09/2005
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Erziehung eines „Wunderkindes“

Von Qiao Tianbi

 
   

Sun You zeigte großes Interesse für das illustrierte Handbuch der Vögel, das ich ihm als Geschenk gegeben habe. Aber er sprach kein Wort mit mir. Als ich sein Zimmer betrat, schrie er seinen Eltern zu: „ Die sollen aus dem Zimmer gehen! Die sollen aus dem Zimmer gehen!“ Sun You, in der Familie auch Youyou genannt, wird im kommenden Monat vier Jahre alt. Das Wort „You“ bedeutet im Chinesischen „ausgezeichnet“. Mit vier Jahren kennt er schon mehr als 4000 chinesische Schriftzeichen. (Im Chinesischen gibt es ungefähr 3000 allgemein verwendete Schriftzeichen). Außerdem beherrscht er noch eine große Menge von englischen Wörtern. Die Medien, die Youyou interviewt haben, bezeichneten ihn als „Wunderkind“ oder als ein Kind mit extrem hoher Intelligenz. International liegt der Anteil der Kinder mit extrem hoher Intelligenz bei 1% bis 3%. Der neuesten Volkszählung zufolge gibt es in China etwa 300 Mio. Kinder unter 14 Jahren. 1% davon macht fast 3 Mio. Kinder mit extrem hoher Intelligenz aus. In Beijing wurden ungefähr 1,88 Mio. Kinder als ständige Bewohner registriert, so dass es mindestens 18 800 Kinder wie Youyou gibt.

Ein Ehepaar, das immer etwas Neues ausprobieren will

Das Zuhause von Youyou befindet sich in der Nähe von Xidan, dem belebtesten Geschäftsviertel Beijings, in einem Wohnviertel mit chinesischen Wohnhöfen. Es ist eine 150 m2 große Maisonette, die geschmackvoll eingerichtet ist. Der Verkaufspreis in diesem Gebiet ist hoch und er beträgt in ihrem Fall 10 000 RMB (etwa 1200 US-Dollar) pro Quadratmeter. Youyou lebt mit seinen Eltern und seinen Großeltern mütterlicherseits zusammen.

Der Vater von Youyou heißt Sun Yue und ist 47 Jahre alt. Er hat vieles erlebt, was China in den vergangenen 50 Jahren erfahren hat. Die ersten Aufnahmeprüfungen an die Hochschulen, den Zustrom zum Auslandsstudium und das Aufblühen des Handels, das alles hat er miterlebt. Zu Ende der Kulturrevolution (1966-1976) war er gerade 18 Jahre alt. Seine schulischen Leistungen waren in allen Fächern sehr gut. Darüber drückt er sein Bedauern aus: „Als einfache Stadtbewohner waren meine Eltern nicht gut gebildet und konnten deshalb keine Hilfestellung für die Karriere ihrer Kinder bieten. Damals war ich noch jung und wusste gar nicht, dass ich an der Hochschulaufnahmeprüfung teilnehmen konnte. Natürlich hatten meine Eltern auch keine Ahnung davon.“ Sun Yue besuchte eine technische Berufsschule für die Verwaltung der Krankenhäuser. Nach dem Abschluss arbeitete er fünf Jahre in einem Krankenhaus. Danach begann er ein Studium an der Beijinger Medizinischen Hochschule und erwarb dort einen akademischen Grad. Als viele Chinesen zum Studium ins Ausland strömten, legten Herr Sun und seine Frau die TOFEL- und GRE-Prüfung ab. Leider wurde ihnen das Visum verweigert. In dieser Situation verließ er das Krankenhaus und übte freie Berufe aus, vor allem betrieb er Handel. Beispielsweise gründete er einmal eine Werbeagentur. Dank seiner Anstrengungen zählte er zu den ersten Menschen in Beijing, die ein Privatauto besaßen.

Youyous Mutter heißt Zhu Lili und ist 45 Jahre alt. Ursprünglich arbeitete sie als Krankenschwester. Später fand sie Arbeit als Kundenservice-Managerin in einem Vier-Sterne-Hotel. Danach arbeitete sie in einer ausländischen Firma. Weil dieses Ehepaar immer gern bereit war, etwas Neues auszuprobieren, wollten sie lange Zeit nach ihrer Heirat kein Kind haben.

1999 hatte Herr Sun den Handel satt. Er reiste in Tibet und lebte dort für ein Jahr. Dazwischen hielt sich seine Frau zwei Monate bei ihm auf. Beide fanden, dass die Tibeter keine materiellen Menschen waren. Diese Einstellung zum Leben rührte sie. Aus diesem Grund konnte sich Herr Sun nach seiner Rückkehr in Beijing lange Zeit nicht einleben. Zum Glück wurde seine Frau im Jahr 2001 schwanger. Dadurch veränderte sich das Leben der beiden.

Mit aller Energie kümmert sich das Ehepaar um das Kind

 
   

Im Alter von über 40 Jahren war Zhu Lili schwanger. Der Sicherheit halber kündigte sie sofort. Als sie im fünften Monat schwanger war, arbeitete ihr Mann auch nicht mehr. Beide bereiteten sich auf die Geburt ihres Kindes gut vor. Herr Sun sagte: „In der heutigen Zeit sorgen sich die meisten Chinesen nicht mehr um die Nahrung und Kleidung. Eltern legen immer größeren Wert auf die Bildung ihres Kindes. Sie verfügen über Zeit und Energie und natürlich auch die Fähigkeit, ihr Kind in den ersten Lebensjahren gut zu erziehen.“ Der Grund dafür liegt einerseits in der Verbesserung der finanziellen Verhältnisse. Andererseits haben die meisten Eltern in der Stadt nach der Einführung der Familienplanung nur ein einziges Kind, so dass sie größere Hoffnungen auf dieses Kind setzen. All das ließ die Zusatzausbildungen für Kinder aufblühen. Die Bücher über die frühe Bildung von Kindern in den ersten Lebensjahren wie zum Beispiel Das Mädchen Liu Yiting an der Harvard-Universität (hrsg. 2000) und Carl Weter’s Education Law (hrsg. 2001) stehen auf der Bestsellerliste. Die Geschichte der Hauptfiguren hat Eltern, die von ihren Kindern eine große Karriere erwarten, sehr begeistert.

Herr Sun sagte: „Vor der Geburt Youyous konzentrierten wir all unsere Energie auf das Lesen der Bücher, vor allem Bücher über die frühe Bildung von Kindern in den ersten Lebensjahren. Durch Erlebnisse wissen wir, dass die Erschließung der Intelligenz von Kindern in den ersten Lebensjahren sehr notwendig ist. Wir wollen unser Bestes geben, um Youyou gut zu erziehen.“ Um dies erzielen zu können, lasen Herr Sun und seine Frau immer wieder die Bücher, die sie für wichtig hielten, und machten zahlreiche Lesenotizen. Einige wichtige Inhalte können sie bis heute noch rezitieren. Außerdem verfertigten sie noch selber Lehrmittel für ihr Kind.

Herr Sun und seine Frau haben Medizin studiert und legen deshalb großen Wert auf wissenschaftliches Vorgehen. Nach der Geburt Youyous fingen sie an, Reize auf seine Sinnesorgane auszuüben. Als seine Sehkraft ausgereift war, ließen sie ihn Karten mit chinesischen Schriftzeichen ohne Abbildungen unterscheiden. Durch ihre Anstrengungen kannte Youyou im Alter von elf Monaten schon 300 chinesische Schriftzeichen und verschiedene Farben und Formen. Herr Sun sagte: „Durch die vier Jahre dauernden Anstrengungen hat Youyou die anderen gleichaltrigen Kinder weit übertroffen. Es ist wohl möglich, dass er das Niveau von Carl Weter erreichen kann. (Carl Weter ist die Hauptfigur des Buches Carl Weter’s Education Law. Anfangs wurde das deutsche Kind als Idiot betrachtet. Später wurde er von seinem Vater zu einem Kind mit extrem hoher Intelligenz erzogen. Jetzt ist er Professor auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft.) Mit seinem jetzigen Gedächtnis und seiner Auffassungsgabe fällt es ihm nicht schwer, einige Sprachen zu beherrschen.“ Bis jetzt besitzt Youyou schon grundlegende Kenntnisse über Astronomie, Geographie, Mathematik, Chemie, Tier- und Pflanzenkunde und Anatomie. Sogar das Wissen über elektrische Haushaltsgeräte ist ihm nicht fremd.

Nach Youyous Geburt arbeitet das Ehepaar nicht mehr und betreut den ganzen Tag das Kind. Herr Sun meinte: „Die Ankunft meines Sohnes gab uns einen berechtigten Grund, ein bescheidenes und praktisches Leben zu führen.“ Trotzdem liegt das Niveau der Lebenshaltung der Familie über dem Durchschnitt. Herr Sun trägt nach wie vor Markenkleidung, auch seine Frau kleidet sich anspruchsvoll.

Herr Sun sagte, dass er sich nicht gelangweilt und müde fühle, Tag für Tag mit seinem Sohn zusammenzubleiben. Aber seine Frau meinte: „Nur er selbst weiß, ob er müde ist oder nicht. Einmal hat er den ganzen Vormittag damit verbracht, das Kind aufzuheben und wieder niederzulegen, damit Youyou den Begriff ‚Zeit und Raum‘ gut verstehen konnte.“ Nach der Ansicht von Herrn Sun sei es eine schwere Prüfung für seine Frau, während einer so langen Zeit zu Hause zu bleiben, weil sie extrovertiert sei. Anfangs war sein Entschluss für seine Bekannten einfach nicht zu begreifen. Beim Zusammentreffen seiner ehemaligen Kommilitonen war er stets das Hauptgesprächsthema. Jetzt wird seine Wahl von vielen akzeptiert. Manche sind sogar der Ansicht, wenn man sich nicht mit aller Energie für die Erziehung des Kindes einsetzen kann, sollte man lieber kein Kind bekommen. Herr Sun verlässt sehr selten sein Haus. Er behält Kontakt mit der Außenwelt durch seine ehemaligen Kommilitonen an der Universität. Das Telefon ist sein wichtigstes Kommunikationsmittel. Aber Youyou mag es überhaupt nicht, dass seine Eltern telefonieren.

Youyous Großmutter interessiert sich überhaupt nicht dafür, welche Fertigkeit ihr Enkel erneut erlangt hat. Jedes Mal teilt sie ihrem Sohn mit: „Sattessen ist für ein Kind am wichtigsten.“ Youyou zeigt kein Interesse für Nahrungsmittel, auch die Naschereien, an denen andere Kinder Gefallen finden, mag er nicht. Außerdem liegt er seinen Eltern wegen Spielzeugs nicht in den Ohren. Zum Glück ist er neugieriger als andere Kinder. Fast alles kann seine Neugierde erregen. In dieser Situation tut das Ehepaar alles Mögliche, um seine Neugierde zu befriedigen. Beispielsweise hat Youyou großes Interesse für die chinesichen Schriftzeichen auf der Arzneiverpackung. Deshalb besorgte Herr Sun viele Arzneiverpackungen mit Hilfe seiner ehemaligen Kolleginnen und Kollegen im Krankenhaus. Dadurch lernt Youyou zahlreiche wenig gebrauchte chinesische Schriftzeichen und informiert sich über viele Krankheiten.

Einige Gelehrte befürchten, dass es ein Risiko gibt, wenn ein Kind zu früh abstrakte Zeichen wie chinesische Schriftzeichen lernt. Im Vergleich zu den anderen Kindern hat sich Youyous Sprechfähigkeit langsamer entwickelt. Im Alter von einem Jahr und zwei Monaten konnte er „Papa“ und noch einen Monat später „Mama“ aussprechen. In der Tat verbessert Herr Sun auch ständig die Erziehungsmethoden für seinen Sohn. Er sagte: „Heute ist unser Ziel nicht mehr, dass Youyou eine bestimmte Menge von chinesischen Schriftzeichen und englischen Wörtern kennen sollte. Wir freuen uns darüber, dass er nach der Lösung der Frage sucht.“ Zur Zeit nimmt Youyou gerne kleine elektrische Haushaltsgeräte auseinander.

Youyou wächst heran

Herr Sun hat vor, seinen Sohn in die Versuchsklasse für die Kinder mit extrem hoher Intelligenz im Taoranting-Kindergarten zu schicken. Aber er zögert mit dem Entschluss. Denn er befürchtet, wenn sein Kind tagsüber nicht mit ihm zusammen wäre, könnte er seine Entwicklung nicht mehr kontrollieren. Durch die vierjährige Erziehung seines Sohnes hat er viele Ideen von dem gegenwärtigen Bildungssystem in China und der Erziehung der Wunderkinder entwickelt. Er plant, sich mit der Erforschung der Erziehung von Wunderkindern zu beschäftigen. Ein Verlag hat ihn gebeten, ein diesbezügliches Buch zu schreiben. „Wenn Youyou den Kindergarten besucht, will ich mich voll auf die Zusammenstellung des Buches konzentrieren.“

1978 gründete das Psychologische Institut an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften eine spezielle Gruppe zur Erforschung der psychologischen Entwicklungsbesonderheiten und -gesetze der Kinder mit extrem hoher Intelligenz. Im gleichen Jahr wurde die erste Jugendklasse an der Chinesischen Universität für Naturwissenschaften und Technik ins Leben gerufen. In den letzten 26 Jahren haben mehr als 1000 Wunderkinder in dieser Jugendklasse studiert. Gleich nach dem Hochschulabschluss setzten 80% von ihnen ihr Studium als Postgraduierte fort. 1/3 von ihnen haben promoviert. Den Statistiken zufolge gibt es auf dem ganzen Land mehr als 70 Versuchsklassen für Wunderkinder an 13 Universitäten, 20 Mittelschulen und einigen Grundschulen, in denen einige Tausende Kinder studieren und lernen. Leider sind einige Probleme bei der Elitebildung für Hochbegabte aufgetaucht, beispielsweise wurde oft von einem Mangel an Fähigkeiten wie Kommunikation, Kreativität und gesellschaftlicher Anpassung der Wunderkinder berichtet. Einige Einrichtungen machen sich die Hoffnungen der Eltern auf eine außergewöhnliche Zukunft ihrer Kinder zu Nutze und verdienen damit viel Geld.

Im Jahr 1985 begann die Mittelschule Nr. 8 der Stadt Beijing, Kinder mit extrem hoher Intelligenz in eine Versuchsklasse aufzunehmen. Laut Plan sollten sich diese Kinder in vier Jahren den Stoff der letzten zwei Stufen der Grundschule sowie den Stoff der Unter- und Oberstufe der Mittelschule aneignen, wofür die normalen Kinder acht Jahre brauchen. Jedes Jahr nimmt die Versuchsklasse nur 30 Kinder auf. Aber dieses Jahr meldeten sich mehr als 1000 Kinder zur Prüfung. Der Zuständige für die Versuchsklasse Zhao Daheng sagt: „Dadurch können Studiengebühren für vier Jahre erspart werden. Außerdem können die Kinder vier Jahre früher Geld verdienen.“ Das ist der Grund, warum die Versuchsklasse eine so große Anziehungskraft auf die Eltern ausübt.

Für den Besuch der Versuchsklasse im Taoranting-Kindergarten muss Youyou zwei Ausscheidungstests bestehen, der eine ist für seine Intelligenz und der andere für sein Verständnisvermögen. Die Konkurrenz ist sicher sehr stark, weil die Teilnehmerzahl dieser Klasse auf 20 Kinder beschränkt wird. Es scheint, dass Herr Sun noch nicht darüber nachgedacht hat, was er machen soll, wenn Youyou nicht von dieser Versuchsklasse aufgenommen wird. Youyous Mutter ist fest in ihrem Entschluss: „In diesem September schicken wir Youyou auf jeden Fall in den Kindergarten.“ Dabei betont sie aber nicht, dass Youyou unbedingt eine Versuchsklasse besuchen muss.

 
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