Ich stelle mich jeweils vor als das Mädchen, das
Berge besteigt. Den ersten von ewigem Eis bedeckten 5000er
bestieg ich vor fünf Jahren, und seither gehe ich regelmäßig
bergsteigen. Die Namen und Gestalten der Gipfel, auf die
ich in diesen Jahren kletterte, sind in meiner Erinnerung
bereits verblichen. Was bleibt, sind Einzelbilder von
Spalten, scharfen Felsgräten und Eiswänden.
Für mich bedeutet der Gipfel eines Bergs nichts anderes,
als dass ich noch wenige Schritte tun muss. Berge unterscheiden
sich nicht voneinander, bis darauf, dass der eine höher,
der andere weniger hoch, der eine schwerer, der andere
leichter zu besteigen ist. Ich bin keine wählerische
Bergsteigerin und bereit, jeden Gipfel zu erklimmen, den
ich noch nicht bezwungen habe.
In China ist der Kreis der Freizeitbergsteiger sehr klein
und beschränkt sich zumeist auf Unternehmer und die
Studentenmannschaften an einigen Universitäten. Nachdem
ich an die Peking-Universität aufgenommen wurde,
trat ich dem „Bergadler-Club“ bei, der ersten akademischen
Bergsteigervereinigung Chinas. Richtig zum Alpinismus
kam ich allerdings erst anlässlich der Feierlichkeiten
zum 100. Gründungstag der Peking-Universität im Frühling
1998, als die „Bergadler“ von der erfolgreichen Besteigung
des Qowowuyag (mit 8201 m der sechsthöchste Berg
der Welt) zurückkehrten. Dieses Ereignis wurde mit einer
besonderen Veranstaltung gefeiert, und die neuen Clubmitglieder,
v. a. die Mädchen, wurden gebeten, die Bergsteiger
mit Blumen am Universitätstor zu empfangen. Ich war
an jenem Tag sehr aufgeregt, denn in meinen Augen war
der „Bergadler“-Club gleichzusetzen mit Würde, Reinheit
und Feierlichkeit.
Zuerst dachten meine Eltern, der Club sei lediglich eine
gewöhnliche Studentenvereinigung, bis sie von früheren
Bergsteigerunfällen hörten. Da waren sie strikt
gegen meine Teilnahme, doch als sie erkannten, mit welchem
Eifer ich trainierte, mich in das Thema einlas und für
das Bergsteigen vorbereitete, gaben sie ihren Widerstand
auf, denn sie hatten mich noch nie derart von einer Tätigkeit
besessen gesehen.
Die Mitgliedschaft im Club ist keine Qualifikation zum
Bergsteigen. Diese erwirbt man sich durch körperliches
Training. Jede Woche veranstaltet der Club zwei Trainings,
die aus Dauerlauf, Kraft-Ausdauer-Übungen, Klettern,
Biwakieren und Klettern mit schwerem Gepäck bestehen.
Wer das Bergsteigen ernst nimmt, trainiert jeden Tag.
Viele Studenten geben auf, weil sie es zu hart finden.
Nach einem Jahr Training wurde ich ins Bergsteigerteam
des Clubs aufgenommen. Mein erster Berg war der wunderschöne,
5588 m hohe Xuebaoding (Gipfel des Schneeschatzes) in
der Provinz Sichuan. Seither bin ich von einer Anfängerin
zu einer erfahrenen Bergsteigerin aufgestiegen und organisiere
in dieser Eigenschaft die Teamtrainings.
Ich genieße es, auf der Flanke eines hohen Bergs
zu sitzen, die Beine baumeln zu lassen und den Blick an
einem sonnigen Tag über den strahlend blauen Himmel schweifen
zu lassen. Ich bin ganz verrückt nach dem Gefühl von Euphorie
und Freiheit, das mir das Bergsteigen gibt.
Einige meiner Teamkolleginnen versuchen, ihre Weiblichkeit
zu verbergen, um von den Männern nicht anders behandelt
zu werden, doch ich habe dies nie getan. An Ruhetagen
im Biwak trage ich gerne ein hübsches Kleid, und ich mag
es auch, mit den Männern des Teams in die Stadt zu
gehen, wenn immer sich die Gelegenheit dazu ergibt. Im
Aufstieg nimmt jeder auf den anderen Rücksicht, und alle
Clubmitglieder stellen Harmonie und Freundschaft an erste
Stelle. Das ist es, was ich beim Bergsteigen am meisten
schätze.
Bergsteigen bestimmt jede Seite meines Lebens. Es ist
mein bester Freund, meine Liebe und die wichtigste Freuden-,
aber auch Sorgenquelle in meinem Leben.
Zang Lan arbeitet beim „Bergadler-Club“ der Peking-Universität,
wo sie Werbeveranstaltungen für Sport und Aktivitäten
im Freien organisiert. Zwischen Juli 1999 und Oktober
2003 bestieg sie den Xuebaoding-Gipfel (5588 m, Juli 1999),
den Samdain Kangsang (6590 m, August 2000), den Qongmu
Gangri (7048 m, August 2001) und den Yuzhu-Gipfel von
Süden her (6178 m, Oktober 2003). Außerdem erklomm
sie die 6700 m-Marke am Xixabangma (7292 m, August 2002)
und die 5100 m-Marke des Gletschers Nr. 3 am Yuzhu-Gipfel
(Oktober 2003).