Im April 1996
behandelte ich als Gynäkologin meine erste AIDS-Patientin.
Im Sterbebett streckte sie ihre ausgemergelte Hand nach
mir aus und flehte: „Frau Doktor Gao, mir wurde nur einmal
Blut abgenommen, wieso bin ich unheilbar? Ich will nicht
sterben! Ich habe noch meinen Mann und meine Kinder zu
pflegen...“ Ihre Worte stachen wie ein Messer tief in
mein Herz.
Der Tod der Aidskranken führt direkt zum Problem der
Waisenkinder. Meistens sind sie im schulpflichtigen Alter
und haben keine Einnahmequelle. An Schulbildung ist daher
nicht zu denken. Die Zahl dieser Waisenkinder ist enorm.
Wenn sie jedoch keine Schulbildung bekommen, werden sie
Analphabeten bleiben. Analphabetentum zieht rechtliche
Unwissenheit nach sich. Dadurch könnte die gesellschaftliche
Stabilität gefährdet werden.
Oft wird gefragt, was denn die dringendste Aufgabe im
Kampf gegen Aids ist. Meiner Meinung nach liegt siein
Betreuung der Waisenkindern. Die Lösung ihres Problems
steht im Vordergrund. Sonst könnte es zu einer Katastrophe
für unsere Nation anwachsen.
Aids-Waisenkindern fehlt es nicht nur an Geld
Noch vor zwei Jahren glaubte ich, dass die Waisenkinder
nach dem Tod ihrer an Aids erkrankten Eltern von ihren
Verwandten versorgt würden. Sie bräuchten nur finanzielle
Unterstützung. Also ließ ich ihnen von Mitte 1999
bis Mitte 2002 auf verschiedenen Wegen insgesamt über
80 000 Yuan zukommen.
Unerwartet war für mich, dass der überwiegende Teil
meines Geldes überhaupt nicht in die Hände der Waisenkinder
gelangte. 2001 schickte ich den Geschwistern Gao Li und
Gao Yan 1100 Yuan, doch ihr Onkel verspielte das Geld.
Die zwei Kinder hatten drei Monate lang kein Geld, um
Salz zu kaufen. Ihr Onkel nahm ihnen sogar die von der
Regierung zugeteilten Waren wie Mehl und Kohle sowie die
Lampen und den Wattstundenzähler in ihrem Haus weg!
Feng Tuanwei schickte ich 600 Yuan Schulgebühren für drei
Semester. Dann fand ich heraus, dass das Kind an keinem
einzigen Tag die Schule besucht hatte. Stattdessen schaufelte
er Sand auf einer Sandbank und verdiente damit Geld. Das
von mir geschickte Geld hatte sein Onkel in Besitz genommen.
Schlimmer ist noch, dass viele Vormünder die Waisenkinder
zum Geldverdienen zwingen oder sie zum Betteln anspornen.
Viele 13- und 14-jährige Jungen wurden gezwungen,
auf Baustellen schwere Arbeit zu verrichten. Manche wurden
darüber hinaus noch geschlagen. Mädchen wurden älteren
Junggesellen als Frau verkauft. Es gibt Leute, die unter
dem Vorwand der Arbeitsvermittlung immer wieder Mädchen
aus den Aids-Gebieten entführen.
Daraus ist zu schließen, dass finanzielle Unterstützung
allein den Waisenkindern nicht sehr viel hilft. Was ihnen
fehlt, ist nicht nur Geld. Wichtiger sind gesellschaftliche
Fürsorge, familiäre Wärme und Bildung.
Individuelle Betreuung als Ausweg
aus dem Waisenproblem
Weil Aids in Verbindung mit Sex und Tod steht, ist diese
Krankheit nicht nur ein medizinisches Problem. Seit den
80er Jahren befasst man sich mit ihr vom Standpunkt der
Soziologie, Ethik und Medizin. Viele Leute haben eine
Todesangst vor Aids, selbst wenn sie nur darüber reden.
Deshalb diskriminieren und demütigen sie die Aids-Patienten
und ihre Verwandten und stehen ihnen feindselig gegenüber.
In Wahrheit aber wurden die meisten Aids-Patienten in
Zentralchina nicht aufgrund eines „Fehlverhaltens“, sondern
durch den Verkauf ihres Blutes angesteckt. Ihre Kinder
sind gesund und unschuldig. Ich habe 160 Waisenkinder
unterstützt, deren Eltern an Aids gestorben sind. Keines
der Kinder wurde mit Aids infiziert. Das zeigt, dass Aids
nicht so ansteckend ist, wie man es sich vorstellt.
Viele Leute schlagen vor, dass die Regierung Waisenhäuser
für diese Kinder errichten sollte. Ich bin damit nicht
einverstanden. Zum einen ist unser Land nicht sehr wohlhabend.
Es wird schwer sein für die Regierung, alle Kinder zu
unterstützen. Viele Kinder haben in ihrem harten Leben
schlechte Gewohnheiten entwickelt. Manche Kinder sind
der Gesellschaft gegenüber sogar feindlich eingestellt.
Wenn sie zusammen lebten, könnten sich ungesunde
Gedanken ausbreiten.
Einmal besuchte mich ein Landsmann aus der Provinz Shandong.
Er zeigte sich bereit, einen Jungen namens Gao Chuang
zu adoptieren. Im Juni 2002 änderte Gao Chuang seinen
Namen auf Chen Xiangge und wurde ein Schüler im Kreis
Chaoxian der Provinz Shandong. Danach wurden sechs Aids-Waisen
von gewöhnlichen Familien aus der Provinz Shandong
adoptiert. Sie führen seither ein normales Familienleben.
Daher denke ich, dass die individuelle Pflege der Waisenkinder
die beste Lösung für sie ist. In normalen Familien
begegnen die Waisenkinder normalen Spielkameraden und
Schulkollegen. Im Lauf der Zeit werden sie ihre Qualen
allmählich vergessen und sich aufs Lernen konzentrieren.
Gleichzeitig stelle ich drei Forderungen an Adoptivfamilien:
1. Die Familienmitglieder müssen gutherzig und zuverlässig
sein. 2. Die wirtschaftliche Lage der Familien muss passabel
sein. 3. Die Kinder müssen mindestens bis zum Schulabschluss
finanziert werden können.
Es sind noch viele Schwierigkeiten zu überwinden
Mit der individuellen Pflege kommen auch Probleme. Viele
Gerüchte wirken sich negativ auf die Adoptionsarbeit aus.
Mir wurde vorgeworfen, dass ich die Kinder an Menschenhändler
verkaufen und damit Geld verdienen würde. Diese falsche
Behauptung übte nicht nur auf die Adoptivfamilien starken
Druck aus, sondern auch auf die Regierung. Daher gibt
es für die individuelle Adoption noch viele Hürden zu
überwinden.
Viele an Aids erkrankte Eltern schrieben mir und baten
mich, ihre Kinder zu betreuen. Aber diese Kinder wollten
aus Angst vor der Verachtung anderer Kinder nicht zugeben,
dass ihre Eltern Aids-Patienten waren. Das erschwert unsere
Unterstützungsarbeit. Vor kurzem empfing mich Vizeministerpräsidentin
Wu Yi. Dabei fragte sie mich, worin das größte
Problem in der Unterstützung der Aids-Waisenkinder liege.
Ich antwortete, es sei der Kampf gegen Lügen. Nur wenn
alle die Wahrheit sagen, könne das Problem gelöst
werden.
Ich kann nicht alle Waisenkinder unterstützen, aber
ich werde mit allen Kräften möglichst vielen
Kindern helfen.
Gao Yaojie, 77, ist emeritierte Professorin an der Hochschule
für Chinesische Medizin der Provinz Henan und Gynäkologin
mit Spezialgebiet Onkologie. Sie wird als „Pionierin der
Aids-Vorbeugung“ in China bezeichnet. Von 1996 an begann
sie auf eigene Kosten mit der Aids-Vorbeugung, -Behandlung
und -Hilfsarbeit. In den letzten sieben Jahren besuchte
sie mehr als 1000 Aids-Patienten in über 100 Dörfern
der Provinz Henan. Sie gab im Eigenverlag ein Buch mit
dem Titel „Vorbeugung und Behandlung von Aids und anderer
Geschlechtskrankheiten“ heraus, von dem 300 000 Exemplare
gratis ausgeteilt wurden. Außerdem verfasste sie
die Broschüre „Vorbeugungsmaßnahmen gegen Aids“,
die bereits in der 16. Ausgabe erschienen ist und deren
Druck sie aus eigenen Mitteln bezahlte. Ihre Gesamtauflage
erreichte bis jetzt 610 000. Seit 2001 konzentriert
sie sich auf Hilfeleistungen an Aids-Waisenkindern und
hat mittlerweile 164 Aids-Waisenkinder finanziell unterstützt.
2001 wurde sie für ihre Verdienste um die Verbesserung
der öffentlichen Gesundheit und die Vorbeugung gegen
Aids vom internationalen Gesundheitsrat mit dem Jonathan-Mann-Preis
für Weltgesundheit und Menschenrechte ausgezeichnet. 2002
wurde sie von „Business Weekly“ zum „Stern Asiens“ und
von „Time“ zu einem der 25 Helden in Asien gewählt.
Sie rangierte auf Platz 9. 2003
erhielt sie den „Ramon Magsaysay Award for Public Service“.
Der Generalsekretär der UNO, Kofi Annan, sagte,
er schätze sie als chinesische Aktivistin, die sich
der Vorbeugung gegen Aids in ländlichen Gebieten
verschrieben hat.