Mai 2004
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Das Mädchen, das Berge besteigt

Von Zang Lan

Ich stelle mich jeweils vor als das Mädchen, das Berge besteigt. Den ersten von ewigem Eis bedeckten 5000er bestieg ich vor fünf Jahren, und seither gehe ich regelmäßig bergsteigen. Die Namen und Gestalten der Gipfel, auf die ich in diesen Jahren kletterte, sind in meiner Erinnerung bereits verblichen. Was bleibt, sind Einzelbilder von Spalten, scharfen Felsgräten und Eiswänden. Für mich bedeutet der Gipfel eines Bergs nichts anderes, als dass ich noch wenige Schritte tun muss. Berge unterscheiden sich nicht voneinander, bis darauf, dass der eine höher, der andere weniger hoch, der eine schwerer, der andere leichter zu besteigen ist. Ich bin keine wählerische Bergsteigerin und bereit, jeden Gipfel zu erklimmen, den ich noch nicht bezwungen habe.

In China ist der Kreis der Freizeitbergsteiger sehr klein und beschränkt sich zumeist auf Unternehmer und die Studentenmannschaften an einigen Universitäten. Nachdem ich an die Peking-Universität aufgenommen wurde, trat ich dem „Bergadler-Club“ bei, der ersten akademischen Bergsteigervereinigung Chinas. Richtig zum Alpinismus kam ich allerdings erst anlässlich der Feierlichkeiten zum 100. Gründungstag der Peking-Universität im Frühling 1998, als die „Bergadler“ von der erfolgreichen Besteigung des Qowowuyag (mit 8201 m der sechsthöchste Berg der Welt) zurückkehrten. Dieses Ereignis wurde mit einer besonderen Veranstaltung gefeiert, und die neuen Clubmitglieder, v. a. die Mädchen, wurden gebeten, die Bergsteiger mit Blumen am Universitätstor zu empfangen. Ich war an jenem Tag sehr aufgeregt, denn in meinen Augen war der „Bergadler“-Club gleichzusetzen mit Würde, Reinheit und Feierlichkeit.

Zuerst dachten meine Eltern, der Club sei lediglich eine gewöhnliche Studentenvereinigung, bis sie von früheren Bergsteigerunfällen hörten. Da waren sie strikt gegen meine Teilnahme, doch als sie erkannten, mit welchem Eifer ich trainierte, mich in das Thema einlas und für das Bergsteigen vorbereitete, gaben sie ihren Widerstand auf, denn sie hatten mich noch nie derart von einer Tätigkeit besessen gesehen.

Die Mitgliedschaft im Club ist keine Qualifikation zum Bergsteigen. Diese erwirbt man sich durch körperliches Training. Jede Woche veranstaltet der Club zwei Trainings, die aus Dauerlauf, Kraft-Ausdauer-Übungen, Klettern, Biwakieren und Klettern mit schwerem Gepäck bestehen. Wer das Bergsteigen ernst nimmt, trainiert jeden Tag. Viele Studenten geben auf, weil sie es zu hart finden.

Nach einem Jahr Training wurde ich ins Bergsteigerteam des Clubs aufgenommen. Mein erster Berg war der wunderschöne, 5588 m hohe Xuebaoding (Gipfel des Schneeschatzes) in der Provinz Sichuan. Seither bin ich von einer Anfängerin zu einer erfahrenen Bergsteigerin aufgestiegen und organisiere in dieser Eigenschaft die Teamtrainings.

Ich genieße es, auf der Flanke eines hohen Bergs zu sitzen, die Beine baumeln zu lassen und den Blick an einem sonnigen Tag über den strahlend blauen Himmel schweifen zu lassen. Ich bin ganz verrückt nach dem Gefühl von Euphorie und Freiheit, das mir das Bergsteigen gibt.

Einige meiner Teamkolleginnen versuchen, ihre Weiblichkeit zu verbergen, um von den Männern nicht anders behandelt zu werden, doch ich habe dies nie getan. An Ruhetagen im Biwak trage ich gerne ein hübsches Kleid, und ich mag es auch, mit den Männern des Teams in die Stadt zu gehen, wenn immer sich die Gelegenheit dazu ergibt. Im Aufstieg nimmt jeder auf den anderen Rücksicht, und alle Clubmitglieder stellen Harmonie und Freundschaft an erste Stelle. Das ist es, was ich beim Bergsteigen am meisten schätze.

Bergsteigen bestimmt jede Seite meines Lebens. Es ist mein bester Freund, meine Liebe und die wichtigste Freuden-, aber auch Sorgenquelle in meinem Leben.

Zang Lan arbeitet beim „Bergadler-Club“ der Peking-Universität, wo sie Werbeveranstaltungen für Sport und Aktivitäten im Freien organisiert. Zwischen Juli 1999 und Oktober 2003 bestieg sie den Xuebaoding-Gipfel (5588 m, Juli 1999), den Samdain Kangsang (6590 m, August 2000), den Qongmu Gangri (7048 m, August 2001) und den Yuzhu-Gipfel von Süden her (6178 m, Oktober 2003). Außerdem erklomm sie die 6700 m-Marke am Xixabangma (7292 m, August 2002) und die 5100 m-Marke des Gletschers Nr. 3 am Yuzhu-Gipfel (Oktober 2003).

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