die Forscher, die sogenannt „Suizidologisten“, interessieren sich nicht nur für die hohe Quote, sondern auch für die unheimliche Struktur: Im Westen sind die meisten Selbstmörder Männer, Städter und Mittelaltrige. Diese Leute erhalten mehr Druck und Einsamkeit von der Modernisierung in der Stadt. Aber in China nehmen sich so viele Frauen, Landbewohner, Jugendliche und Alte das Leben.

Was nach einem vom Beijinger Huilongguan-Krankenhaus und dem Beijing Suicide Research and Prevention Center veröffentlichten Forschungsbericht die Forscher noch verwirrt, ist, dass im Westen mehr als 90% der Selbstmörder Geisteskrankheit haben, aber in China beträgt der Prozentsatz nur 63%. Wenn man sagt, dass die Selbstmord-Erscheinung in China mit Geisteskrankheit nichts zu tun hat, ist der Anteil von 63% doch nicht gering, aber wenn man sagt, dass der Selbstmord wegen Depression ist, scheint die Quote nicht sehr hoch zu sein.

Manche glauben, dass die Zahl 63% zu konservativ ist. Viele Menschen haben noch keine klare Ahnung von der Geisteskrankheit. Es gibt tatsächlich bestimmt mehr Leute mit Depression. Sie wissen aber selbst noch nicht darüber. Das Problem von Selbstmord in China ist ähnlich mit dem im Westen. Manche meinen, wegen schlechter Medizinkondition und hochgiftigen Pestizids werden viele Unfälle Selbstmord. Auch viele meinen, dass die Ungerechtigkeit zu Frauen auch ein Grund ist.

Einige Suizidologisten haben die amtlichen Daten über Selbstmord in einem Dorf, einem sehr normalen kleinen Dorf in Nordchina, gesucht. Bei der Polizei, wenn eine Leiche gefunden wird, untersuchen sie, ob es ein Mord ist, oder ob es jemanden gibt, der die direkte Verantwortung tragen soll. Wenn sie feststellen, dass es ein Selbstmord ist, gehen sie nicht weiter. Und beim Krankenhaus, wenn ein Selbstmordversucher hierher geschickt wird, retten ihn die Ärzte. Nachdem er tot oder wieder gesund geworden ist, gehen sie auch nicht weiter.

Die Tatsache ist, dass die Polizei und das Krankenhaus doch etwas mit Selbstmord zu tun haben, weil es beim Selbstmord oft Mord oder körperliche Krankheit gibt. Die beiden sorgen sich um Selbstmord selbst nicht. Sie sorgen sich nur darum, ob die Leute ins Unglück wie Gewalt, Mord oder Krankheit gerieten, aber was den Selbstmord betrifft, wie können sie das Glück kriegen? Doch haben sie keine Fehler, Selbstmord steht außer Kompetenz jedes öffenlichen Amtes. Sie haben sogar keinen guten Grund, dazwischen zu treten.

Der Selbstmord kommt oft mit Streit in der Familie, z. B. sagt ein Mann im Streit: „Ich will nicht mehr mit dir leben, ich will das Pestizid trinken!“ Seine Frau sagt auch: „Ich wage das auch!“ Dann trinkt sie das ohne Nachdenken. Ein anderes Beispiel: Die Mutter erzieht das Kind, das Kind hört nicht zu, die Mutter wird böse und springt in den Brunnen. Diese Beispiele sehen wie Farcen aus, aber so viele Farcen geschehen jeden Tag, wer kann sagen, dass das noch keine Tragödie ist, wenn so viele Leute das Leben so furchtbar leicht nehmen?

Die Forscher fragen am Ende einen Bauern nach dem Selbstmord im Dorf, er erzählt einige Beispiele, dann sagt er: „Früher gab es einen Idioten, er ist mein Bruder, er versteht nichts und kann nichts machen. Täglich läuft er herum und sagt immer Quatsch. Eines Tages kann ich das nicht ertragen, ich gebe ihm eine Ohrfeige, er geht nach Hause und hängt sich auf, aber das zählt natürlich nicht zum Selbstmord, weil er ein Idiot ist.“ Er sagt so apathisch, als ob ein Hund tot wäre, er lacht sogar, und verbergt gar nicht, dass der Tod seines Bruders wegen seiner Ohrfeige war.

Das ist vielleicht das echte Problem: Einerseits zeigt die hohe Selbstmordrate, dass die Gesellschaft Probleme hat. Andererseits ist das Problem so persönlich, dass man wirklich nichts zu helfen kann.

Was positiv ist, ist, dass die ganze Gesellschaft immer mehr Wert auf psychologische Gesundheit legt. Es gibt schon soziale Organisationen in Gemeinden und psychologische Abteilungen in vielen Krankenhäusen. Von Schulen bis Betriebe kann man günstige psychologische Hilfe bekommen. Die psychologischen Beratungen können in vielen Fällen Selbstmordversuche verhindern und die Leute mit Depression medizinisch behandeln. Leider sind diese Fortschritte meistens in großen Städten zu sehen, in Dörfern fehlt solche Hilfe.

Aber wir müssen etwas mehr machen in der apathischen Gesellschaft. Nach Sagen vieler Länder seien die Seelen der Selbstmörder besonders gefährlich, weil sie zu viel Zorn, Hass und Ungerechtigkeit haben. Aber in China scheinen diese Seelen wie vom Wind geblasen worden zu sein, ohne Stimme auszusenden.


Zhang Lili, Germanistikstudent des dritten Studienjahres an der Sprachenuniversität Beijing

 
Zurück