09/2005
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Das Schöffensystem entwickelt sich in Kontroversen

Von Hu Yang und Zhang Xueying

Duan Lian, 26, hat es geschafft: sie hat eine Urkunde erhalten, die ihre Qualifikation als Volksschöffin bestätigt. Das ist das Ergebnis eines halbjährigen Studiums einschlägiger Fachliteratur, einer dreitägigen Klausurfortbildung und einer zweieinhalbstündigen schweren, doch bestandenen Prüfung. „Die Prüfung war recht schwer, aber ich habe sie mit Glück bestanden“, sagt Frau Duan. Sie hat ein Studium an einer berühmten medizinischen Hochschule in Beijing absolviert und ist heute in der Personalabteilung eines großen Krankenhauses der Hauptstadt tätig. Ab heute wird sie noch eine andere Aufgabe wahrzunehmen haben, nämlich die einer Volksschöffin.

Seit einigen Jahren hat die chinesische Regierung verschiedene Maßnahmen ergriffen, um die Transparenz der Rechtsprechung zu erhöhen und die juristische Gerechtigkeit zu verstärken. Seit Mai 2005 wird der Beschluss des Ständigen Ausschusses des Volkskongresses über die Vervollständigung des Volksschöffensystems offiziell durchgeführt. Darin ist festgelegt, dass Schöffen als Laienrichter an gerichtlichen Verhandlungen teilnehmen. Am 8. Mai begannen 27 000 Schöffen, die sich wie geschildert qualifiziert haben, in nahezu 3 000 Gerichten landesweit mit ihrer Tätigkeit. Das Oberste Volksgericht setzt große Hoffnung in die neuen Schöffen. Xiao Yang, der Vorsitzende des Obersten Volksgerichts betonte, das Ziel dieses Systems sei die Durchsetzung der demokratischen Rechtsprechung unter anderem durch das Wirken der Schöffen. Deren Stärke beruhe vor allem auf ihrer genauen Kenntnis der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer Vertrautheit mit den allgemeinen Ansichten und Meinungen in den Wohnvierteln und überhaupt im Volke. Diese Ansichten gelte es in die Gedanken und die Urteilsfindung der Richter einfließen zu lassen. So würden die Schöffen bei der Überprüfung von Tatbeständen bei Rechtsfällen und bei der Anwendung der Gesetze das Justizwesen bereichern, um ein Höchstmaß an Gerechtigkeit zu erreichen, wenn im Namen des Volkes Recht gesprochen wird.

Durch eine Computer-Auslosung wurde Frau Duan als Schöffin der Kammer für wirtschaftliche Rechtsfälle des Beijinger Volksgerichts Nr. 1 auf mittlerer Ebene zugewiesen. Nach vier Monaten hatte sie bereits an vier Prozessen teilgenommen, von denen zwei bereits abgeschlossen, die anderen beiden noch in Verhandlung sind.

Laut Gesetz setzt sich ein Gericht für die meisten Prozesse, abgesehen von einfacheren Rechtsfällen, aus dem Gerichtsvorsitzenden, einem Justizbeamten und einem ehrenamtlichen Richter, dem Schöffen, zusammen. Von diesen drei, mitunter auch von noch mehr Richtern wird das Urteil in gemeinsamer Beratung gefällt. Doch anders als bei den Gerichten in Großbritannien und den USA sind die Schöffen nicht nur für die Klärung von Tatbeständen mitverantwortlich, sondern auch für die Anwendung der gesetzlichen Vorschriften.

„Vor dem Beginn des Prozesses informiert mich ein Bote über den Termin, den Ort und den Hauptinhalt des Rechtsfalls“, erklärt Frau Duan. Um die juristische Neutralität zu gewährleisten, darf sie die Anklageschrift, die damit zusammenhängenden Unterlagen, und natürlich auch die Identität der streitenden Parteien erst kurz vor Prozesseröffnung sehen bzw. erfahren. „Wenn ich während der Verhandlung Fragen habe, stelle ich sie dem Gerichtsvorsitzenden. Dieser nimmt stets Rücksicht auf mich. In den Pausen erläutert er den Stand der Verhandlung und beantwortet eventuelle Fragen zum Tatbestand. Bei der gemeinsamen Beratung befragt er mich regelmäßig. Zum Beispiel fragt er: ,Beide Seiten haben nur unzureichende Beweise vorgelegt. Sollen wir die Verhandlung unterbrechen oder sie fortsetzen?‘ Natürlich fühle ich mich durch das kollegiale Verhalten des Richters geehrt.“

Die 26-jährige Duan Lian wirkt im Vergleich zu gleichaltrigen Frauen besonnen und umsichtig. Vor ihrer Tätigkeit am Gericht war ihr Wissen über das Gericht, die Gesetze, über mögliche Rechtsfälle nur auf das beschränkt, was sie Büchern entnommen hatte. Frau Duan verheimlichte nicht, wie aufgeregt sie war, als sie zum ersten Mal neben zwei Richtern auf dem Podium saß. Im Lauf der Verhandlung fand sie sich jedoch schnell in ihre neue Rolle hinein. Bei diesem Gerichtsverfahren ging es um Schulden wegen einer Anleihe. Frau Duan fragte den Ankläger, „wie denn die Zinsen bei der Rückzahlung berechnet werden“. Danach stellte der Anwalt des Beklagten die gleiche Frage. Für Frau Duan war dies eine Bestätigung ihrer Fähigkeit, durch genaues Nachfragen das Hauptproblem eines Falles zu erkennen. Damit wuchs ihr Selbstbewusstsein. Natürlich kennt sie noch nicht alle einschlägigen Paragraphen der Gesetzbücher, weshalb sie augenblicklich eher die Funktion hat, die in einem Prozess dargelegten Tatbestände zu prüfen und zu bewerten; die konkrete Anwendung der Paragraphen obliegt den beiden Berufsrichtern.

Dies war übrigens einer der Gründe, der Streit über das Schöffensystem auslöste. Seit August vorigen Jahres wurde das Schöffensystem überall, auch im Internet, heiß und kontrovers diskutiert. Die meisten Diskutanten werten dieses System positiv, zweifeln aber daran, ob die eigentliche Zielstellung erreicht werden kann. Allgemein bezweifelt man, dass Volksschöffen, die nicht über juristisches Fachwissen verfügen, wirklich gleichberechtigt und in gleicher Position wie Justizbeamte ihre Funktion ausfüllen können.

Tatsächlich hat in der jüngeren Geschichte Chinas das Schöffensystem bereits zweimal ein Auf und Ab erlebt. In der Verfassung von 1954 war das Schöffensystem als grundlegendes Prinzip vorgesehen. Aber das wurde durch die Verfassung von 1975 aufgehoben. In die Verfassung von 1978 wurde es jedoch wieder aufgenommen. In der Verfassung von 1982 wurde es wiederum eliminiert. Als Grund dafür wurde angegeben, in der Praxis der Rechtsprechung sei das Phänomen zu verzeichnen, dass die Volksschöffen bei Gerichtsverfahren „zwar physisch anwesend sind, aber nicht an der Verhandlung teilnehmen bzw. wenn sie doch teilnehmen, sich zur Beratung nicht äußern“. Allerdings ist das Schöffensystem im Organisationgesetz für Volksgerichte, in der Zivilprozessordnung, in der Strafprozessordnung, und in der Verwaltungsprozessordnung enthalten. Aus diesem Grunde kam das Schöffensystem in einem Teil der Gerichtshöfe weiter zur Anwendung.

Frau Yang Xixin hat nur die Unterstufe der Mittelschule abgeschlossen und war von 1978 bis 1980 als Volksschöffin tätig. Sie ist heute über 60. Sie hat noch immer ihr Notizbuch mit rotem Ledereinband. Auf dem Titelblatt steht „Geschenk für Volkschöffen, vom Volksgericht des Bezirks Xuanwu.“ „Ich habe mich nie als ,Dekoration‘ eines Gerichts betrachtet“, sagt sie. Noch heute erinnert sie sich an ein Verfahren über einen Raubüberfall. Ein Dieb hatte einige hundert Yuan geraubt. Damals lag der Durchschnittslohn eines Chinesen bei weniger als 100 Yuan. Es ging also um eine verhältnismäßig hohe Summe. Nach dem Gesetz hätte der Täter zu fünf Jahre Gefängnis verurteilt werden können. Frau Yang hat damals ihre „eigene Ansicht“ zum Fall geäußert. Sie hatte zuvor erfahren, dass der erst 18-jährige Dieb elternlos war und bei seiner über 80-jährigen kranken Großmutter lebte. Er hatte kein Einkommen und demzufolge nichts zum Leben. Er verübte den Raub, um seine schwerkranke Großmutter medizinisch behandeln zu lassen. Vor Gericht bereute er ehrlich seine Tat. Frau Yang wies darauf hin, dass eine lange Gefängnishaft dazu führe, dass die kranke Großmutter ihren einzigen Versorger verlöre. Aus mütterlicher Fürsorge empfahl sie, die Strafe zu reduzieren, und dem Jugendlichen noch eine Chance für einen Neubeginn im Leben zu geben. Letzten Endes wurde er zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. „Ich bin stolz auf diesen meinen Einspruch und sehe zugleich auch, wie ernst ich genommen wurde.“ Bei dieser Erinnerung geriet Frau Yang beinah ins Schwärmen. Sie begrüßt die Entwicklung des Rechtssystems in China. „Die Gesetze und die dazu gehörenden Bestimmungen sind im Vergleich zur früherer Zeit wesentlich komplizierter geworden. Damals wurden bei den Verhandlungen nur strafgesetzliche Vorschriften angewendet, sie konnten nicht zu Gesetzen gerechnet werden. Auch waren die Vorschriften nicht sehr umfangreich, wir hatten nur ein dünnes Heftchen und kein dickes Gesetzbuch wie heute.“

Gu Yongzhong, ein berühmter Experte der Rechtswissenschaft, stellte fest: „Der Verlauf der Reform und Öffnung nach 1980 und die Tendenz der wirtschaftlichen Globalisierung haben die Annäherung und den Anschluss des chinesischen Rechtssystems an den internationalen Standard vorangetrieben. Beispielsweise wird in der 1996 revidierten Strafprozessordnung das Prinzip der Unschuldsvermutung und das der Unabhängigkeit des Gerichtsverfahrens postuliert. Das entspricht im Wesentlichen dem internationalen Standard.“ Statistiken zeigen, dass in den letzten rund 20 Jahren in China über 370 Gesetze bzw. Entscheidungen über gesetzliche Fragen, über 800 administrative gesetzliche Bestimmungen und über 7 000 lokale gesetzliche Bestimmungen sowie mehrere Tausende von Vorschriften und Regelungen ausgearbeitet wurden. Daraus entstand ein grundlegender gesetzlicher Rahmen, der Strafgesetze, Zivilgesetze und Verwaltungsgesetze umfasst. Robert Lewis, der Generalberater in rechtlichen Angelegenheiten der asiatischen Filialen der kanadischen Gesellschaft für Energienetze, wies darauf hin, dass seit der Reform in China das Rechtsdenken bei Chinesen weite Verbreitung findet. Die chinesischen Volksmassen wissen sehr wohl, wie sie mit Hilfe der Gesetze ihr eigenes Interesse wahren können, falls es zu irgendwelchen Problemen kommt. Nach den vom Obersten Gericht veröffentlichten Statistiken wurden 2003 insgesamt 5,68 Mio. Rechtsfälle von lokalen Gerichten auf verschiedenen Ebenen behandelt; im Jahr 2004 stieg die Zahl auf 7,87 Mio.

Zur gleichen Zeit schenkt man dem Gedanken der Gerechtigkeit in der Rechtsprechung immer mehr Aufmerksamkeit. Seit zwei Jahren finden immer häufiger Rechtsfälle große Beachtung in der Gesellschaft. Die Frage, wie Gerechtigkeit in der Rechtsprechung zu erzielen sei, wird von der Regierung und den Medien immer stärker beachtet. Der Gelehrte unter den Volksmassen, He Jiahong, setzt sich aktiv für die Reform der Rechtsprechung ein und ist der Meinung, die Funktion der Volksschöffen könne nur zur richtigen Entfaltung kommen, wenn ihre Zahl erhöht wird.

Zhang Minghua ist Richter des Beijinger Volksgerichts Nr. 1 auf mittlerer Ebene. Er ist der Vorsitzende der Kammer, bei der Frau Duan tätig ist. Er sagte ganz offen: „Zur Zeit haben die Schöffen nur ein geringes juristisches Wissen und noch wenig Erfahrungen mit Prozessen. Wenn die Zahl der Schöffen steigt, könnte das aus unserer Sicht, also aus Sicht der Richter, einige Probleme mit sich bringen.“ Zhang Minghua erläuterte weiter: „Wenn künftig in einer aus zwei Schöffen und einem Richter bestehenden Kammer die beiden Schöffen den Richter überstimmen, wird deren Meinung über das Strafmaß letztlich angenommen. Wird dann das Urteil von einem höheren Gericht zur Revision zurückverwiesen oder hat es sich gar als fehlerhaft erwiesen, trägt der Richter und nicht die Schöffen die Verantwortung. Die Volksschöffen haben die gleichen Rechte wie wir, tragen aber nicht die gleiche Verantwortung.“

Es bereitet den Juristen Sorge, dass Rechte und Pflichten sich hier offenbar nicht adäquat entwickeln.

Im Unterschied zu den meisten Schöffen, die nur ein geringes juristisches Fachwissen haben, war Ge Yanqing als Professorin der Rechtswissenschaft an der Beijinger Hochschule für Rechts- und Politische Wissenschaft für Verwaltungsbeamte tätig. Sie war bereits sechs Jahre Schöffin beim Beijinger Volksgericht Nr. 2 auf mittlerer Ebene, bevor sie die neue Qualifikationsurkunde erhielt.

Im Mai 1999 hatte sich Frau Ge ohne Zögern als Kandidatin für die Volksschöffenauswahl gemeldet, nachdem sie erfahren hatte, dass ihre Hochschule Lehrkräfte für die Weiterbildung der Volksschöffen qualifizieren würde. Nach einer Überprüfung wurde sie von der Hochschule für den Ständigen Ausschuss des Volkskongresses des Bezirks Chaoyang empfohlen. Nach Genehmigung durch den Ständigen Ausschuss des Volkskongresses des Bezirks wurde sie zunächst Volksschöffin am Gericht des Bezirks Chaoyang und später Volksschöffin am Beijinger Volksgericht Nr. 2 auf mittlerer Ebene.

In den letzten sechs Jahren war sie in mehr als 40 Gerichtsverfahren eingesetzt. Vor den Prozessen nahm sie sich immer viel Zeit zum Aktenstudium und machte sich Notizen über Tatbestände und Beweise, um sich gezielt auf noch offene Fragen vorzubereiten.

Für die Teilnahme an einer Gerichtsverhandlung beim Beijinger Gerichtshof auf mittlerer Ebene erhalten die Schöffen 100 Yuan als Aufwandsentschädigung. Frau Ge bemerkt dazu: „Für einen Rechtsfall muss man bis zur Prozesseröffnung, der gemeinsamen Beratung und der Urteilsverkündung mindestens drei-, viermal zum Gerichtshof gehen, für einen komplizierten Fall vielleicht sogar zehnmal. Die Aufwandsentschädigung ist also kaum ein Beweggrund, um als Schöffe tätig zu werden.“

„Als ich mich entschloss, als Volksschöffin zu wirken, wollte ich zunächst nur mehr Informationen über Rechtsfälle erhalten, die ja auch Objekte meiner Lehre und Forschung sind. Im Laufe der Zeit merkte ich, wie sehr mich diese Tätigkeit interessierte, unabhängig vom fachlichen Aspekt für meinen Lehrberuf. Als wichtigsten Punkt bei der Schöffentätigkeit empfinde ich die große Verantwortung, die jeder mit der Rechtsprechung befasste Bürger auf sich nimmt“.

Weiter führte Frau Ge aus, es sei zweifelsohne wichtig, sich juristisches Fachwissen anzueignen, um ein guter Volksschöffe zu werden; aber eine gewissenhafte und ehrliche Haltung gegenüber den Prozessbeteiligten sei das entscheidende Merkmal, das einen Volksschöffen auszeichne.

Zu Beginn dieses Jahres hatte Frau Ge an einem Gerichtsverfahren teilzunehmen, in dem gegen Guo Wensi wegen Mordes verhandelt wurde. Am 29. August des vorigen Jahres, um drei Uhr morgens, tötete Guo Wensi, Student des Instituts für Industrie- und Handelsverwaltung der Beijinger Polytechnischen Universität seine Freundin, nachdem sich beide über Fragen der Liebe zerstritten hatten.

Am 24. Februar dieses Jahres sah Ge Yanqing im Gericht den Täter zum ersten Mal. „Entgegen meinen Erwartungen sah er recht gut aus. Er schien sehr introvertiert. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, ihn mit einem Mord in Verbindung zu bringen. Als Hochschullehrerin habe ich ja ständig Umgang mit Studenten. Mir ist dieser Fall innerlich sehr nahe gegangen.“

„Bei der gemeinsamen Beratung schlug ich vor, Guo zu lebenslänglicher Haft und nicht zum Tode zu verurteilen. Ich begründete meine Empfehlung damit, dass sich der Täter selbst den Justizbehörden gestellt, während des Gerichtsverfahrens ein volles Geständnis abgelegt und aufrichtige Reue gezeigt hatte. Im Übrigen zahlte Guos Familie aufgrund einer Verständigung mit der Familie des Opfers 450 000 Yuan als Entschädigung.“

Guo Wensi wurde zu lebenslanger Haft verurteilt; er entging der Hinrichtung.

Die Kritik am Schöffensystem wird vor allem durch die Tatsache genährt, dass nach geltenden Bestimmungen Schöffen wie Richter nur Absolventen von Fachhochschulen bzw. Hochschulen sein dürfen. Deswegen fürchtet man eine „Elitenbildung“ bei den Kadern für die Rechtsprechung.

Richter Zhang Minghua vertritt die Ansicht, ausgehend von der gegenwärtigen Situation sei es notwendig, die Anforderungen an das Bildungsniveau der Schöffen klar zu definieren. Bei Gerichtsverfahren sind die Schöffen sowohl für die Feststellung der Tatbestände wie auch für die Anwendung der Gesetze verantwortlich. Daher ist ein bestimmtes fachliches Wissen und eine gewisse Lebenserfahrung unabdingbare Voraussetzung für die Tätigkeit eines Volksschöffen. In vielen Ländern werden Schöffen nur zu Strafprozessen herangezogen. Sie sind aber nicht an Zivil- oder Verwaltungsprozessen beteiligt. In China hingegen sind Schöffen bei allen Prozessen tätig. In Strafprozessen ist es meist relativ einfach, Schuld oder Unschuld festzustellen. Jedoch in Zivil- und Verwaltungsprozessen braucht man fast immer ein höheres Fachwissen, um zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Kurzum, dafür braucht man eine höhere Ausbildung.

Nach Darstellung von Zhu Xijun von der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit des Beijinger Gerichtshofs Nr. 2 auf mittlerer Ebene wirken am Gerichtshof in der gegenwärtigen Legislaturperiode 73 Schöffen, von denen zwei den Doktortitel, 11 den Magistertitel, 52 einen Hochschulabschluss und 8 einen Fachhochschulabschluss besitzen. Hauptberuflich sind vier von ihnen bei Steuernbehörden, in Industrie und Handel tätig, 11 arbeiten in der Rechnungsprüfung, Buchhaltung, Versicherung sowie im Börsengeschäft, drei in der Immobilienbranche, 37 im Kultur-, Bildungs- und Gesundheitswesen sowie im Frauenverband, 6 arbeiten in Unternehmen, 10 sind Professoren und Gelehrte.

Chen Yongsheng, Postdoktor am Institut für Rechtswissenschaft der Peking-Universität, ist da anderer Ansicht. Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten hätten auch unterschiedliche Wertekriterien, meint er. Deshalb könnten sich nur Menschen mit ähnlicher Ausbildung und ähnlicher gesellschaftlicher Position miteinander identifizieren. Eine elitäre Auswahl von Volksschöffen und eine weitgehende fachliche Spezialisierung der Richter könnten dazu führen, eine „Ungerechtigkeit in der Rechtsprechung“ entstehen zu lassen. Cheng führt als Beispiel an: Wenn ein bäuerlicher Wanderarbeiter, weil er arbeitslos ist oder wegen verzögerter Lohnauszahlung kein Geld hat, und darum einen Büroangestellten aus der Stadt bestiehlt, verstößt er damit natürlich gegen die Gesetze. Steht er dann vor Gericht, werden die Schöffen mit Hochschulabschluss, die ja im Vergleich zum Wanderarbeiter ein relativ sorgenfreies Leben führen können, kaum Verständnis für ihn aufbringen. Sie haben keinerlei ländliche Lebenserfahrungen, sie wissen nichts von den schwierigen Familienverhältnissen, die für einen bäuerlichen Wanderarbeiter allein durch das für ihn oft undurchschaubare städtische Leben und Treiben entstehen. Diese Schöffen werden kaum Verständnis für ihn haben und keinerlei Mitgefühl aufkommen lassen. Sehr wahrscheinlich werden sie jedoch wegen ihres „Hasses gegen Verbrecher“ und ihrer Furcht, bei Milde mit dem Beklagten die eigene Sicherheit potenziell zu gefährden, eher für ein zu strenges Strafmaß plädieren. Cheng Yongsheng argumentiert, in den europäischen und amerikanischen Ländern gebe es auch keine Regel, dass Schöffen nur durch einen Hochschulabschluss sich für ihre Tätigkeit am Gericht qualifizieren können. Menschen, die aus verschiedenen sozialen Schichten stammen, eine unterschiedliche Ausbildung und unterschiedliche Wertevorstellungen haben, treffen sich für kurze Zeit, abgeschottet von der Außenwelt, während eines Gerichtsprozesses. Durch Gedankenaustausch kann ein gemeinsamer Nenner gefunden werden, um Einseitigkeiten in der Rechtsprechung zu vermeiden, die ihren Grund in den Unterschieden der sozialen Schichten haben, aus denen die Schöffen und Richter stammen. Dadurch könnte eine elitäre Abschließung des Schöffenwesens vermieden werden.

Dennoch – das Schöffensystem, es entwickelt sich. Ein Soziologe äußerte: „Der Vorteil des Schöffensystems besteht in der relativen Unabhängigkeit dieser ‚Nichtberufsjuristen‘. Ihre Existenzgrundlage hängt nicht von der Gunst der Behörden des Strafjustizsystems ab, in denen die Personalabteilungen das Recht haben, die Richter nach Ermessen einzusetzen und zu befördern. Daher gibt es für die Schöffen keinen Beweggrund, Korrumpierungsversuchen nachzugeben oder den Versuch einer Rechtsbeugung bei einem Gerichtsverfahren zu decken.“ In gewissem Sinne stellt das Schöffensystem eine effektive Möglichkeit dar, das Volk durch die Schöffen direkt an der Durchführung der Gesetze zu beteiligen. Für Schöffin Duan Lian stellt sich die Frage einer zu geringen Qualifikation nicht: „Wenn ich während eines Gerichtsverfahrens mir unbekannte Fachausdrücke höre, notiere ich sie mir und schlage zu Hause nach. Wer immer wieder mit neuen Fragen konfrontiert wird, muss schnell eine effektive Methode finden, um Antworten auf diese Fragen zu bekommen.“ Wen wundert es, dass Frau Duans Lieblingssendung im Fernsehen auch das Thema Recht und Gesetz behandelt.

 
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