11/2005
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Über das System der medizinischen Betreuung in China muss entschieden werden

Von Lu Rucai

 

„Die Orientierung am Markt gibt keine Richtung für eine Reform der medizinischen Betreuung an.“ Die Rede Liu Xinmings, des Direktors des Amts für politische Richtlinien und rechtliche Bestimmungen des Ministeriums für Gesundheitswesen, löste ein starkes Echo in der Gesellschaft aus. Es war die erste Reaktion des Ministeriums für Gesundheitswesen auf die vom Forschungszentrum für Entwicklung beim Staatsrat und der WHO (Weltgesundheitsorganisation) getroffene Feststellung, die Reform des Systems der medizinischen Betreuung und der Gesundheitsfürsorge sei seit der Reform und Öffnung in China „nicht sehr erfolgreich“ gewesen.

Schrittweise Orientierung am Markt im System der medizinischen Betreuung

Diese als „nicht sehr erfolgreich“ bezeichnete Reform des Systems der medizinischen Betreuung begann in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts und zielte auf eine Orientierung am Markt ab. Damals begannen alle Gewerbe und Branchen, sich in der großen Welle der seit 1978 eingeleiteten Reform und Öffnung auf die Marktwirtschaft umzustellen, die medizinische Betreuung und Gesundheitsfürsorge wollten dabei nicht zurückbleiben. So wurde 1985 eine Reform offiziell gestartet. Die Ausgaben des Staatshaushaltes für die Gesundheitsfürsorge verringerten sich. Statistiken zeigen, dass der Anteil der staatlichen Ausgaben für die Gesundheitsfürsorge an den gesamten Ausgaben für die Gesundheitsfürsorge im Jahr 1980 1/3 betrug, im Jahr 1990 sank er auf 1/4 ab und im Jahr 2000 waren es gar nur noch 7,7%.

Li Ling, Vizedirektorin des Forschungszentrums der Peking-Universität für die chinesische Wirtschaft, sagte: „Früher brauchten sich die Ärzte keine Sorgen um die Einnahmen zu machen; sie hatten sich nur um die Behandlung der Kranken zu kümmern. Die Gehälter der Ärzte lagen über dem Durchschnittsgehalt in der Gesellschaft. Nun hat der Staat seine Ausgaben für die Gesundheitsfürsorge gesenkt; sie liegen in der Regel kaum über 10% der Betriebskosten der Krankenhäuser. Den Krankenhäusern werden auch keine sonstigen ausreichenden Kompensationen durch die Regierung gewährt. Daraus ergibt sich folglich eine neue Situation: Wer über einen umfangreichen medizinischen Komplex verfügt und viele Patienten hat, verdient demzufolge mehr, erhält dadurch höhere Kompensationen und hat es natürlich viel leichter.“ Die Folge war, dass die Gebühren für eine ambulante Behandlung und für Medikamente erhöht wurden. Dass Arztbesuche immer teurer werden, bedeutet für die Volksmassen einen spürbaren Einschnitt in die bisher gewohnte Praxis. Laut Statistischem Jahrbuch über die Gesundheitsfürsorge in China (2004) betrugen die Kosten für jede medizinische Behandlung in Beijing im Durchschnitt 215,6 Yuan, das entsprach dem Doppelten des Landesdurchschnitts. Dabei bleibt der hohe Anteil der Kosten für die Medikamente an den von Jahr zu Jahr steigenden Gebühren für die medizinische Behandlung unverändert. Nehmen wir das Jahr 2003 als Beispiel. In diesem Jahr betrug im Durchschnitt eine medizinische Behandlung im Krankenhaus (alle Kategorien und Klassen eingeschlossen) in Beijing 262,78 Yuan. Die Gebühren für die medizinische Untersuchung und die ärztliche Behandlung betrugen 23,7 Yuan bzw. 17,9 Yuan, die Kosten für die Medikamente 190 Yuan. Das macht 72% der Gesamtkosten aus.

Im Jahr 2003 beliefen sich die Gesamtausgaben für das Gesundheitswesen auf 659,8 Mrd. Yuan. Das waren immerhin 5,6% des Bruttoinlandsprodukts; im Vergleich zu den anderen Entwicklungsländern ein durchaus überdurchschnittliches Niveau. Doch der staatliche Anteil an diesen Gesamtausgaben betrug nur noch 17%, der von Unternehmen und gesellschaftlichen Institutionen erbrachte Anteil 27%, und die restlichen 56% musste die Bevölkerung aufbringen. Aus einem vom Ministerium für Gesundheitswesen veröffentlichten Bericht über die dritte staatliche Untersuchung von Dienstleistungen der Gesundheitsfürsorge geht hervor, dass sich nur 51,1% aller Erkrankten in Einrichtungen der medizinischen Betreuung behandeln lassen, 35,8% heilen ihre Krankheiten selbst, und 13,1% unternehmen im Krankheitsfall gar nichts. Also 48,9% aller Kranken lassen sich nicht in Krankenhäusern behandeln. Obwohl die Zahl der medizinischen Einrichtungen im ganzen Land von 180 000 im Jahre 1980 auf fast 300 000 im Jahre 2004 anstieg, machte die Bevölkerung von ihnen immer seltener Gebrauch.

Landesweite Diskussion in der Öffentlichkeit

Zur „nicht sehr erfolgreichen Reform“ haben Experten, Beamte und die Masse der Bevölkerung offenbar unterschiedliche Meinungen. Die Reform der medizinischen Betreuung war lange Zeit unter den Einwohnern ein heiß diskutiertes Thema.

Chen Xin, Abgeordneter des Nationalen Volkskongresses, (Chefarzt der Abteilung der Herz- und Brustchirugie des Krankenhauses Nr. 2 von Nanjing): „Wie kann denn ein Krankenhaus weiter existieren, wenn es ‚nicht mit Gewinn‘ arbeitet, zumal die staatliche Geldzuweisung sehr begrenzt ist? Normalerweise sollte ein auf Gewinn ausgerichtetes Krankenhaus über Spitzentechnik verfügen, dort dürfte es kein Schlangestehen geben, der Service müsse gut sein. Ein normales Krankenhaus dagegen hätte ein vergleichsweise eher niedrigeres Niveau, könnte jedoch in größerem Umfang die grundlegenden medizinischen Bedürfnisse der Steuerzahler befriedigen. Die tatsächliche Situation heute sieht aber völlig anders aus. Da die staatliche Geldzuweisung relativ gering ist, muss ein gemeinnütziges Krankenhaus „gewinnorientiert“ arbeiten, um die Anschaffung von Geräten, die Weiterbildung des Personals und die Gehaltszahlung zu ermöglichen, d. h. ein gemeinnütziges Krankenhaus muss nun nach Gewinn streben mit der Folge, dass die Medikamente teurer werden.“

Zheng Daci, Chefarzt des Volkskrankenhauses Nr. 4 der Stadt Xuzhou: „Heute haben es die Krankenhäuser in Gemeinden am schwersten. Da es ihnen an Geld zur Entwicklung fehlt, gibt es zu wenige gut qualifizierte Fachkräfte und es fehlt häufig an notwendigen technischen Geräten. Diese Einrichtungen können nur schwer fähige Kräfte an sich binden, haben sie gute Ärzte gefunden, gehen diese bald wieder. Die Ressourcen für die medizinische Betreuung konzentrieren sich zu 80% auf die Städte, nur der Rest verteilt sich auf die weiten ländlichen Gebiete. In den Dörfern und Gemeinden mangelt es an medizinischen Einrichtungen, folglich können die Volksmassen auf dem Land gar nicht vor Ort ausreichend medizinisch behandelt werden. Sie müssen in die Großstädte gehen, wodurch sie finanziell erheblich belastet werden und außerdem das Gedränge in den Krankenhäusern der Großstädte verstärken.“

Yu Zonghe, ehemaliger Direktor des Amts für Verwaltung der medizinischen Einrichtungen des Ministeriums für Gesundheitswesen: „Gegenwärtig steigen die Kosten für medizinische Behandlungen sehr schnell, der Arztbesuch wird immer teurer. Die Gesamtzahl der jährlich ambulant behandelten Personen im ganzen Land sinkt, aber in den großen Krankenhäusern werden immer mehr Patienten ambulant behandelt. Früher wurden in einem großen Krankenhaus an einem Tag höchstens etwa 3 000 Patienten behandelt, heute werden in einem Krankenhaus der Kategorie drei und Klasse A (höchste Einstufung) über 5 000 Patienten behandelt, in manchen berühmten Krankenhäusern sogar über 10 000. Da ist die Nachfrage größer als das Angebot. Damit geht ein übersteigertes Machtgefühl der Ärzte einher. Sie behandeln an einem Vormittag Dutzende Patienten. Ein solcher ‚Patientendurchlauf‘ ist nicht mit der gebotenen ärztlichen Sorgfalt zu vereinbaren.“

Frau Zhang (Mitarbeiterin eines staatlichen Unternehmens): „Ich habe größte Angst, krank zu werden. Wenn es doch passiert, gehe ich nur selten ins Krankenhaus. Bei einer Erkältung gehe ich in eine Apotheke und kaufe mir Medikamente. Da zahle ich für die gleichen Medikamente möglicherweise nur halb so viel wie im Krankenhaus.“

Yang Biao (Stadtbewohner): „Heute gibt es mehr Krankenhäuser als früher. Aber meine Familienangehörigen gehen immer noch nur in die wenigen berühmten Krankenhäuser, wenn sie krank werden. Wer wird denn nicht in eines der berühmten Krankenhäuser gehen, wo man sich nicht um eine gute medizinische Behandlung sorgen muss, wenn auch dort die Kosten etwas höher als in anderen Krankenhäusern sind? Viele Menschen teilen diese Meinung, deshalb quellen diese Krankenhäuser von Patienten über. Obwohl die medizinische Dienstleistung in Privatkliniken gut ist, passen sie bei der Erstattung der Kosten der medizinischen Behandlung in der Regel nicht in den Rahmen der grundlegenden Krankenversicherung. Dies wird also nicht das Problem des übergroßen Andrangs auf die großen Krankenhäuser lösen.“

Tang Jun (Experte der Akademie der Sozialwissenschaften): „Im Gesundheitswesen verwendet China faktisch das US-amerikanische System. Obwohl die Krankenversicherung von der Regierung verwaltet wird, unterscheidet sie sich kaum von einer privaten Betriebsführung. Außerdem gewährt die Krankenversicherung in China älteren Menschen und Armen keine spezifische Unterstützung. Deshalb können viele Menschen die Krankenversicherung überhaupt nicht beanspruchen. Landesweit sind nur über 100 Mio. Menschen krankenversichert, fast 1,2 Mrd. haben aber keine Krankenversicherung! Sie erhalten also gegebenenfalls keine Hilfe für die medizinische Betreuung.“

Liao Xinbo, Vizedirektor der Behörde für Gesundheitswesen der Regierung der Provinz Guangdong: „Die Einrichtungen für die medizinische Betreuung sollten ihre Gemeinnützigkeit hervorheben und nicht auf Gewinn ausgerichtet sein. Das marktorientierte „US-amerikanische Modell“ ist für China nicht geeignet. Die Folge der Orientierung am Markt ist, dass sich die Dienstleistung medizinischer Betreuung zwar weiter verbessert, jedoch steigen die Kosten dafür immer weiter. Ich bin dafür, dass die Regierung eine anleitende Funktion im System der medizinischen Betreuung übernimmt.“

Gao Qiang, Minister für Gesundheitswesen: „China hat 1,3 Mrd. Menschen, das sind 22% der Gesamtbevölkerung der Welt. Aber die Ausgaben für das Gesundheitswesen in China machen nur 2% der Gesamtausgaben für das Gesundheitswesen in der Welt aus. Der Mangel an Ressourcen, insbesondere an guten Ressourcen der Gesundheitsfürsorge ist gravierend und seit langem ein sehr schwieriges Problem. Um den Volksmassen den Arztbesuch zu erleichtern, liegt die prinzipielle Lösung nur in der Beschleunigung der Entwicklung und Verstärkung der Ressourcen der medizinischen Betreuung und der Gesundheitsfürsorge.“

Die Reform der medizinischen Behandlung steht vor einer Umorientierung

Das Zentrum für gesellschaftliche Untersuchung der Chinesischen Jugendzeitung brachte im August einen Untersuchungsbericht heraus, wonach 90% der Befragten mit der Veränderung, die die Reform des Systems der medizinischen Betreuung in den letzten zehn Jahren erfahren hat, nicht zufrieden sind. 78,9% der Befragten finden, dass es heute zwar mehr Krankenhäuser als vor zehn Jahren gibt, aber gleichzeitig meinen 60,1% der Befragten, dass der Arztbesuch heute noch schwieriger als vor zehn Jahren ist. Aus einem anderen Untersuchungsbericht geht hervor, dass sich 32,1% der Patienten schon um 7 oder 8 Uhr früh am Anmeldeschalter im Krankenhaus anstellen müssen, 23,2% tun dies schon um 5 Uhr, 5,5% der Patienten stellen sich sogar bereits am Vortag vor dem Anmeldeschalter an.

Im Jahr 2004 verfügten landesweit die verschiedenen Einrichtungen der medizinischen Betreuung in China über 3,27 Mio. Betten – für eintausend Personen gibt es im Durchschnitt 3,1 Betten (in den USA liegt der Promillesatz bei 3,6 ) -, für die Gesundheitsfürsorge arbeiten in China insgesamt 5,25 Mio. Personen, d. h. für eintausend Personen arbeiten im Durchschnitt 1,5 zugelassene Ärzte (in den USA 2,7), außerdem gibt es 880 000 Ärzte und Gesundheitsfürsorger auf dem Land. Im Hinblick darauf lässt sich feststellen, dass die Entwicklung der Ressourcen der Gesundheitsfürsorge in China heute bereits ein relativ hohes Niveau erreicht hat. Wie sich eine Neuverteilung dieser Ressourcen gestaltet wird, muss die neue Reform im Gesundheitswesen zeigen.

Gegenwärtig haben das Ministerium für Gesundheitswesen und andere dafür zuständige Behörden dem Staatsrat ihr neu erarbeitetes Konzept zur Reform im Gesundheitswesen zur Genehmigung eingereicht. Eines ist schon jetzt sicher: China wird im Gesundheitswesen an einer Anleitung durch die Regierung und an der Gemeinzützigkeit festhalten und gleichzeitig Kräfte aus der Gesellschaft ermutigen, Krankenhäuser zu betreiben und in sie zu investieren.

 
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