Mai 2004
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„Lasst uns zusammen leben!“ -neuartige Wohngemeinschaften in der Gegenwart

Von Lu Rucai

„Mann, Hochschulabgänger, redlich, mit einer klimatisierten, komplett ausgestatteten Wohnung im Bezirk Chaoyang, sucht reinliche, offene, gebildete Frau als Mitmieterin.“ Ein unkundiger Leser würde diese Zeilen sicherlich für eine verschleierte Hochzeitsanzeige halten. Das sind sie aber nicht. In den Augen der so genannten neuen Generation ist dies nichts anderes als eine ganz gewöhnliche Anzeige für eine Mitmieterin-aufgegeben von einem Mann, wohlgemerkt. 

Heute sind derartige Annoncen für „Mitmieter“ bzw. „Mitmieterinnen“ überall zu sehen und unter den jungen Menschen in den Großstädten schon zu einem beliebten Gesprächsthema geworden. Aus einer vom Shanghaier Dienstleistungszentrum für Wohnviertel durchgeführten Umfrage unter 4000 jüngeren Büroangestellten geht hervor, dass 95% der Befragten eine Wohngemeinschaft befürworten. 85% würden sogar einen andersgeschlechtlichen Mitbewohner akzeptieren, sofern sie ihn bzw. sie selbst auswählen könnten. Für sie gilt die Parole: „Lasst uns zusammen wohnen!“

In der gemischtgeschlechtlichen Wohngemeinschaft gilt: jeder nach seinen Bedürfnissen

Noch vor wenigen Jahren trieb der Ausdruck „Zusammenleben“ den Leuten die Schamesröte ins Gesicht, denn er war untrennbar mit Sex verbunden. „Zusammenleben“ war damals ein Euphemismus für Geschlechtsverkehr vor der Eheschließung. Heutzutage jedoch verwenden Wohnpartner das Wort ganz normal. „Das Wort Zusammenleben bedeutet nichts anderes, als dass man eine Wohnung teilt, weiter nichts“, sagen sie.

Frau Chen arbeitet bei einem Fernsehsender und mietete ihre heutige Wohnung gleich nach dem Hochschulabschluss im Juli des vorigen Jahres. Ihr Mitmieter ist Immobilienhändler. Sie kannten sich vor dem Einzug in die Wohnung nicht. „Es war nicht sehr leicht, eine Wohnung wie diese zu finden. Die anderen waren entweder zu weit weg, oder die Mitmieter bestanden darauf, die Wohnung nur mit jemandem des gleichen Geschlechts zu teilen. Aber letzten Endes habe ich doch einen Mitmieter gefunden. Mit ihm bin ich zufrieden.“ Über ihre Erfahrung vom Zusammenleben sagt sie: „Da mein Charakter ziemlich grob ist und ich im Leben nicht sehr auf Details achte, behandle ich manche kleinere Dinge im Umgang mit Kolleginnen nicht sorgfältig. Aus diesem Grund wollte ich nach dem Hochschulabschluss die Wohnung nicht mit einer Studienkollegin teilen und habe Herrn Bai als Mitmieter ausgewählt. Viele Leute, einschließlich der von mir abgelehnten Studienkollegin, hatten dafür kein Verständnis. Ich bin es leid, mich rechtfertigen zu müssen. Hauptsache, ich fühle mich wohl.“ Herr Bai, der Mitmieter von Frau Chen, findet nichts Schlechtes an dieser Wohnform. Den ganzen Tag sitzt er männlichen Kollegen gegenüber, und so findet er Freude daran, sich nach Büroschluss mit einer Frau unterhalten zu können.

Es gibt viele andere junge Menschen, die sich wie Frau Chen dafür entscheiden, mit einem andersgeschlechtlichen Wohnpartner zusammen zu leben. Sie haben alle ähnliche Gründe dafür. Viele Frauen sind der Ansicht, dass es mit einer Mitmieterin schnell wegen Kleinigkeiten zum Streit käme. Bei männlichen Wohnpartnern ist es anders. Zudem können sie bei schwerer körperlicher Arbeit helfen, wie z. B. die Gasflasche tragen. Die Männer ihrerseits finden, dass eine Mitmieterin von Natur aus die Wohnung besser sauber hält und das Leben interessanter gestaltet. Hier gilt das alte Sprichwort: Ein Mann und eine Frau machen einander das Leben leichter.

Einzug nur nach persönlichem Gespräch

Nachdem die ersten gemischtgeschlechtlichen Wohngemeinschaften in den Großstädten bekannt wurden, entstand eine Kontroverse darüber. Der wichtigste Punkt ist das Thema Sicherheit. Eine ältere Frau schüttelt dazu voller Unverständnis den Kopf: So zu wohnen sei doch nichts anderes als „den Wolf ins Haus hereinzubitten“! Frau Cai, die gegen diese Wohnform nichts einzuwenden hat, hält dem entgegen: „Obwohl ich meinen Wohnpartner oft nicht kenne, lasse ich nicht irgendeinen Mann von der Straße mein Mitmieter sein. Wer einen andersgeschlechtlichen Mitbewohner sucht, trifft natürlich eine Auswahl. Und die Kriterien dazu sind von Person zu Person sehr unterschiedlich.“ Frau Cai erzählt, dass sie zum zweiten Mal die Wohnung mit einem Mann teilt. Ihr erster Wohnpartner war ein Kollege, sie kannten sich, und so gab es in dieser Hinsicht keine Probleme. Aber diesmal ist es anders. Ihren gegenwärtigen Mitbewohner kannte sie nicht, deshalb war sie sehr vorsichtig. „Ich habe mich erst vor einigen Tagen für einen der Interessenten entschieden. Vorher habe ich mit fünf Kandidaten persönliche Gespräche geführt. Ich habe auf ihr Verhalten geachtet, und wir haben gegenseitig unsere Ausweise geprüft. Gegebenenfalls habe ich an ihrem Arbeitsplatz nachgefragt.“

Damit nicht genug. Die Annoncen enthalten grundlegende Anforderungen an die Interessenten. Beispielsweise fordern Männer, dass ihre Mitmieterinnen ruhig, ungezwungen und sauberkeitsliebend sein sollen. Und Frauen verlangen von potentiellen Mitbewohnern normalerweise eine gute Bildung. Beide Seiten wollen in der Regel, dass der Mitbewohner bzw. die Mitbewohnerin über einen Hochschulabschluss verfügt. Viele Wohnpartner meinen, dass eine höhere akademische Bildung zugleich auch bessere Umgangsformen bedeutet.

Außerdem müssen sich beide Seiten in den neuartigen Wohngemeinschaften an bestimmte Spielregeln halten. Normalerweise halten sie sich streng an das Prinzip, Miete und Nebenkosten hälftig zu teilen. Wohnraum, Küche und WC gehören zum Gemeinschaftsbereich, das Schlafzimmer zum Privatbereich. Ohne Erlaubnis darf es der andere nicht betreten. Die meisten, die in dieser neuartigen Wohnform leben, sind der Ansicht, ihr Privatleben habe mit dem ihres Mitmieters bzw. ihrer Mitmieterin nichts zu tun.

Großstädte: Nährboden für die neuartigen Wohngemeinschaften

Dass zwei oder mehr Leute gemeinsam eine Wohnung mieten, ist in den dicht besiedelten Städten ganz selbstverständlich. Einerseits vermindert sich dadurch die Miete für den einzelnen, andererseits verhindert dies, dass sie ein Leben in Einsamkeit fristen. Aus einer Untersuchung geht hervor, dass vor allem ledige Menschen zwischen 22 und 30 in gemischtgeschlechtlichen Wohngemeinschaften leben. Die meisten sind Hochschulabsolventen, die nicht überdurchschnittlich verdienen. Für sie ist es praktisch, die Miete von 1000 oder 2000 Yuan durch zwei oder mehr Leute zu teilen. Außerdem haben sie erst gerade die Hochschule verlassen und waren an das gemeinschaftliche Leben in der Hochschule gewöhnt, in dem sie ihre Mitstudenten als Geschwister betrachteten. Ihnen fällt es schwer, wegen einer plötzlichen Änderung allein leben zu müssen. Deshalb wählen diese Leute die Wohngemeinschaft. Weil sie sich nach dem Hochschulstudium nach dem Wohngefühl des Studentenheims sehnten, hat Li Wei so in einer großen Wohnung mit guten Freunden aus der Studienzeit eine große „Familie“ gegründet. Nur sind ihre Mitbewohner heute möglicherweise nicht Brüder, sondern Schwestern.

Diese moderne Wohnform ist bisher jedoch nur in den Großstädten Beijing, Shanghai und Guangzhou vorzufinden. Frau Xu arbeitet bei einer Werbefirma und wurde für ein halbes Jahr nach Jinan, Provinz Shandong, geschickt. Sie bedauerte sehr, dass ihr ein Herr in der Nähe ihrer Firma ein leer stehendes Zimmer seiner Wohnung nicht vermieten wollte. „Selbst für eine hohe Miete wäre er dazu nicht bereit gewesen. Er hatte die Befürchtung, unter den Nachbarn könnte es Gerede geben.“ Viele Leute, die in Wohngemeinschaften leben, sagen denn auch, dass man nur in den größten Städten seine Wohnform nach Belieben wählen kann. In Xus Heimat und in kleinen Städten wagt man gar nicht erst, an moderne Wohnformen zu denken. Und die meisten Eltern der jungen Menschen, die in einer gemischtgeschlechtlichen Wohngemeinschaft leben, wissen nichts davon. „Ich fürchte, dass sie das nicht akzeptieren würden“, sagt Xu. „Für sie gilt noch immer der tief verwurzelte Gedanke, dass Mann und Frau im Umgang Distanz halten sollen. Meine Mutter würde aus Wut in Ohnmacht fallen!“ Frau Li war zu ihren Eltern offen, bereut es heute aber sehr. „Wenn ich gewusst hätte, wie sie reagieren, hätte ich es ihnen nicht gesagt. Jetzt quasseln sie mir den ganzen Tag den Kopf voll und lassen mir keine Ruhe. Heute muss ich ihnen notgedrungen vorschwindeln, dass ich die Wohnung nicht mehr mit einem Mitmieter teile.“

Obwohl viele Rechtsexperten darauf hinweisen, dass Wohnformen wie die gemischtgeschlechtliche Wohngemeinschaft keinen Gesetzesverstoß darstellt, ist sie gesellschaftlich sehr umstritten. Eine Untersuchung der Zeitung Beijing Youth Daily ergab, dass 44% der Befragten diese Wohnform befürworten, 24,5% ihr neutral gegenüberstehen und 31,5% sie ablehnen. Aber 37,8% der Befragten, die sie nicht ablehnen, änderten sofort ihre Meinung, wenn man sie fragte, ob sie ihre Familienangehörigen in einer gemischtgeschlechtlichen Wohngemeinschaft wohnen lassen würden. Das ist vielleicht auch der Grund, warum viele Wohnpartner in Wohngemeinschaften dies ihrer Familie nicht sagen.

Eine gemischtgeschlechtliche Wohngemeinschaft ist kein Grund zur Panik

Obwohl die gemischtgeschlechtliche Wohngemeinschaft anfänglich als neues Symbol einer modernen Lebensweise galt, tendieren heute immer mehr junge Leute aus rationellen Überlegungen dazu. Mittlerweile gibt es im Internet viele Anzeigen für diese Wohnform: „beide Geschlechter willkommen“, „Männer und Frauen können sich bewerben“, liest man da. Die Formulierungen sind praktischer Natur. Liu Yong, der in der Nähe des Zhongguancun-Viertels wohnt und sich gerade auf eine Aspirantenprüfungen vorbereitet, sagt: „Es ist mir egal, ob mein Mitbewohner ein Mann oder eine Frau ist. Hauptsache, die Wohnung liegt in der Nähe der Universität, an der ich studieren  werde. Ich wäre auch mit einer Mitbewohnerin einverstanden. Das Wichtigste ist, dass wir in unseren Vorstellungen übereinstimmen und uns nicht gegenseitig stören. Eigentlich wäre sie nichts weiter als eine Nachbarin. Ich finde die Definition in den Medien, nach der eine gemischtgeschlechtliche Wohngemeinschaft ein ‚Zusammenwohnen ohne Sexualhandlung‘ sei, nicht zutreffend. Das ist eigentlich zweierlei, die Wohnform hat überhaupt nichts zu tun mit den Gefühlen, schon gar nicht mit Sex.“

Anfänglich waren der Mitbewohner bzw. die Mitbewohnerin in einer Wohngemeinschaft der eigene Freund bzw. die eigene Freundin, da wohnte man friedlich zusammen. Wenn aber der Mitmieter bzw. die Mitmieterin Fremde sind, gibt es laute Gegenstimmen. In der Tat ist es den Wohnungssuchenden gleichgültig, ob der Wohnpartner gleichen Geschlechts ist oder nicht. Ihr Anliegen ist es, eine Wohnung in möglichst günstiger Lage zu suchen und jemanden zu finden, der die Miete teilt. Alles andere steht an zweiter Stelle. Vielleicht lässt sich der Sachverhalt mit dem Streit um gemeinsame Schwimmbäder für Männer und Frauen in den 30er Jahren vergleichen, und die gemischtgeschlechtliche Wohngemeinschaft wird in mehreren Jahren so selbstverständlich sein wie die gemeinsamen Schwimmbäder heute.

Unten sind einige Pro- und Kontra-Argumente aus dem Internet zum Thema der neuartigen Wohngemeinschaften von Mann und Frau zusammengestellt:

Pro:

1.  Die gemischtgeschlechtliche Wohngemeinschaft ist günstig für ein harmonisches Zusammenleben.

2.  Ein Mann und eine Frau können sich gegenseitig mit den jeweiligen Stärken und Schwächen ergänzen und sich gegenseitig unterstützen.

3.  Gewöhnlich hat man Freunde des gleichen Geschlechts, aber durch eine gemischtgeschlechtliche Wohngemeinschaft hat man Gelegenheiten, Menschen des anderen Geschlechts kennen zu lernen.

4.  Wenn aus dem Zusammenleben Liebe entsteht, dann bietet die Wohngemeinschaft die beste Chance, sie zu entwickeln.

5.  Die Mitglieder einer Wohngemeinschaft kennen die Stärken und Schwächen des anderen gut. Wenn Wohnpartner heiraten, dann ist ihre Ehe bestimmt solide.

Kontra:

1.  Eine gemischtgeschlechtliche Wohngemeinschaft führt leicht zu Geschwätz.

2.  Wenn der Mann in einer Wohngemeinschaft böse Absichten hegt, dann kann die Frau leicht zu Schaden kommen. In diesem Fall kann die Frau keinerlei Mitleid erwarten.

3.  In einer Wohngemeinschaft muss sich die Frau ordentlich kleiden, sonst könnte es peinlich werden.

4.  Der eigene Freund bzw. die Freundin könnte leicht Eifersucht empfinden, und es könnte zu Missverständnissen kommen.

5.  Die Mitglieder einer Wohngemeinschaft werden von den Familienplanungsbehörden als „wichtiges Beobachtungsobjekt“ betrachtet.

6.  Ein zu langes Zusammenleben führt leicht zu einem Fehltritt, der später bereut wird.

7.  Die Eltern sind damit gewöhnlich nicht einverstanden. Wenn sie es erfahren, werden sie wütend.

 

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