09/2005
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Buchbesprechung: Roter Mohn

Von Helga und Erhard Scherner

 

Roter Mohn, schön und Unheil bringend, hat den tibetischen Fürsten Maichi reich und mächtig gemacht. Für Opium erhält er von den Han-Chinesen Silber und Gewehre. Sein Herrschaftsgebiet, zu dem man durch Kauf, durch Verheiratung eines Sohnes, notfalls durch einen Feldzug Land und Menschen hinzugewinnen kann, liegt weit im Westen der Provinz Sichuan, ein Landstreifen zwischen dem Hinterland des von Bürgerkrieg und japanischer Invasion gemarterten Reichs der Mitte und dem theokratischen Tibet, auf das Großbritannien sein Auge geworfen hat.

In diesem zugegeben nebelhaften Zwischenland siedelt der Roman. Unberührt von Doktrinen und modischen Verurteilungen tritt ein Autor an, der eine pralle Geschichte zu erzählen hat. Seinen knappen Namen darf man sich getrost einprägen, Alai. Er erzählt hinreißend, dabei ganz unprätentiös, vom Aufstieg und Verfall eines tibetischen Fürstengeschlechts in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. „Im Territorium des Fürsten Maichi weiß jeder, daß der Sohn seiner zweiten Ehefrau ein Idiot ist. „Der Idiot bin ich“, sagt der Ich-Erzähler. Niemand weiß für den „zweiten jungen Herrn“, von seinem Vater im Suff gezeugt, einen Namen zu nennen. Für jedermann, für Eltern, Dienerinnen, später auch für Ehefrau und Schwiegermutter ist er einfach „der Idiot“.

Ist er „besser“ als die Mitglieder seiner Familie? – Eigentlich ist er nur anders. Wenn ein Todesurteil vollstreckt wurde, weil der Fürst „zuweilen töten muss“, zeigt sich die Familie immerhin betroffen, trinkt mehr Wasser, rührt kaum Fleisch an. „Nur mein Appetit ist immer ungebrochen. Ich schmatzte laut beim Essen ...“

Mit 13 Jahren beginnt er zu seiner Dienerin, der 18-jährigen Dolma, Liebe zu empfinden. Sie wird seine „Lehrerin in den Dingen zwischen Mann und Frau“ und weckt in ihm „das bisschen Weisheit, das im Gehirn des Idioten schlummerte“. Ihr Gesang bewirkte, „dass ich in die Tiefe ihrer Augen stolperte und nicht mehr herauskam ...“

Zwar hält man es nicht für nötig, ihm Lesen und Schreiben beizubringen, auch die Sprache seiner Mutter –Chinesisch – lernt er nicht. Aber der „Idiot“ empfindet Lust, über die Welt nachzudenken, die wunderbar und grausam ist wie ein Märchen. Wenn ihn seine Mutter, die der Fürst nach dem Tod seiner ersten Frau einem chinesischen Händler abgekauft hatte, unterweist, er habe nicht die Knochen eines Unwürdigen im Leib, Kreaturen nicht fürstlichen Bluts dürfe man nicht als Menschen ansehen, überlegt er, ob sie, die Kluge, nicht manchmal strohdumm ist. Der „Idiot“ mag kluge Menschen, nimmt von den Geschundenen, den Leibeigenen, Lehren an. Der stumme Mönch, den sein Vater martern ließ, wird ihm Freund, der sensible Henkerssohn und der gewalttätige Sonam Tserang werden seine Begleiter, vom hinkenden Verwalter lässt er sich in Wirtschaftsdingen beraten. Geschickt lernt er, den zwiefachen Freiraum, den ihm der Status eines zweiten Fürstensohns und „Idioten“ gestattet, zu nutzen, ohne nun in einer grausamen und widersinnigen Gesellschaft bewusst Heilsbringer zu werden. Dazu sind sein Charakter, auch die manchmal überraschende Einsicht in den Lauf der Welt zu widersprüchlich.

Als der Vater überlegt, ob weiter hauptsächlich Mohn angebaut werden soll, rät der „Idiot“ spontan, lieber Getreide auszusäen. Das rettet die eigene Bevölkerung vor dem Hungerstod. Schon darf sich der „Idiot“ im Norden des Territoriums als zweiter Infant ausprobieren und hat mit clownhafter Diplomatie mehr Glück als sein Bruder im Süden, der auf Krieg und auf Frauen setzt. Er baut einen florierenden Grenzmarkt auf, mit Warenlagern, Business und Almosenküche, seine „Stadt“. Nur – eine Truppe, die er für Theaterleute hält, errichtet ein Bordell. Diese verheerende Neuerung rottet seine Gäste aus, die Fürsten aus den Nachbargebieten. Der „Idiot“ aber, wie im Märchen, erringt die schöne Prinzessin. Die ist leider nicht treu, was er mit Gleichmut zu ertragen weiß.

Ein Happy End will uns Alai nicht auftischen, dazu ist er zu sehr Künstler und kennt die Wendungen des Jahrhunderts. Aber die Frage, ob sein Held „der klügste Idiot der Welt“, gar ein „Unsterblicher“ sei, taucht im Buch schon mal auf.

Wie bei seinem Vater und seinem Bruder ist das Verhältnis des „Idioten“ zur Religion recht pragmatisch. Mönche hält er für streitsüchtig und eigentlich unnütz. Nur weil es ständig zu Katastrophen kommt, müsse man sie wohl dulden. Ihn habe der Himmel, wohl um das Entsagen zu lernen, wie einen Idioten aussehen lassen. Nachdem aber Fürst und älterer Bruder von der Bühne abgetreten sind, scheint dieser Bonus, „Idiot“ zu sein, erschöpft. Das Vorrücken der Armee Mao Zedongs findet ihn gefasst. Gegen den Attentäter, der an ihm die Blutschuld seines Vaters rächt, setzt er sich nicht zur Wehr. Er betrachtet sich als „Wanderer, der zu einer Zeit, wo das Ende der Fürsten kurz bevorstand, in diesen wundersamen Landstrich kam“.

Alai selbst verweist auf die Ursprünge seiner Geschichte in der tibetischen Legende des „Onkel Tomba“. Doch sei noch ein Seitenblick auf Dostojewskis Roman Idiot gestattet. Eingebettet in den welthistorischen Niedergang des Adels, sind beide Helden tragische Letzte eines Fürstengeschlechts. Eine spezifische Mischung von Naivität und Realitätssinn prägt sie. Während Myschkin unheilbar seiner Krankheit verfallen ist, scheint Alais „Idiot“, seine „Blödheit“ als Schutzschild nutzend, im Laufe des Lebens zu gesunden. Personifiziert Myschkin das christlich-philanthropische Ideal Dostojewskis, erscheint Alais „Idiot“ auf tibetischem Territorium als guter Mensch, der dem despotischen Zeitalter nicht entkommen kann. Myschkin gelingt es nicht, durch persönliches Vorbild gesellschaftliches Unglück zu wenden, wird schließlich an seiner Krankheit zugrunde gehen.

Roter Mohn ist ein poetisches Buch, das einen Lichtstrahl auf ein vergessenes Stück Erde wirft. Die rauhe Schönheit einer Landschaft ersteht, das Bildnis einer rohen Zivilisation, die so nicht mehr vorstellbar ist. Karin Hasselblatt, die Übersetzerin aus dem chinesischen Original, vermag uns die Herbheit der Szenerie überzeugend zu vermitteln. Ob es gefällt oder lieb gewordene Vorstellungen zertrümmert, von China her, wo Roter Mohn im Jahr 2000 mit der höchsten Literaturauszeichnung, dem Mao-Dun-Preis, geehrt wurde, hat das Buch seinen Weg in die Welt genommen.

Wenig wissen wir bislang über den Autor. Er ist Tibeter, aus dem Norden Sichuans stammend. Nach ersten kürzeren Geschichten – zwei davon enthält der Sammelband An den Lederriemen geknotete Seele. Erzähler aus Tibet (dt. ebenfalls im Unionsverlag Zürich) – ist Roter Mohn Alais erster Roman. Der Autor ist 45 Jahre alt. Von ihm wird zu hören sein.

Alai, Roter Mohn

Übersetzt aus dem chinesischen Original

von Karin Hasselblatt

Unionsverlag Zürich 2004,

448 S, 22,90 Euro

 
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