Mai 2004
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Ein Ausweg für

die Aids-Waisenkinder

Von Gao Yaojie

Im April 1996 behandelte ich als Gynäkologin meine erste AIDS-Patientin. Im Sterbebett streckte sie ihre ausgemergelte Hand nach mir aus und flehte: „Frau Doktor Gao, mir wurde nur einmal Blut abgenommen, wieso bin ich unheilbar? Ich will nicht sterben! Ich habe noch meinen Mann und meine Kinder zu pflegen...“ Ihre Worte stachen wie ein Messer tief in mein Herz.

Der Tod der Aidskranken führt direkt zum Problem der Waisenkinder. Meistens sind sie im schulpflichtigen Alter und haben keine Einnahmequelle. An Schulbildung ist daher nicht zu denken. Die Zahl dieser Waisenkinder ist enorm. Wenn sie jedoch keine Schulbildung bekommen, werden sie Analphabeten bleiben. Analphabetentum zieht rechtliche Unwissenheit nach sich. Dadurch könnte die gesellschaftliche Stabilität gefährdet werden.

Oft wird gefragt, was denn die dringendste Aufgabe im Kampf gegen Aids ist. Meiner Meinung nach liegt siein Betreuung der Waisenkindern. Die Lösung ihres Problems steht im Vordergrund. Sonst könnte es zu einer Katastrophe für unsere Nation anwachsen.

Aids-Waisenkindern fehlt es nicht nur an Geld

Noch vor zwei Jahren glaubte ich, dass die Waisenkinder nach dem Tod ihrer an Aids erkrankten Eltern von ihren Verwandten versorgt würden. Sie bräuchten nur finanzielle Unterstützung. Also ließ ich ihnen von Mitte 1999 bis Mitte 2002 auf verschiedenen Wegen insgesamt über 80 000 Yuan zukommen.

Unerwartet war für mich, dass der überwiegende Teil meines Geldes überhaupt nicht in die Hände der Waisenkinder gelangte. 2001 schickte ich den Geschwistern Gao Li und Gao Yan 1100 Yuan, doch ihr Onkel verspielte das Geld. Die zwei Kinder hatten drei Monate lang kein Geld, um Salz zu kaufen. Ihr Onkel nahm ihnen sogar die von der Regierung zugeteilten Waren wie Mehl und Kohle sowie die Lampen und den Wattstundenzähler in ihrem Haus weg! Feng Tuanwei schickte ich 600 Yuan Schulgebühren für drei Semester. Dann fand ich heraus, dass das Kind an keinem einzigen Tag die Schule besucht hatte. Stattdessen schaufelte er Sand auf einer Sandbank und verdiente damit Geld. Das von mir geschickte Geld hatte sein Onkel in Besitz genommen.

Schlimmer ist noch, dass viele Vormünder die Waisenkinder zum Geldverdienen zwingen oder sie zum Betteln anspornen. Viele 13- und 14-jährige Jungen wurden gezwungen, auf Baustellen schwere Arbeit zu verrichten. Manche wurden darüber hinaus noch geschlagen. Mädchen wurden älteren Junggesellen als Frau verkauft. Es gibt Leute, die unter dem Vorwand der Arbeitsvermittlung immer wieder Mädchen aus den Aids-Gebieten entführen.

Daraus ist zu schließen, dass finanzielle Unterstützung allein den Waisenkindern nicht sehr viel hilft. Was ihnen fehlt, ist nicht nur Geld. Wichtiger sind gesellschaftliche Fürsorge, familiäre Wärme und Bildung.

Individuelle Betreuung als Ausweg aus dem Waisenproblem

Weil Aids in Verbindung mit Sex und Tod steht, ist diese Krankheit nicht nur ein medizinisches Problem. Seit den 80er Jahren befasst man sich mit ihr vom Standpunkt der Soziologie, Ethik und Medizin. Viele Leute haben eine Todesangst vor Aids, selbst wenn sie nur darüber reden. Deshalb diskriminieren und demütigen sie die Aids-Patienten und ihre Verwandten und stehen ihnen feindselig gegenüber. In Wahrheit aber wurden die meisten Aids-Patienten in Zentralchina nicht aufgrund eines „Fehlverhaltens“, sondern durch den Verkauf ihres Blutes angesteckt. Ihre Kinder sind gesund und unschuldig. Ich habe 160 Waisenkinder unterstützt, deren Eltern an Aids gestorben sind. Keines der Kinder wurde mit Aids infiziert. Das zeigt, dass Aids nicht so ansteckend ist, wie man es sich vorstellt.

Viele Leute schlagen vor, dass die Regierung Waisenhäuser für diese Kinder errichten sollte. Ich bin damit nicht einverstanden. Zum einen ist unser Land nicht sehr wohlhabend. Es wird schwer sein für die Regierung, alle Kinder zu unterstützen. Viele Kinder haben in ihrem harten Leben schlechte Gewohnheiten entwickelt. Manche Kinder sind der Gesellschaft gegenüber sogar feindlich eingestellt. Wenn sie zusammen lebten, könnten sich ungesunde Gedanken ausbreiten.

Einmal besuchte mich ein Landsmann aus der Provinz Shandong. Er zeigte sich bereit, einen Jungen namens Gao Chuang zu adoptieren. Im Juni 2002 änderte Gao Chuang seinen Namen auf Chen Xiangge und wurde ein Schüler im Kreis Chaoxian der Provinz Shandong. Danach wurden sechs Aids-Waisen von gewöhnlichen Familien aus der Provinz Shandong adoptiert. Sie führen seither ein normales Familienleben.

Daher denke ich, dass die individuelle Pflege der Waisenkinder die beste Lösung für sie ist. In normalen Familien begegnen die Waisenkinder normalen Spielkameraden und Schulkollegen. Im Lauf der Zeit werden sie ihre Qualen allmählich vergessen und sich aufs Lernen konzentrieren. Gleichzeitig stelle ich drei Forderungen an Adoptivfamilien: 1. Die Familienmitglieder müssen gutherzig und zuverlässig sein. 2. Die wirtschaftliche Lage der Familien muss passabel sein. 3. Die Kinder müssen mindestens bis zum Schulabschluss finanziert werden können.

Es sind noch viele Schwierigkeiten zu überwinden

Mit der individuellen Pflege kommen auch Probleme. Viele Gerüchte wirken sich negativ auf die Adoptionsarbeit aus. Mir wurde vorgeworfen, dass ich die Kinder an Menschenhändler verkaufen und damit Geld verdienen würde. Diese falsche Behauptung übte nicht nur auf die Adoptivfamilien starken Druck aus, sondern auch auf die Regierung. Daher gibt es für die individuelle Adoption noch viele Hürden zu überwinden.

Viele an Aids erkrankte Eltern schrieben mir und baten mich, ihre Kinder zu betreuen. Aber diese Kinder wollten aus Angst vor der Verachtung anderer Kinder nicht zugeben, dass ihre Eltern Aids-Patienten waren. Das erschwert unsere Unterstützungsarbeit. Vor kurzem empfing mich Vizeministerpräsidentin Wu Yi. Dabei fragte sie mich, worin das größte Problem in der Unterstützung der Aids-Waisenkinder liege. Ich antwortete, es sei der Kampf gegen Lügen. Nur wenn alle die Wahrheit sagen, könne das Problem gelöst werden.

Ich kann nicht alle Waisenkinder unterstützen, aber ich werde mit allen Kräften möglichst vielen Kindern helfen.

Gao Yaojie, 77, ist emeritierte Professorin an der Hochschule für Chinesische Medizin der Provinz Henan und Gynäkologin mit Spezialgebiet Onkologie. Sie wird als „Pionierin der Aids-Vorbeugung“ in China bezeichnet. Von 1996 an begann sie auf eigene Kosten mit der Aids-Vorbeugung, -Behandlung und -Hilfsarbeit. In den letzten sieben Jahren besuchte sie mehr als 1000 Aids-Patienten in über 100 Dörfern der Provinz Henan. Sie gab im Eigenverlag ein Buch mit dem Titel „Vorbeugung und Behandlung von Aids und anderer Geschlechtskrankheiten“ heraus, von dem 300 000 Exemplare gratis ausgeteilt wurden. Außerdem verfasste sie die Broschüre „Vorbeugungsmaßnahmen gegen Aids“, die bereits in der 16. Ausgabe erschienen ist und deren Druck sie aus eigenen Mitteln bezahlte. Ihre Gesamtauflage erreichte bis jetzt 610 000. Seit 2001 konzentriert sie sich auf Hilfeleistungen an Aids-Waisenkindern und hat mittlerweile 164 Aids-Waisenkinder finanziell unterstützt. 2001 wurde sie für ihre Verdienste um die Verbesserung der öffentlichen Gesundheit und die Vorbeugung gegen Aids vom internationalen Gesundheitsrat mit dem Jonathan-Mann-Preis für Weltgesundheit und Menschenrechte ausgezeichnet. 2002 wurde sie von „Business Weekly“ zum „Stern Asiens“ und von „Time“ zu einem der 25 Helden in Asien gewählt. Sie rangierte auf Platz 9. 2003 erhielt sie den „Ramon Magsaysay Award for Public Service“. Der Generalsekretär der UNO, Kofi Annan, sagte, er schätze sie als chinesische Aktivistin, die sich der Vorbeugung gegen Aids in ländlichen Gebieten verschrieben hat.

 

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