09/2005
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Tibet mit Offenheit begegnen

Von Jon Moggio

 
     

Ich bin Graphiker aus San Franzisko. Ich war noch nie in Tibet und habe nur ein paar Bilder davon gesehen. Ich habe einen Freund, der schon einige Male hier war und immer wenn er davon spricht, hat er einen träumerischen, abwesenden und glücklichen Ausdruck im Gesicht. Daraufhin war ich mir sicher, dass mir eine wirklich spezielle Erfahrung bevorstand.

Das Wenige, was ich von der politischen Situation in Tibet vor der Abreise wusste, war, dass sie ein großes Durcheinander zu sein schien: China beansprucht Tibet auf der Basis alter Geschichte und die offizielle Position ist, die tibetische Kultur zu schützen, obwohl die inoffizielle Position zu sein scheint, den tibetischen Lebensstil zu assimilieren und mit der chinesischen Kultur zu verschmelzen, bis er völlig verschwindet. Ich war also sehr neugierig – ich denke in Wirklichkeit beunruhigt – über die langfristige Entwicklung. Wird Tibet weiterhin bestehen oder zu einem künstlichen Produkt werden?

Ich reiste im September letzten Jahres nach Tibet. Der Flughafen, der sich inmitten der großen Hügel versteckt, ist der spektakulärste, den ich je gesehen habe.

Am ersten Tag der Reise fuhr ich nach Xigaze, in die zweitgrößte Stadt in Tibet, und besuchte das Zhaxilhunbo-Kloster, den traditionellen Sitz des Panchen Lama. Es ist riesig, und wir sahen nur einen kleinen Teil davon, doch ich denke, das, was wir sahen, waren die spektakulärsten Teile. Ich hatte keine Ahnung, was sich in einem Raum befand, zu dem wir geführt wurden, bis wir den Vorhang lüfteten und eintraten. Es war dunkel und die Yakbutterkerzen beleuchteten goldene Verzierungen, Bilder und Opfergaben. Dann sah ich nach oben und dieser wunderbare, unglaublich große Buddha war über mir. Es war einfach überwältigend. Er hatte einen großartigen Ausdruck im Gesicht. Er war so gelassen. Allein sein Anblick ließ mich auch gelassen werden. Ich hätte einfach dort sitzen und in seine stillen friedvollen Augen starren können. Das ist bestimmt das schönste von Menschenhand geschaffene Kunstwerk, das ich je gesehen habe. Es ist unglaublich. Wenn das das Einzige gewesen wäre, was wir in Xigaze gesehen hätten, wäre das auch die achtstündige Fahrt hin und zurück wert gewesen.

In Xigaze spielte ich auch Billard, wenn es auch eine ein wenig abgewandelte Version war. Drei Spiele um drei Yuan – weniger als 50 Cents. Das ist billig. Und man spielt nicht auf winzigen Bartischen, wie zu Hause, es waren gute Tische und das Beispiel machte Spaß. Alle waren sehr freundlich, alle wollten mir helfen, für meinen nächsten Stoß den Ball aufzulegen. Es war wie eine gemeinschaftliche Bemühung. Jeder trug etwas bei: „Du solltest diesen Ball stoßen, nein, diesen! Nein, der dort ist besser!“

 
   

Am fünften Tag besuchten wir das Samye-Kloster und am Abend gingen wir aus zum Abendessen und tibetischen Tanz. MTV trifft auf das alte Tibet, das sich mit irgendwelcher Karaoke vermischt. Verrückte Kostüme. Ich weiß nicht genau, wie Cowgirl-Kostüme mit roten Cowboyhüten beim Tanz zu einem Discorhythmus aus den 80er Jahren in der tibetischen Tradition zusammenkommen können, aber was soll’s, so war es. Dann lud uns der Regisseur in einen anderen Raum ein mit den Worten: „Bitte kommt, wir nehmen einen Drink und diskutieren“, was sich als Ganbei (Extrinken)-Fest entpuppte. Immer wieder – „Eins, zwei, drei Ganbei! Eins, zwei, drei Ganbei!“ – und sie ließen uns nicht in Ruhe. Und noch mehr Ganbei. Es wäre in Ordnung gewesen, wenn es nicht Budweiser gewesen wäre. Warum musste es nur Budweiser sein? Und darüber hinaus umringten uns alle Sänger und Vortragenden und sangen für uns. Wunderschöner Gesang, aber völlig surreal. Und jedes Lied musste mit einem Ganbei enden.

Am sechsten Tag fuhren wir zurück nach Lhasa und besuchten zwei tibetische Haushalte. Der erste war der von Kalsang Phuntso in einem Vorort. Ein Raum war vollständig einem buddhistischen Schrein gewidmet, und es sah aus, als hätte der Gastgeber sein eigenes kleines Kloster im Haus. Ein Mao-Poster hing an der Wand. Es war interessant zu beobachten, wie streng gläubig er war und wie er doch die kürzlich stattgefundenen Veränderungen in Tibet anerkannte.

Danach besuchten wir eine städtische Familie. Wir gingen zu einem Apartmentkomplex in der tibetischen Siedlung und trafen einen Mann namens Yixi, der 69 Jahre alt war. Er lud uns in seine Wohnung ein. Sie war um einiges kleiner als das Haus in dem Vorort, und hätte wahrscheinlich in das Hauptwohnzimmer von Kalsang Phuntsos Haus gepasst, aber sie war hübsch und gemütlich. Der Gastgeber hatte auch einen Raum zur Gänze einem buddhistischen Schrein gewidmet mit einem Mao-Bild an der Wand. Er sprach in warmen Tönen von der jetzigen Regierung und darüber, wie sie den Lebensstandard gehoben und Tibet zum Besseren verwandelt habe.

Es war eigentlich eine interessante Erfahrung, die mich zum Nachdenken anregte. Meine erste reflexartige Reaktion war: „Oh, er ist ein Komplize der Regierung“, da es tatsächlich ein von der Regierung arrangierter Besuch war. Deshalb dachte ich: „Er vertritt nur die kommunistische Parteilinie, weil sie ihm das aufgetragen haben.“ Als ich aber mehr darüber nachdachte, desto mehr schien es mir, dass Tibet vor der kommunistischen Übernahme wahrscheinlich ein extrem harscher Ort zum Leben war. Der Lebensstandard ist wahrscheinlich erheblich verbessert worden. Dieser Mann hat eine nette Wohnung, aber nur der Herr weiß, wo er als Kind oder im Alter von 15 bis 20 gelebt hat. Das heißt, je mehr ich lerne, desto verwirrter werde ich über diese ganze Situation, was meiner Meinung nach eigentlich eine gute Sache ist. Denn bevor ich hierher kam, war alles, was ich von Tibet wusste, abhängig von der amerikanischen Medienpolitik und davon, was mir die amerikanischen Medien erzählten. Es war also gut, hierher zu kommen und einen breiteren Blickwinkel zu bekommen. Mag sein, dass nicht alles für mich geklärt ist, aber wenigstens regt die Reise mich zum Denken an, und lässt mich erkennen, dass ich alles, was ich weiß, eigentlich nicht wirklich weiß.

Der größte Wandel in meiner Wahrnehmung nach einer gewissen Zeit hier in Tibet – und ich bin wirklich darüber überrascht – ist, dass ich mir nicht mehr wirklich sicher bin, dass Tibet ein unabhängiger Staat werden muss. Bevor ich hierher kam, schien „Free Tibet“ eine so offensichtliche und vereinfachte Aussage zu sein. Freies Tibet. Wer wollte nicht, dass Tibet frei wird? Aber nachdem ich dort war und mit Tibetern über die ganze Situation gesprochen habe, bin ich mir gar nicht mehr sicher, dass Tibet ein unabhängiger Staat sein muss, und weit davon entfernt, überzeugt zu sein, dass die meisten Tibeter das wollen.

Ich glaube, der wichtigste Rat, den ich Leuten geben kann, die nach Tibet reisen möchten, ist, unvoreingenommen hierher zu kommen und zu versuchen, ihre Vorurteile abzulegen. Ich weiß, dass ich viele hatte, die mir zwangsgefüttert wurden, und ich bin dabei, herauszufinden, dass die amerikanischen Medien und der amerikanische Blickwinkel sehr einseitig sind. Es war anfangs schwer, keine reflexartigen Reaktionen auf alles, was alle sagten, zu haben, aber nach einer Weile schaffte ich es, sie abzulegen. Zwei Wochen sind vergangen und ich beginne, meine vorgefassten Ideen darüber, was Kommunismus ist und was Tibet ist, aufzugeben, und ich höre, beobachte und sehe, was in Wirklichkeit passiert. Ich denke, das ist wichtig für all jene, die hierher kommen wollen.

 
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