Das
Hängende Kloster in der Provinz Shanxi ist in ganz
China berühmt. Ich hatte von ihm schon gehört, als
ich noch ein Kind war. Lange Zeit dachte ich, dass ein mitten
in eine Felswand gebautes Kloster nur eine Legende oder
funkelnde Phantasie sein könnte. Eine Fotografie überzeugte
mich schließlich von seiner tatsächlichen Existenz.
Doch war es zugänglich? – Letzten Mai habe ich es schließlich
mit eigenen Augen gesehen.
Ich
fand das Kloster fünf Kilometer außerhalb der Kreisstadt
Hunyuan im nördlichen Shanxi. Völlig gebannt blickte
ich auf das im 6. Jahrhundert während der Nördlichen
Wei-Dynastie erbaute Wunder.
Das
Kloster, das dem Hengshan, einem der fünf „Heiligen Berge“
Chinas, gegenüberliegt, wirkt wie ein in den Fels gemaltes
Wandbild. Als ich näher kam, gegann ich, die kühnen
Umrisse deutlicher auszumachen. Doch erst als ich nahe am
Eingang war, bekam ich einen wirklichen Eindruck von dieser
atemberaubenden Struktur. Kein Wunder, dass es in der Volksüberlieferung
heißt, der ganze Bau hänge nur an drei Pferdehaaren!
Das
kleine Kloster, bestehend aus 40 winzigen Hallen und Pavillons,
wurde entlang den Konturen der Steilwand gebaut, wobei man
sich natürlicher Aushöhlungen und Vorsprünge zur Abstützung
bediente. Die Gebäude, scheinbar in der Luft hängend,
ruhen auf Holzträgern, die aus dem Felsen herausragen.
Ihr Gewicht wird außerdem von darunter liegenden Balken
abgefangen, die Schiffrumpfförmig geformt sind. Gänge,
Brücken und Gehsteige verbinden die Bauten miteinander.
Obwohl
verschieden und verstreut, bilden die Gebäude eine
harmonisch ausbalancierte und einheitliche Gruppe. Sichtbar
flossen Kühnheit und Wagemut in die Konstruktion mit ein.
Aufgrund
des begrenzten Raumes diente der Fels meist als hintere
Wand der Hallen und wurde weiter ausgehöhlt, um Buddha-
und Götterstatuen aufzunehmen. Gewundene Treppen machen
die Anlage nicht nur kompakter, sondern auch interessanter
-und verwirrender, wie Besucher, die sich ohne Führer zurechtzufinden
suchen, schnell feststellen müssen.
Das
Kloster beherbergt 80 Bronze-, Eisen-, Ton- und Steinstatuen.
Die tangzeitlichen Tonskulpturen zählen zu den besten
aus dieser Epoche erhaltenen. Ein riesiges, wunderschön
ausgeführtes Relief, den Tathagata-Buddha darstellend, ist
oberhalb des Klosters aus dem Felsen gemeißelt.
Die
schlechten Straßen in alten Zeiten machte die Erbauung
von Tempeln und Klöstern in abgelegenen Berggegenden
schon schwierig genug. Dort dann noch mitten in eine Felswand
hineinzubauen, grenzt an die Unfassbarkeit eines Wunders.
Als der erste Vorschlag dazu gemacht wurde, soll kaum jemand
seine Verwirklichung für möglich gehalten haben. Ein
Baumeister namens Zhang willigte schließlich ein,
die Aufgabe zu übernehmen. Zunächst wurden die einzelnen
Teile am Fuß des Felsen vorgefertigt, dann transportierte
man sie auf den Gipfel und ließ sie von da herunter.
Die Bauarbeiteer hingen an Seilen, mit je einer Schleife
um die Hüfte und um die Füße. Langsam wurde das beispiellose
Bauwerk vollendet.
Obwohl
es über die Jahrhunderte Wind und Regen ja sogar Erdbeben
ausgesetzt war, hängt das Kloster noch immer in der
Felswand, ein Monument des Friedens und der Anmut.
Aus
„China im Aufbau“, Nr. 12, 198