09/2005
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Kunstvolle Löwengestalten

Von Lou Qingxi

 
   

Ein geflügeltes Wort lautet: „Es ist unmöglich, die Löwenfiguren auf dem Geländer der Marco-Polo-Brücke zu zählen.“ Die Steinlöwen würden, so der Volksmund, dann verschwinden, wenn man sie zählen könnte. In Wirklichkeit gibt es neben den größeren noch viele kleinere Löwenfiguren in der Größe von zwei bis zwölf Zentimetern, die auf und neben den größeren Löwenfiguren sitzen. Die 15 km südwestlich von Beijing gelegene Marco-Polo-Brücke erweckt mit ihren zahllosen Löwengestalten immer wieder das Interesse der Passanten.

Solche Löwenfiguren, aus Stein gehauen oder aus Bronze gegossen, befinden sich in schönen Landschaften bei Kulturdenkmälern, vor allem in Palästen und vor Grabanlagen, an beiden Seiten des Eingangstors der Tempel oder Gärten, wo sie einen majestätischen Anblick bieten. An den Festtagen wird der volkstümliche Löwentanz dargeboten, der eine festliche Stimmung erzeugt. Die dabei auftretenden kunstvollen Löwengestalten gehören mittlerweile zur Kulturtradition des chinesischen Volkes und sind sehr beliebt.

Jedoch ist der Löwe eigentlich in Afrika und Indien beheimatet. Vor 1900 Jahren soll der Sage nach der Kaiser Zhang Di der Östlichen Han-Dynastie Löwen vom König des Staates Anxi (damals in Westasien, im Gebiet des heutigen Iran gelegen) geschenkt bekommen haben. Seit diesem Zeitpunkt wurden Löwen auch in China heimisch.

In den alten Zeiten Chinas waren Tiergestalten sehr oft das Hauptmotiv für Bilder, Schnitzereien oder Kunsthandwerkgegenstände; man wollte damit seine Hoffnungen symbolisieren. Die Herrscher der früheren Dynastien ließen die Dachziegel, die für den Bau ihrer Paläste bestimmt waren, mit Gestalten des blauen Drachen, des weißen Tigers, des roten Finken und der schwarzen Schildkröte verzieren. Sie sind wild, mutig, schön und langlebig und werden deshalb als Symbol der Macht und des Glücks betrachtet. Den wilden und mächtigen Löwen wurde die Bewachung der Paläste und Tempel anvertraut. Sie stehen meistens an beiden Seiten des Eingangstores eines Palastes, Tempels oder der königlichen Residenz, manchmal auch am Eingangstor zum Besitz reicher Familien. Man findet sie auch als Dekoration eines Gebäudes gedacht auf Geländern, Pfeilern oder Sockeln.

Der Stil der Löwenskulpturen ist von Zeit zu Zeit verschieden. Typisch für die Löwenfiguren aus dem 6. Jahrhundert sind die Steinlöwen vor der Grabstätte des Königs Xiao Jing bei Nanjing. Sie besitzen eine Höhe von drei Metern, blicken furchtlos mit erhobenem Haupt, ausgestattet mit vier baumstarken Beinen, ihre Zunge hängt aus dem geöffneten Rachen, der Leib ist mit zwei Flügeln ausgestattet. Sie bieten einen majestätischen und mythischen Anblick. Man nennt sie „Bixie“, was auf Deutsch die „Vertreibung von Übel und dem Bösen“ bedeutet.

Im 7. und 8. Jahrhundert entstanden neben den stehenden die sitzenden Steinlöwen, die wirklichkeitsgetreuer gemeißelt waren. Die zwei Flügel und Hörner sind z. B. verschwunden. Es fehlt dabei auch nicht an Übertreibungen. Die Beine werden bei weitem dicker dargestellt, als sie in der Natur sind, und die Klauen greifen tief in die Erde ein. Mit erhobenem Haupt erwecken die stehenden Löwenfiguren einen Eindruck, als ob sie gehen würden. Die sitzenden Steinlöwen öffnen den Rachen, was die Furcht des Betrachters verstärken soll. Die Steinlöwen, die vor den Tang-Gräbern bei Luoyang stehen, zeichnen sich durch plastische Darstellung der Stärke sowie den Ausdruck sprichwörtlichen Löwenmutes aus. Sie zählen zu den besten Werken der Bildhauerkunst Chinas.

Im 12. Jahrhundert sehen die Steinlöwen realistisch aus, obwohl ihre Beine und der gesamte Körper größer und kräftiger als die des echten Löwen sind. Diese Löwenfiguren haben jedoch eine weniger majestätische Haltung.

Die meisten bis heute erhaltenen Steinlöwen stammen aus der Ming- und Qing-Dynastie. Damals legte man großen Wert auf eine möglichst naturgetreue Darstellung. Die Löwenfiguren sind lebensnah, manchmal bis in das kleinste Detail aus dem Stein gehauen wie z. B. die Mähnen und die Beinmuskeln. Man achtete jedoch nicht in ausreichendem Maße auf die gesamte Formgebung, so dass die Figuren der Typik des lebenden, wilden Löwen nicht voll entsprechen. Bei den Steinlöwen vor Tempeln und in Gärten ist dies auch der Fall. Die Skulpturen bringen zwar nur unvollkommen den Körperbau des echten Löwen zum Ausdruck, zeichnen sich jedoch durch eine überaus lebendige Darstellung aus: manche halten mit zwei Beinen Löwenkinder oder einen damals gebräuchlichen Seidenball. Andere schneiden lustige Fratzen.

Die Löwengestalten, die aus der gleichen Periode stammen, weisen verschiedene Besonderheiten auf. Im Kaiserpalast z. B. sehen die Bronzelöwen vor dem Tianhe-Tor anders aus, als die vor dem Ningshou-Tor. Die ersteren sind groß und dunkelfarbig und hocken auf Steinsockeln, die an beiden Seiten des Tores stehen, wodurch die majestätische Atmosphäre des Kaiserhofes verstärkt wird. Die letzteren aber verzerren ihr Maul, strecken die Tatzen aus und scheinen ihrem Löwenkind keine Zärtlichkeit entgegenzubringen. Sie stellen am ehesten das ungezähmte, wilde Tier dar.

Doch beileibe nicht alle Löwenfiguren sind wild und grausam dargestellt. Für den volkstümlichen Löwentanz benutzt man die Kostüme, die den braven und liebevollen Löwen zeigen. Sie spielen, mit Ketten und Glöckchen um den Hals, mit dem Seidenball. Einmal stürzen sie sich auf den Ball, zum anderen Mal wälzen sie sich auf dem Boden herum. Einige scheinen plötzlich in die Höhe zu springen, während andere sich auf den Bauch legen. Manche sehen aus, als ob sie atemberaubende akrobatische Kunststücke vollführen, andere kratzen sich oder scheinen zu dösen. Die Löwengestalten, die so dargestellt werden, sind tapfer, stark und gutmütig. Solchermaßen charakterisierte Löwenfiguren finden sich auch unter den Steinlöwen Im Beihai-Park z. B. gleichen die Steinlöwen auf den Sockeln an einer Steinbrücke den lustigen Gestalten beim Löwentanz: Sie tragen ein Glöckchen um den Hals und halten einen Seidenball zwischen den Tatzen. 120 Löwenfiguren auf den Balustraden der Siebzehn-Bogen-Brücke sehen ähnlich aus. Bei näherer Betrachtung stellt man jedoch fest, dass sie doch verschieden gestaltet sind. Einige sitzen ordentlich, andere schauen auf den See herab. Die Löwenkinder schmiegen sich schutzsuchend unter die Mutter, oder liegen zu zweit oder zu dritt auf dem Rücken der erwachsenen Tiere. Gerade wegen ihrer vielfältigen Darstellungsmethoden sind die kunstvollen Löwenfiguren so faszinierend.


Aus China im Aufbau, Nr. 2, 1986
 
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