Mai 2005
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Poesie ist die Muttersprache des

menschlichen Geschlechts

 

Von Helga Scherner

 

Wolfgang Kubins Buch Die chinesische Dichtkunst. Von den Anfängen bis zum Ende der Kaiserzeit, ist der erste Teil der auf zehn Bände geplanten Geschichte der chinesischen Literatur. Mit ihm wird erstmals der Versuch unternommen, den historischen Prozess des Werdens der chinesischen Dichtkunst umfassend für den deutschen Leser darzustellen. Angesichts hundertausender überlieferter Lieder und Gedichte aus mehr als drei Jahrtausenden ist das eine sehr anspruchsvolle Unternehmung. Das Buch steht nicht im leeren Raum. Neben vielen Einzelveröffentlichungen in deutscher Sprache sind in den letzten Jahrzehnten zum Beispiel Ernst Schwarz’ Anthologie klassischer chinesischer Lyrik Chrysanthemen im Spiegel, (Berlin: Rütten und Loening 1969) und die Geschichte der chinesischen Literatur von Helwig Schmidt-Glintzer (Bern: Scherz Verlag 1990) erschienen, um zwei relevante Werke zu nennen.

Kubin konzentriert sich auf die „klassische“ Dichtung vom Ende des 2. Jahrhunderts v.u.Z. bis zum Ende der Song-Dynastie im Jahre 1279. Die Aufarbeitung des oft vernachlässigten religiösen Aspekts – Religion, Subjektivität und Melancholie werden als „roter Faden“ der Darstellung bezeichnet – ist zweifellos von Nutzen für die Gesamtdarstellung. Am Anfang steht das Buch der Lieder (Shijing: 10.-6. Jahrhundert v.u.Z.), das Konfuzius zusammengestellt haben soll. Eine Sammlung von kraftvollen, einfachen Liedern und Tänzen aus dem bäuerlichen Lebensbereich, von „Kunstliedern“ und Opfergesängen vom Mittel- und Unterlauf des Gelben Flusses (Huanghe), gedichtet von unbekannten Verfassern – und sicher auch von Verfasserinnen – aus unterschiedlichen Volksschichten (Bauern, Handwerker, Soldaten, Beamte und Diener an Fürstenhöfen). Die Melodien waren längst verklungen, als sie in den konfuzianischen Kanon aufgenommen und von jedem Schüler auswendig gelernt wurden.

Traditionsgemäß gibt es sehr unterschiedliche Interpretationen der Gedichte, die moralisierende der Konfuzianer neben stärker emotionalen Deutungen, die beide vor allem den diesseitigen Charakter der Lieder als gegeben nehmen. Kubin weist auf religiöse Ursprünge, so auf Ahnenopfer und kultische Feste als Hintergrund. In der Verehrung des Wachsenden und Werdenden sieht er den Angelpunkt archaischen Denkens, den er auf eine „religiös motivierte Sehnsucht nach einer Teilhabe“ an diesem Prozess zurückführt. Die noch stark dem mystischen Dunkel schamanistischer Traditionen verhafteten Lieder des Südens entstanden etwa 300 Jahre nach dem Shijing im Königreich Chu am mittleren Changjiang (Yangtse). Sie bezeugen die erste Dichterpersönlichkeit Chinas – Qu Yuan (Ch’ü Yuan, 340 – 278 v.u.Z.), der sich aus Verzweiflung über den politischen Verfall seines Heimatstaats im Fluss Miluo ertränkt haben soll. Kubin charakterisiert das Weltbild, das sich in dieser Dichtung zeigt, als „Verengung des Zugangs zum Himmel“. Möglicherweise sei es dadurch zu erklären, dass die weltlichen Mächte begannen, das Göttliche zur Absicherung der eigenen Herrschaft so sehr zu dominieren, dass der Himmel immer weniger „offen“ stand. In den Jahrhunderten der Herrschaft der Tang-Dynastie (618-907) habe sich – nach Kubin – jene Krise ausgewachsen und sich schließlich in der Zeit der Song (960-1279) mit der „Verweltlichung des chinesischen Geistes“ bereinigt. Unter diesen Dynastien, jenem „Goldenen Zeitalter“ der chinesischen Kultur, erreichte die Dichtkunst ihren Höhenpunkt, die Lyrik überstrahlte alle anderen literarischen Genres.

Am Beispiel des Dichters Bai Juyi (Po Chü’-i, 772-846) spricht Kubin von drei „Seelen“ in der Brust eines jeden Poeten der Tang-Zeit: „das öffentliche Ich des Konfuzianismus, das private des Taoismus und das religiöse des Buddhismus“. Eine „Subjektivität im modernen Sinne“ verbiete sich daher notwendigerweise. Mir scheint, darüber hinausgehend, eine Vereinbarkeit verschiedener Weltsichten ein Charakteristikum chinesischer Geisteshaltung überhaupt zu sein. Was allerdings die herausragenden Poeten der Tang-Zeit betrifft, genannt seien hier nur Li Bai (Li Tai-po, 702-762) und Du Fu (Tu Fu, 712-770), so glaube ich nicht, dass man sie allein auf die drei genannten Weltsichten festlegen kann. Verbunden mit der Sehnsucht nach Einfachheit und Diesseitigkeit, wie sie teils schon im Shijing zum Ausdruck kam, mit der Anteilnahme an den Freuden und Leiden des Volks, dem Schmerz über Krieg und Unterdrückung, überwanden sie die Manieriertheit und Formelhaftigkeit des von der Umgangssprache abgehobenen klassischen Stils und vermochten es, die Schönheit der Natur und die tiefen Gefühle der Menschen in unvergleichlicher Weise festzuhalten. Der Autor teilt seine Vorliebe für die Poesie jener Zeit mit allen Enthusiasten und Freunden der chinesischen Lyrik. Ihm ist wohl zuzustimmen, wenn er die Eigenheit dieser zauberhaften, filigranen Lyrik darin sieht, die Wirklichkeit in ihrem Wesen nur zu streifen, die Sprache zum Medium des Entschwindenden, das Schweigen zur Sprache zu machen.

Kubin gesteht eine „geringe Begabung“ zur Aneignung der „nachklassischen Dichtung“ der Chinesen, zu sehr fühlt er sich dem „Einfluss des Kanons“ verpflichtet. In einem Ausblick versucht er, die Geschichte der chinesischen Lyrik dieser mehr als 700 Jahre nach der Song-Dynastie zu umreißen, die Zeit, als die mongolischen Yuan, die chinesischen Ming und die mandschurischen Qing China beherrschten. Im Reich der Mitte vollzogen sich – später durch den Einfall der Kolonialmächte noch verstärkt – ökonomische, soziale und kulturelle Prozesse, die die Revolution 1911/12 vorbereiteten. Nach Kubins Meinung ist es schwer, für jene Jahrhunderte „das Innovative“ vom Konventionellen zu trennen. Die klassische Dichtkunst jener Zeit, „das Konventionelle“, trägt den Makel des Epigonalen, wird jedoch bis heute in Kreisen der chinesischen Intelligenz gepflegt. Bekannt ist beispielsweise, dass Mao Zedong Gedichte im klassischen Stil schrieb und zugleich die Jugend warnte, ihm darin zu folgen.

Zum „Innovativen“ sagt Kubin kaum etwas. Ist dieser Bereich wirklich so wenig erforscht, wie immer wieder behauptet wird? Wenn die chinesische „nachklassische“ Lyrik auch nicht mehr die Königin aller Künste war, näherte sich die Literatur doch mit der allmählichen Rückkehr zur Sprache des einfachen Volks wieder der „Muttersprache des menschlichen Geschlechts“. Es wäre dabei interessant zu wissen, wie die vielen Dichterinnen in der Ming-Zeit diesen Prozess beeinflusst haben, ob nicht die Bauern, die Handwerker der Städte, die Kaufleute, vielleicht auch aufständische Bauern von 1628-1645 oder später die Taiping-Rebellen (1851-1864) mit ihren Liedern Spuren in der Dichtung hinterlassen haben. Wissenswert wäre auch, wie Poeten, beispielsweise Huang Zunxian (1848-1905), der wollte, seine Hand solle schreiben, wie sein Mund sprach (wo shou xie wo kou), schon vor der „literarischen Revolution“ des 4. Mai 1919 die Sprache der Dichtkunst veränderten.

Das Werk klingt mit einem Gedicht von Zheng Banqiao (1693-1765) aus, in dem klassische Schönheit und Wehmut ausgedrückt ist, jene Melancholie, die Kubin als das dritte Prinzip klassischer chinesischer Dichtkunst betrachtet:

Im kleinen Wandelgang ward heiß der Tee,

des Ofens Rauch entwich.

Ich pflücke Blumen, die noch stehn,

frierend und kümmerlich.

So still nun ist’s am Reisigtor;

die Wasser herbstlich weit-

Den Abendhimmel hat zerstückt

ein Krähenschwarm mit seinem Streit.   (Übersetzung: G. Debon)

Eine Analyse ausländischer Lyrik wird fruchtbar durch die Übersetzungen. Hier hat Deutschland seit der Zeit des „Sturm und Drang“ eine gute Tradition, auf andere Völker zuzugehen und zu versuchen, ihre Poesie und damit sie selbst zu verstehen. So war es mehr als der Reiz der Orientalischen, der Goethe in seinen Bemerkungen zum „West-östlichen Divan“ veranlasste, im Verhältnis von Original und Übersetzung jene „höchste und letzte“ Stufe anzustreben, bei der „eins nicht anstatt des andern, sondern an der Stelle des andern gelten solle“. Seit diesem großen geistigen Aufbruch vor über 200 Jahren haben deutschsprachige Wissenschaftler und Schriftsteller diese Brücke zur orientalischen Kultur beschritten, deren Sprache durch Klang und Eigenart ein enges Festhalten am Original verbietet.

Kubin geht von einer philologisch genauen Analyse einzelner Gedichte aus. Dabei fußt er auf vorhandenen Übertragungen, vor allem vom Günther Debon, die im Original eingesehen und studiert wurden, sowie auf einzelnen eigenen Übersetzungen. Kubins Untersuchungen sind – auch in Bezug auf die Form der Dichtungen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann – sehr aufschlussreich. Hervorzuheben sind die ausführlichen Quellennachweise, die jedem Interessierten spezielle Erkenntnisse zu relevanten Fragen vermitteln können. Insofern ist das Buch eine Enzyklopädie für eingehendere Beschäftigung mit der chinesischen Dichtkunst vor dem 20. Jahrhundert. Allerdings dürften manche der interessanten Interpretationen auch für Fachkundige schwer verständlich sein. Gelegentlich entsteht der Eindruck, Kubin schreibe weniger für das Verständnis des Lesers als zur Selbstverständigung. Der Autor geht auf eine Fülle von Arbeiten der Sekundärliteratur und auf Forschungskontroversen aus verschiedenen Ländern (USA, China, Japan u.a.) ein. Erwähnenswert wäre ein Hinweis auf frühe Interpretationen in deutscher Sprache gewesen, so auf die diffizilen Übertragungen und Untersuchungen der Lieder des Südens durch A. Pfizmaier (Wien 1852) und die Leipziger Schule (Conrady/Erkes/Biallas – Erstes Drittel des 20. Jh.).

Die lange Zeit augenfällige Chinoiserie in Europa, süßliche, letztlich verlogene Verse vom „Pavillon aus grünem und aus weißem Porzellan“, verstellte den Blick auf China. Hingegen sind Nachdichtungen, die dem Original verpflichtet sind, sowie qualifizierte Interpretationen vorzüglich geeignet, Auge und Ohr für die wirklichen Leistungen einer großen Kulturnation zu öffnen. Hier liegt Kubins Verdienst.

Geschichte der chinesischen Literatur, Band 1, Wolfgang Kubin: Die chinesische Dichtkunst. Von den Anfängen bis zum Ende der Kaiserzeit. München: K. G. Sauer 2002, 416 S., ISBN 3-598-24541-6.

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